MESOP NEWS : Kurdische Universität Dohuk – Aufbruch im Schatten des Krieges

Im kurdischen Teil des Iraks liegt nicht alles in Trümmern. An der erstaunlich modernen Universität von Dohuk plant man mit deutscher Hilfe den Wiederaufbau. – 10.02.2016, von EINHARD SCHMIDT-KALLERT – FAZ

Kahle Berghänge umgeben Dohuk, die drittgrößte Stadt der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Iraks. Die Stadt ist in den letzten Jahrzehnten schnell gewachsen, überall an den Rändern fressen sich Neubaugebiete in die terrassierten Gärten der angrenzenden Berge. Dazwischen Moscheen, zwei Kirchen, Shopping Malls und am Westrand der Stadt, weiträumig über vier Hügel verteilt, die Instituts- und Seminargebäude der 1992 eröffneten Universität Dohuk. Wie eine Akropolis erhebt sich, von der Morgensonne angestrahlt, auf dem höchsten Punkt die Medizinische Fakultät. Das ist kein Campus der kurzen Wege, eher das steingewordene Versprechen der kurdischen Regionalregierung an die nächste Generation: Wir sorgen für eure bestmögliche Ausbildung in einem Land, das sich gerade von Krieg und Bürgerkrieg erholt und doch wieder bedroht ist durch die Milizen des „Islamischen Staats“. Siebzehn Fakultäten hat die Universität, von der Medizin über Ingenieurwissenschaften und Geisteswissenschaften bis hin zu Architektur und Raumplanung. 1400 Dozenten unterrichten 17 500 Studenten, die Hälfte davon Frauen, wie der Universitätspräsident stolz erläutert. Gelehrt wird überwiegend auf Kurdisch, in Einzelfällen auf Arabisch und in technischen und naturwissenschaftlichen Fächern auch auf Englisch.

Eine gut ausgestattete, aufstrebende Universität, die sichtbar vom langen Wirtschaftsboom Kurdistans mit jährlichen Wachstumsraten von durchschnittlich acht Prozent profitiert hat. Studenten mit ihren Smartphones in den Gängen und in den Mensaschlangen, viele Studentinnen mit einem anmutig aufs Haar gesteckten Kopftuch, mehr modisch als streng religiös gewandet, manchmal mehr an den Leistungspunkten als an den Vorlesungen interessiert – eigentlich ganz so wie an Universitäten überall auf der Welt. Einerseits. Andererseits: Wer mit Dozenten spricht oder mit Studenten, wird doch schnell an die besondere Situation des Landes erinnert. Immer ist da die Zeitrechnung, die unterscheidet zwischen „vorher“ und „danach“, also vor Juni 2014, vor dem Vormarsch der IS-Milizen, vor der Übernahme von Mossul, der zweitgrößten Stadt des Iraks, durch den IS, und danach. Mossul ist nur sechzig Kilometer von Dohuk entfernt, das vom IS kontrollierte Gebiet gar nur vierzig Kilometer. „Vorher“ wurde auf dem Campus jedes Jahr ein neues Institutsgebäude fertiggestellt, jetzt ist die Bautätigkeit praktisch zum Erliegen gekommen.

Normalität im Ausnahmezustand

Der Wirtschaftsboom des letzten Jahrzehnts ist in eine Krise umgeschlagen, deutlich spürbar für die Dozenten. Seit vier Monaten haben sie keine Gehälter bekommen, weil die Zentralregierung in Bagdad nur schleppend die Mittel an die kurdische Regionalregierung überweist. Es gibt auch kleine Veränderungen. Im Büro des Universitätspräsidenten hängt jetzt ein großes Farbfoto kurdischer Peschmerga-Kämpfer in der Gebirgslandschaft ihrer Heimat. Ihre Waffen haben sie ganz in der Ikonographie des Guerillakrieges auf imaginäre Gegner in der Ferne gerichtet, mutmaßlich auf IS-Kämpfer. Noch vor zwei Jahren schmückten dieselbe Wand Bilder von Begegnungen mit den Präsidenten anderer Universitäten in Großbritannien oder Deutschland. Unter den Studenten sind Jesiden und assyrische Christen, deren Familien vor den IS-Truppen fliehen mussten und die jetzt im Flüchtlingslager in Kurdistan leben.

Deutlicher noch sind die Unterschiede zwischen „vorher“ und „danach“ in der Stadt. Die Autonome Region Kurdistan mit ihren 5,3 Millionen Einwohnern hat zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen. Die meisten von ihnen leben seit 19 Monaten in riesigen Lagern. Keiner weiß, wie viele Flüchtlinge in Dohuk, einer Stadt mit offiziell 320 000 Einwohnern, inzwischen Unterschlupf gefunden haben. Eine Stadt im Ausnahmezustand, ein Land im Krieg gegen das „Kalifat“. Aber das Alltagsleben hat sich bemerkenswert wenig verändert. Auch der Universitätsbetrieb ist nie unterbrochen worden.

Die jüngste der 17 Fakultäten der Universität Dohuk ist die „Fakultät für Raumplanung und Angewandte Wissenschaften“. Sie bietet einen Studiengang in Geologie und Hydrologie an – naheliegend in einem Land, in dem Erdölexploration und -förderung wesentliche Wirtschaftsgrundlage sind. Seit vier Jahren gibt es außerdem einen englischsprachigen Bachelor-Studiengang Raumplanung, also in Stadt- und Regionalplanung. Professor Nazar Numan, selbst ausgewiesener Hydrogeologe, der viele Gutachten für die Erdölbranche erarbeitet hat, engagiert sich in besonderer Weise für den Raumplanungsstudiengang. „Das fossile Zeitalter geht zu Ende. Geologie haben wir in der Vergangenheit gebraucht, und noch brauchen wir das Erdöl, aber für unsere Zukunft brauchen wir noch etwas anderes!“, sagt er. Nach den traumatischen Vertreibungen und Umsiedlungen der kurdischen Landbevölkerung unter Saddam Hussein, nach Kriegserfahrungen und dem Ende des Wirtschaftsbooms sei Raumplanung das Gebot der Stunde.

Der Studiengang Raumplanung geht auf eine Kooperation zwischen der TU Dortmund und der Universität Dohuk zurück, die bis in das Jahr 2001 zurückreicht. Konkreter wurden die Vorbereitungen nach 2009, als das deutsche Außenministerium als Beitrag zum Friedensprozess eine Deutsch-Irakische Universität aufbauen wollte. Hochschullehrer verschiedener irakischer Universitäten entwickelten mit Kollegen der TU Dortmund ein Curriculum für die Planerausbildung im Irak – angelehnt an deutsche Erfahrungen, aber orientiert an der besonderen Situation eines Landes im Wiederaufbau. Die Deutsch-Irakische Universität wurde nie gegründet, aber am Ende entschied die Universität Dohuk, in Kooperation mit Dortmund und unterstützt vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), den vierjährigen Studiengang Raumplanung mit dem gemeinsam entwickelten Curriculum in englischer Sprache anzubieten. Inzwischen sind drei Jahrgänge für Raumplanung eingeschrieben.Raumplanung ist immer interdisziplinär angelegt und greift auf natur-, ingenieur- und sozialwissenschaftliche Grundlagen zurück. Dementsprechend werden Fächer wie Landschaftsplanung, Verkehrsplanung, Raumwirtschaftspolitik, Institutionenlehre, Demographie und kleinräumige Planaufstellung gelehrt. Im Zentrum stehen immer praktische Projekte. Die TU Dortmund hat zugesagt, am Ende gemeinsame Zeugnisse zu verleihen.

Zukunftsplanung im Ungewissen

Viele jüngere Dozenten der Fakultät in Dohuk sind selbst im Ausland ausgebildet worden, in Schweden, den Vereinigten Staaten oder in Iran. Einer der besonders erfahrenen Kollegen war jahrzehntelang Professor für Makroökonomie an der Universität Mossul. Dort führte er die Studenten in die Theorien von Keynes, Hayek und Friedman ein, aber seine Leidenschaft war immer die Demographie. Mit Emphase plädierte er in seinen Vorlesungen dafür, Familienplanung auch in der islamischen Gesellschaft Platz zu geben. Als die IS- Milizen vorrückten, wusste er, dass für ihn kein Platz mehr sein würde. Er versteckte seine englischsprachigen Fachbücher in Kisten bei einem Bauern außerhalb der Stadt und übergab sein Haus seiner Schwester, „denn vielleicht hat ja einer der IS-Kämpfer irgendwann in einer meiner Vorlesungen gesessen, und Intellektuellen, die ,unislamisches Gedankengut‘ verbreiten, droht unter IS dieselbe Behandlung wie Ehebrechern – die Todesstrafe“.

Jetzt lehrt er Demographie an der Universität Dohuk und führt in die Methoden der Bevölkerungsprognose ein. Seine Studenten schwärmen aus, um bei den Stadtverwaltungen demographische Kennziffern zu sammeln, die sich meist als unzuverlässig erweisen. Aber sei das nicht etwas, was sie lernen müssten, sagt ihr Mentor: auf unzuverlässiger Basis für die Zukunft planen?

Die Studenten in Dohuk sind aufgewachsen mit vielen Formen von Gewalt. Staatlicher Gewalt und der Gewalt mächtiger Clans. Können sie sich einfinden in Methoden gewaltfreier Konfliktlösung? Im Planspiel simulieren sie dies durch Mediation. Der Fall liegt vor ihrer Haustür: Ein innenstadtnahes Quartier von Dohuk, das im Masterplan für die Stadt als Parkhaus und Taxistand vorgesehen ist, angrenzend an eine Grünanlage. Noch stehen dort die Wohn- und Geschäftshäuser alteingesessener Handwerker und Gewerbetreibender sowie ein traditioneller Basar. Aber das Stadtplanungsamt pocht auf den gültigen Plan und will alle Bewohner umsiedeln. Ein Konflikt wie überall auf der Welt, wo Städte schnell wachsen. Ava spielt die Rolle der Ladenbesitzerin, Lava den Vertreter der Taxifahrer, Mohamed den Stadtplaner. Nach Stunden zäher Debatten tauchen plötzlich neue, vorher kaum erwartete Lösungen auf. Am Ende verkündet Soleen, in der Rolle der Mediatorin, eine Lösung, bei der (fast) alle gewinnen. Natürlich, das alles ist nur ein Planspiel! Aber darin steckt die Hoffnung, dass diese Nachwuchsplaner in ihrem Berufsleben später einmal gewaltfreie Wege finden, um Konflikte zu lösen.

Einhard Schmidt-Kallert lehrte bis 2014 „Raumplanung in Entwicklungsländern“ an der TU Dortmund, leitete für den DAAD das deutsch-irakische Kooperationsprojekt und war 2015 als Gastdozent in Dohuk.

Quelle: F.A.Z.