MESOP EMPFEHLUNG – AYAAN HIRSI ALI – Islam & Europa Wie kann der Westen westlich bleiben?

Wenn Mitgefühl nicht in Abschottung umschlagen soll, muss die europäische Politik rasch umdenken. Sechs Forderungen zur Integration muslimischer Einwanderer in Europa: Ein Gastbeitrag. (FAZ 18. April 2016)

Freiheit oder Sicherheit? Nach zwei Terroranschlägen in Paris, die 2015 von insgesamt elf Männern verübt wurden, befindet sich Frankreich nun schon seit fünf Monaten im Ausnahmezustand. Konkret bedeutet das, dass die Freizügigkeit ebenso eingeschränkt werden kann wie die Versammlungsfreiheit sowie die Presse- und Meinungsfreiheit, dass Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss durchgeführt werden können und vieles mehr. Ganz offensichtlich haben sich die Franzosen für mehr Sicherheit und weniger Freiheit entschieden.Die Terrorangriffe von Brüssel könnten die Belgier und vielleicht auch andere europäische Staaten dazu bringen, das empfindliche Verhältnis von Freiheit und Sicherheit zu überdenken. Wie immer sie sich entscheiden: Es wird auch künftig Anschläge geben, und jedesmal werden die Grundrechte weiter eingeschränkt werden, ohne dass dadurch ein Gefühl größerer Sicherheit entstünde.

Aber Moment mal, sind es nicht gerade diese Rechte, die, anders als in den meisten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, in Europa eine so einzigartige Bedeutung genießen? Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung (der vom französischen Präsidenten per Dekret verhängte Ausnahmezustand muss vom Parlament gebilligt werden), eine unabhängige Justiz und Bildungseinrichtungen, in denen die Bedeutung dieser Errungenschaften vermittelt wird – waren das nicht die Dinge, die mich am Westen so besonders beeindruckten, als ich hier als Einwanderin ankam?

Sie kommen aus unfreien Gesellschaften

Europa läuft Gefahr, in schlechte alte Gewohnheiten zurückzufallen: innere Unruhen, Notstandsgesetze, ganz zu schweigen von populistischen Parteien, die den Rechtsstaat und die Freiheit des Einzelnen verachten. Es ist ein chronisches Problem. Denn es geht ja nicht nur um den islamistischen Terrorismus. Aufgrund der schleichenden „Islamisierung“ können Mädchen und Frauen sich in vielen Stadtvierteln nicht mehr frei bewegen, sondern müssen mit sexuellen Übergriffen und Schlimmerem rechnen. Das ist nicht nur das Resultat von Einwanderung. In Schulen, Seminaren und Moscheen wird jungen Leuten mit Migrationshintergrund eine Verachtung all der Freiheitsrechte eingeimpft, die als Grundwerte des Kontinents gelten.

Die muslimischen Einwanderer unterscheiden sich nach Alter, Herkunftsland, Geschlecht, Sprache und den finanziellen Verhältnissen, in denen sie vor ihrem Aufbruch nach Europa lebten. Einige sind seit Generationen hier, rund eine Million sind im vergangenen Jahr eingetroffen. Trotzdem haben sie vieles gemeinsam: Sie alle kommen aus unfreien Gesellschaften, in denen ihre Identität, ihre Bindungen und ihre Ansichten geprägt wurden. Ihre Einstellungen zu Religion, Gewalt, Sex, Geld und Zeit unterscheiden sich radikal von denen der Europäer. Daten aus den letzten fünf Jahrzehnten machen deutlich, dass die europäischen Länder ziemliche Mühe mit der Integration dieser Einwanderer hatten.

Von einem generellen Scheitern kann aber nicht die Rede sein. Viele muslimische Einwanderer (zu denen auch ich gehörte) haben sich mit der Zeit integriert und die Grundwerte Europas angenommen. Sie haben ihre neue Freiheit genutzt, um zu studieren, ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen, Arbeit zu finden, ein Geschäft zu gründen, sich politisch zu engagieren, an Wahlen teilzunehmen und in vielerlei Hinsicht voranzukommen.

Integrationswilligkeit ist nicht die Norm

Allerdings sind diese Integrationswilligen nicht unbedingt die Norm. Sie haben ein eher schwieriges Verhältnis zu anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft, die jeder Anpassung an westliche Normen mit beträchtlichem Misstrauen begegnen. Da sind diejenigen, überwiegend junge Männer, die zu Hause und in der Öffentlichkeit zu Gewalt neigen. Manche haben Gewalt am eigenen Leib erlebt und sind nun selbst gewalttätig. Andere brechen die Schule ab, werden kriminell und machen erste Erfahrungen mit dem Gefängnis.

Dann gibt es die religiösen Fanatiker, die in Europa einen mittelalterlichen Islam propagieren. Und schließlich gibt es die Desinteressierten, mehr oder weniger ungebildete Männer und Frauen, die dankbar von Sozialhilfe leben und ihren ausländischen Verwandten vorschlagen, ebenfalls nach Europa zu kommen und dieses Angebot wahrzunehmen. Sie sehen keinen Grund zu arbeiten, weil die ihnen offenstehenden Jobs, simple, monotone Tätigkeiten, kaum mehr einbringen als die Sozialleistungen, die sie beanspruchen können.

Wenn die europäischen Eliten ehrlich sind, werden sie einräumen, dass nicht wenige muslimische Einwanderer, die vor dem Arabischen Frühling nach Europa kamen, in eine dieser drei Kategorien fallen: die Gewaltbereiten, die Fanatiker und die Desinteressierten. Integrationswillige gibt es auch, aber sie sind, wie gesagt, nicht die Norm. 2008 wurde am Berliner Wissenschaftszentrum eine repräsentative Studie zur Integrationsbereitschaft muslimischer Einwanderer in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Schweden durchgeführt. Ergebnis: 60 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass Muslime sich auf den ursprünglichen Islam besinnen sollten. 75 Prozent erklärten, es gebe nur eine mögliche Koran-Interpretation, die für alle Muslime verbindlich sei, und 65 Prozent hielten die Vorschriften ihrer Religion für wichtiger als die Gesetze des Landes, in dem sie leben. Und 44 Prozent der befragten Muslime bekannten sich zu fundamentalistischen Ansichten. Diese Zahlen verheißen nichts Gutes für den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften in den nächsten Jahrzehnten.

Mitgefühl ist nobel, aber was ist mit den Opfern der Fanatiker?

Die drei genannten Kategorien sind natürlich nicht strikt voneinander zu trennen. Kinder von Desinteressierten können sich integrieren, Gewaltbereite kommen manchmal zur Vernunft, und Fanatiker wenden sich manchmal desillusioniert von ihren religiösen Utopien ab. Es funktioniert auch in der anderen Richtung: Gewaltbereite werden Fanatiker, oft aufgrund von Kontakten mit Islamisten im Gefängnis, wie das bei einigen der Attentäter von Paris und Brüssel der Fall war. Und die Kinder von Desinteressierten können zum Schrecken ihrer Eltern zu Fanatikern werden.Dass der massenhafte Zustrom muslimischer Einwanderer, die nach dem arabischen Frühling aus dem Nahen Osten und Nordafrika geflohen sind, und all jener, die zu Hunderttausenden aus Südasien und Schwarzafrika kommen, die Integrationsprobleme verschärft, wäre untertrieben.

Was also ist zu tun? Die politischen Eliten in Europa mit Angela Merkel an der Spitze schwanken zwischen grenzenlosem Mitgefühl und verzweifelten Verhandlungen mit der türkischen Regierung, um sich des Flüchtlingsstroms zu erwehren. Mitgefühl ist nobel, aber was ist mit all jenen, die von den Fanatikern in Paris und Brüssel so grausam ermordet wurden? Oder denjenigen, die von den Gewaltbereiten in dieser oder jener Form terrorisiert werden? Was ist mit den Frauen und Mädchen, die begrapscht, beleidigt, bestohlen und vergewaltigt werden? Oder denen, die fragen, warum sie zur Arbeit gehen und Steuern bezahlen, während kerngesunde Einwanderer Geld fürs Nichtstun bekommen? Kurzum, was ist mit all den Europäern, die sich in ihrer Wohnung, auf der Straße, in den Geschäften, Schulen und Verkehrsmitteln nicht mehr sicher fühlen?

Pflicht zum raschen Umdenken

Wenn die europäischen Eliten diese Fragen einfach ignorieren, kann man sich leicht ausrechnen, wer davon profitiert: der Front National in Frankreich, die Freiheitspartei in den Niederlanden, die AfD und all die anderen Parteien, die eine massive Beschränkung der Einwanderung fordern. Die gleiche Polarisierung ist in Amerika zu beobachten: auf der einen Seite Präsident Obama, der „Islamophobie“ offenbar für problematischer hält als den islamistischen Terror, auf der anderen Seite Donald Trump mit seiner rüden Forderung, Muslime überhaupt nicht mehr ins Land zu lassen.

Wenn wir nicht wollen, dass Mitgefühl in den Ruf nach Abschottung umschlägt, müssen unsere Politiker umdenken, und zwar rasch. Wir müssen dringend alle Verträge, Gesetze und politischen Maßnahmen überprüfen, die bedauerlicherweise nicht imstande sind, die für unsere westlichen Gesellschaften so zentralen Grundrechte und Werte zu schützen.

Erstens müssen wir Einwanderung begrenzen und klüger handhaben. Vor allem müssen wir wegkommen von der künstlichen Einteilung in Asylbewerber, Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten. Angesichts der massenhaften Zuwanderung ist dieser ohnehin untaugliche Ansatz praktisch sinnlos. Besser wäre es, die Leute hinsichtlich ihrer Integrationsbereitschaft auszuwählen. Während des Kalten Kriegs wurden Personen, die Mitglieder in verbotenen Organisationen wie etwa einer Kommunistischen Partei waren, in Amerika nicht ins Land gelassen (das gilt noch immer). Meines Erachtens müssen wir heute ähnliche Überprüfungsverfahren einführen, damit Mitglieder islamistischer Organisationen wie etwa Muslimbrüder nicht nach Europa gelangen.

Viel zu nachsichtig mit Straftätern

Zweitens müssen Rahmenbedingungen für eine beschleunigte Integration geschaffen werden. Es reicht nicht, dass Einwanderer die Landessprache erlernen und einen Arbeitsplatz haben. Jeder Einwanderer muss bereit sein, die Werte des Aufnahmelandes anzunehmen. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Einwanderer mit diesen Werten vertraut gemacht und von Personen unterrichtet werden, die genau wissen, was auf dem Spiel steht. Gleichzeitig müssen wir gegen Zentren islamistischer Indoktrination und gegen all jene muslimischen Geistlichen vorgehen, deren Ziel es ist, verunsicherte Einwanderer gegen ihre neue Heimat aufzuhetzen.

Drittens müssen wirksame Verfahren zur Abschiebung all jener entwickelt werden, die weder willens noch imstande sind, sich zu integrieren. Gegenwärtig konzentriert sich die Debatte auf Grenzkontrollen, die zwar notwendig, aber nicht ausreichend sind.

Viertens muss die Strafverfolgung in den europäischen Ländern verbessert werden. Mit Straftätern wird viel zu nachsichtig umgegangen. Einer der Terroristen von Brüssel war zuvor wegen bewaffneten Raubüberfalls und Ermordung eines Polizisten zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden, von denen er nur vier absaß. Hinzu kommt, dass die Gefängnisse zunehmend als Rekrutierungszentren für Fundamentalisten dienen. Es sollten also Maßnahmen ergriffen werden, um zu verhindern, dass Islamisten andere Häftlinge indoktrinieren können.

Es braucht mehr als „soft power“

Fünftens sollten Aufenthaltserlaubnisse und Einbürgerungen an schärfere Bedingungen geknüpft werden. Allzu viele Fanatiker sind in den Genuss der Staatsangehörigkeit gekommen. Die wahre Bedeutung dieses Rechts wird auf diese Weise mit Füßen getreten. Personen, die Vereinigungen, Grundsätzen und Ideologien nahestehen, die sich gegen eine freie Gesellschaft richten, haben den Anspruch auf Staatsbürgerschaft verwirkt. Nur diejenigen sollten die Staatsangehörigkeit erhalten, die über Jahre hinweg bewiesen haben, dass sie die Werte der Gesellschaft akzeptieren, in die sie aufgenommen werden wollen. Wer sich als Anhänger des „Islamischen Staats“ bezeichnet, sollte überall in Europa die Staatsangehörigkeit verlieren.

Sechstens: Die Europäer sollten nicht so tun, als wäre die Stabilität der muslimischen Welt das Problem anderer Leute. Es braucht mehr als nur „soft power“, damit in den Ländern, aus denen so viele Flüchtlinge zu uns kommen, wieder Ordnung einkehrt. Eine wenig durchdachte Intervention in Libyen und ein verspätetes Eingreifen in Syrien hatten katastrophale Folgen, ebenso der Rückzug aus dem Irak. Angesichts der eskalierenden Gewalt am südlichen und östlichen Rand des Mittelmeers sind die Verteidigungsausgaben der Europäer viel zu niedrig. Und schließlich sollten wir begreifen, dass wir im Krieg sind. Es ist zwar ein asymmetrischer Krieg; aber wir können die Ereignisse von Paris und Brüssel nicht mehr als einzelne Terrorakte abtun.

Es ist ein Kampf, den ausgebildete Spezialeinheiten des IS führen, um die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Solange der IS in den von ihm kontrollierten Gebieten derartige Kämpfer ausbilden kann, ist kein Europäer sicher. Es wird weitere Anschläge geben. Dass wir nicht noch mehr Anschläge erlebt haben, ist einzig den Sicherheitsdiensten zu verdanken, vor allem dem britischen MI5.

Freiheit oder Sicherheit? Die richtige Antwort ist nicht: entweder das eine oder das andere. Freiheitliche Gesellschaften werden immer bemüht sein, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden Werten zu finden. Jeder Angriff auf unsere freiheitlichen Gesellschaften muss Auswirkungen auf dieses Verhältnis haben. Wenn unsere Politiker das nicht anerkennen und keine neuen Verfahren für den Umgang mit muslimischen Einwanderern auf den Weg bringen, laufen sie Gefahr, nicht nur die Initiative den Populisten zu überlassen, sondern auch aus dem Amt gejagt zu werden. www.mesop.de