THEO VAN GOGH HISTORIE: HAMAS-MITGRÜNDER BENJAMIN NETANJAHU! FULL STORY!

Omer Bartov: „Ein Land, das Völkermord begangen hat, trägt diesen Makel über Generationen hinweg“

Von: Michael Hesse FRANKFURTER RUNDSCHAU  5-8-25 – Der Genozid-Forscher Omer Bartov über das Vorgehen Israels gegen die palästinensische Bevölkerung, die Anerkennung Palästinas als Staat und Deutschlands Rolle.

Omer Bartov sitzt in seinem Arbeitszimmer während des Interviews. Hinter seinem Rücken sind Unmengen an Büchern erkennbar.

Professor Bartov, es gibt weltweit große Empörung über Israels Vorgehen im Gazastreifen. Kommt die Empörung zu spät?

Leider ja. So unvorstellbar die Zerstörung schon jetzt ist – es kann noch viel schlimmer werden. Zahlreiche humanitäre Helfer und internationale Expertinnen warnen vor einer Eskalation, die weit über das hinausgeht, was wir bisher gesehen haben. Sie müssen sich anschauen, was Alex de Waal, ein Experte für Hungernsnöte, dazu gesagt hat. Selbst wenn die Kämpfe morgen enden, wenn Hilfslieferungen zugelassen und medizinische Teams einreisen dürften – die Katastrophe würde weitergehen. Genau das dokumentiert auch der Bericht von „Physicians for Human Rights“ in Israel.

Was müsste jetzt geschehen?

Das Dringendste ist, jetzt zu handeln – sofort. Wenn der Druck der Weltöffentlichkeit dazu führt, dass Regierungen wirklich eingreifen und nicht nur symbolisch, etwa durch die Anerkennung eines palästinensischen Staates im September – was richtig wäre, aber den Menschen vor Ort im Moment nicht hilft –, sondern Israel jetzt zum Kurswechsel zwingen, dann könnten wir vielleicht noch Schlimmeres verhindern. Andernfalls werden wir im September auf eine Lage blicken, die noch unvorstellbar grausamer ist als heute.

Gaza-Krieg: Genozid-Forscher Omer Bartov im Interview

Was würde denn die Anerkennung eines palästinensischen Staates überhaupt verändern?

Kurzfristig? Nichts. Aber es wäre dennoch ein zentraler Schritt. Denn so dringend ein Waffenstillstand ist – er wird keine der grundlegenden Probleme lösen: nicht die katastrophalen Lebensbedingungen in Gaza, nicht die schleichende ethnische Vertreibung im Westjordanland, und schon gar nicht die strukturellen Ursachen dieses Konflikts. Was es braucht, ist ein Paradigmenwechsel – und der beginnt mit der Erkenntnis, dass die internationale Gemeinschaft sich über Jahre aus der palästinensischen Frage zurückgezogen hat.

Sie meinen, der Rückzug war politisch gewollt?

Ja – in gewisser Weise hat man die Erzählung übernommen, die Netanjahu seit Jahren verkauft: Die Besatzung lässt sich „managen“. Man müsse den Status quo nur administrieren, ohne politische Lösung. Diese Haltung hat sich verfestigt – in der israelischen Öffentlichkeit, aber auch international. Und genau das muss sich ändern, wenn man nicht möchte, dass sich diese Gewaltzyklen immer wiederholen.

Bleiben wir bei der israelischen Gesellschaft. Warum war sie bislang so gleichgültig gegenüber der politischen Führung der Palästinenser?

Zunächst: Es gibt viel Druck in der israelischen Gesellschaft – die Wirtschaft leidet, die Armee ist personell am Limit, die Zahl der Suizide im Militär ist hoch. Aber all das hat nichts mit dem Schicksal der Palästinenser zu tun. Die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber hat zwei tiefere Ursachen.

Welche?

Erstens: Seit 1967 besetzt Israel große Teile der palästinensischen Gebiete. Und eine langandauernde Besatzung bringt fast zwangsläufig eine Dehumanisierung mit sich. Man hört in Israel gern: Wir sind weltoffen, reisen nach Italien, nach Südamerika, wir sind kosmopolitisch. Aber Palästinenser gehören nicht zu dieser Kategorie. Es ist nicht nur ein Gefühl der Überlegenheit – es ist, als wären sie eine andere Gattung. Diese Sichtweise hat sich über Generationen hinweg verfestigt. Ich erinnere mich immer wieder an junge Israelis, die ich im Café treffe, sie sind weltoffen und kosmopolitisch. Wenn sie eine Uniform anziehen, ändert sich alles, sie brechen um vier Uhr morgens in die Häuser der Palästinenser ein, treiben alte Frauen raus und zerstören das Spielzeug der Kinder. Es ist ein und dieselbe Person, die beides tut. Aber sie sehen das nicht und verstehen es auch nicht, das ist für sie natürlich.

Und der zweite Grund?

Der 7. Oktober. Dieser Tag war für viele Israelis ein Schock – auf vielen Ebenen. Plötzlich schlugen Palästinenser, die man für machtlos hielt, brutal zu. Sie töteten nicht nur Zivilisten, sondern auch Hunderte israelische Soldaten. Sie überrannten Armeestützpunkte. Es dauerte Tage, bis die IDF die Kontrolle zurückgewann. Diese Erfahrung hat zu einem tiefen Gefühl der Unsicherheit, des Hasses und der Rache geführt – und zu einer Bereitschaft, extreme Gewalt zu akzeptieren.

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Genozid-Forscher Omer Bartov über das Töten im Gaza-Krieg

Sie sagen: Für viele Israelis ist das Töten inzwischen normal?

Etwa 30 Prozent der Bevölkerung, würde ich sagen, sind offen dafür – sie sprechen von Zerstörung, Auslöschung, ohne Umschweife. Die Mehrheit dagegen will einfach nicht genau hinsehen. Wenn sie morgen hörten, dass die Palästinenser nach Kanada „ausgewandert“ seien, würden viele nicht einmal fragen, wie das passiert ist. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger Dehumanisierung.

Ist Dehumanisierung eine Voraussetzung für Genozid?

In gewisser Weise: ja. Wenn man Menschen als Kakerlaken, als Ungeziefer oder „menschliche Tiere“ bezeichnet, wie es auch israelische Politiker getan haben, ist man auf diesem Pfad. Das allein ist noch kein Genozid. Aber um einen Genozid zu begehen, muss man eine Gruppe aus dem Kreis menschlicher Solidarität ausschließen. Sie gehört dann nicht mehr dazu – hat keine Rechte, keine Würde, kein Lebensrecht. Und das wird irgendwann Teil des eigenen Selbstbilds: Man sieht sich selbst über das Bild des entmenschlichten Anderen. Die Besatzung hat genau das bewirkt. Und das ist eine zentrale Voraussetzung für ein späteres Massaker. Es braucht dann nur noch einen Auslöser.

Sie gelten weltweit als einer der renommiertesten Genozid- und Holocaust-Forscher. Würden Sie sagen, dass das, was sich derzeit im Gazastreifen abspielt, ein Genozid ist?

Zunächst einmal müssen wir uns vom Begriff „Krieg“ verabschieden. Alle sprechen vom Krieg in Gaza – als wäre es ein Krieg. Aber das ist es nicht. Der Krieg endete spätestens mit dem Einmarsch der IDF in Rafah. Eine Million Menschen wurden aus der Stadt vertrieben, viele zum wiederholten Male, und in die Strandregion von Mawassi gedrängt – ohne Wasser, ohne medizinische Versorgung, ohne Infrastruktur. Danach wurde Rafah zerstört. Wenn man mit etwas Abstand auf die Zeit seit dem 7. Oktober blickt, zeigt sich ein klares Muster: Die israelische Armee verfolgte nicht in erster Linie die erklärten Kriegsziele – also die Zerschlagung der Hamas oder die Befreiung der Geiseln. Beides wurde nicht erreicht. Stattdessen wurde Gaza systematisch zerstört – seine Infrastruktur, seine Lebensgrundlage, seine Bevölkerung. Ziel war offenbar: Gaza unbewohnbar zu machen.

Das ist ein schwerer Vorwurf. Gibt es Belege dafür?

Ja. Die Aussagen israelischer Politiker und Generäle direkt nach dem 7. Oktober lassen daran keinen Zweifel. Dazu kommt der systematische Angriff auf die medizinische Infrastruktur. Ärzte ohne Grenzen und Physicians for Human Rights in Israel berichten von gezielter Zerstörung von Krankenhäusern, gezielter Tötung von Ärztinnen und Pflegepersonal – bis hin zur vollständigen Ausschaltung medizinischer Versorgung. Gleichzeitig wurde unmittelbar nach dem 7. Oktober eine Politik der bewussten Aushungerung angekündigt: „Kein Wasser, kein Strom, kein Essen“ – Zitat israelischer Regierungsmitglieder. Diese Politik wurde auch umgesetzt. Mal stärker, mal schwächer – aber nie wurde ausreichend Versorgung zugelassen. Diese gezielte Verweigerung von Nahrung und medizinischer Hilfe erfüllt bereits für sich die Kriterien eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Und es kann, je nach Kontext, unter die Definition eines Genozids fallen: als Versuch, eine Bevölkerungsgruppe als solche zu vernichten.

Man schafft Bedingungen, unter denen das Überleben nicht mehr möglich ist.

Sie sprechen also nicht nur von Zerstörung, sondern von Vernichtung?

Ja. Und das selbst dann, wenn man die Zahl der Toten – mindestens 60.000 – und Verwundeten – über 140.000 – einmal ausklammert. Was sich zeigt, ist ein systematisches Muster: Man schafft Bedingungen, unter denen das Überleben nicht mehr möglich ist. Das reicht von der Zerstörung von Wasseranlagen über die Bombardierung von Bäckereien bis hin zu verseuchtem Trinkwasser. Die Botschaft ist: Gaza darf kein Ort mehr sein, an dem Menschen leben können.

Was es mit dem Begriff „ethnische Säuberung“ völkerrechtlich auf sich hat

Manche würden das Vorgehen Israels als „ethnische Säuberung“ bezeichnen.

Das Problem: „Ethnische Säuberung“ ist kein klar definierter Begriff im Völkerrecht. Aber was hier geschieht, geht über Vertreibung hinaus. Denn: Die Menschen können nicht gehen. Es gibt keinen Fluchtweg. Premierminister Netanjahu sagte im Mai wörtlich: „Sie werden nicht in ihre Häuser zurückkehren können. Wir haben ihre Häuser zerstört. Unsere einzige Herausforderung ist, Länder zu finden, die Sie aufnehmen.“ Nur: Solche Länder gibt es nicht. Also wird die zweitbeste Option zur Hauptstrategie: Entweder sie sterben, oder sie verschwinden auf andere Weise – durch Hunger, Krankheit, völligen Zusammenbruch der Versorgung.

Israel spricht von „humanitären Zonen“. Zuletzt war die Rede von einer „humanitären Stadt“ in Rafah. Was halten Sie davon?

Jeder, der über Nazi-Deutschland forscht, weiß: Euphemismen sind ein zentrales Merkmal jeder genozidalen Rhetorik. Wer einen Genozid plant oder durchführt, sagt das nicht offen. Man spricht von „Sicherheitsrisiken“, von „Kooperation mit dem Feind“, von „Transfer“. Und man verwendet Begriffe wie „humanitär“, um das genaue Gegenteil zu verschleiern. Israel hat eine sogenannte „humanitäre Stiftung Gaza“ eingerichtet, mit vier Verteilungspunkten für Lebensmittel – für zwei Millionen Menschen. Einer liegt im Zentrum Gazas, die übrigen im Süden. Schon jetzt wurden über 1200 Menschen beim Versuch getötet, dort Nahrung zu bekommen – meist junge Männer, denn Alte, Kranke, Schwangere und Kinder schaffen die bis zu 30 Kilometer langen Fußmärsche gar nicht. Ziel war ganz offensichtlich, die Bevölkerung aus dem Norden in den Süden zu ziehen, um sie dort zu konzentrieren. Die geplante „humanitäre Stadt“ in Rafah, so wie sie vom Verteidigungsminister beschrieben wurde, wäre de facto ein riesiges Konzentrationslager für 600.000 Menschen: eingezäunt, bewacht, ohne Freizügigkeit, mit unklarer Versorgungslage. Der Plan: Die Menschen dürfen es nur verlassen, wenn sie Gaza ganz verlassen.

Wird dieser Plan umgesetzt?

Noch ist unklar, ob es tatsächlich dazu kommt. Es gibt offenbar Widerstand innerhalb der Armee – nicht aus humanitären Gründen, sondern weil man sich nicht zuständig fühlt. Was aber jetzt schon Realität ist: Die gesamte Bevölkerung Gazas – zwei Millionen Menschen – wurde auf ein Viertel des ohnehin kleinen Küstenstreifens zusammengedrängt. In drei Zonen, die potenziell vollständig von der Armee belagert werden könnten. Der Gazastreifen war schon vor dem Krieg eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Jetzt ist er ein überfülltes, belagertes Katastrophengebiet – ohne Fluchtweg, ohne Hilfe, ohne Hoffnung. Die Bevölkerung Gazas lebt inzwischen auf nur noch einem Viertel des ursprünglichen Territoriums. Zwei Millionen Menschen sind auf engstem Raum zusammengepfercht – in drei Zonen, die potenziell belagert werden können. Es gibt Pläne, diese Gebiete komplett abzuriegeln, niemanden mehr herauszulassen. Und wir wissen aus früheren Operationen der IDF, etwa am Nitzanim-Korridor, dass sie sogenannte „Tötungszonen“ einrichten. Ich erinnere mich dabei an den Begriff der Wüstenzone, wie ihn die Wehrmacht an der Ostfront verwendete: Wer auch immer sich hineinwagt – Hund, Esel, Kind, Greis –, wird erschossen. Das ist die Logik solcher Sperrzonen.

Und die sogenannte „humanitäre Stadt“?

Sie wäre im Grunde nichts anderes als ein riesiges Lager – umzäunt, bewacht, mit kaum gesicherter Versorgung. Die Menschen aus Rafah sollen in das zerstörte Rafah zurückgebracht werden – in eine Trümmerlandschaft. Das Ziel scheint klar: Man will die Bevölkerung durch Not, Hunger, Seuchen und Verzweiflung zur „freiwilligen“ Ausreise zwingen. Die Regierung setzt dabei auch auf die Empörung der Weltöffentlichkeit, um am Ende einen „humanitären Transfer“ zu rechtfertigen. In Israel wird offen darüber gesprochen, dass Donald Trump diese Politik implizit gebilligt habe. Während Netanjahus Besuch sagte er sinngemäß: Wir müssen die Menschen aus Gaza herausbringen und das Gebiet neu aufbauen. Für israelische Entscheidungsträger war das ein grünes Licht. Nicht für Hotels, wie Trump vielleicht dachte, sondern für jüdische Siedlungen. Siedlergruppen fordern bereits die Besiedlung Nord-Gazas.

Netanjahu verfolgt den Krieg auch aus Angst vor juristischer Verfolgung, heißt es.

Dieses Argument wird häufig vorgeschoben: Er könne den Krieg nicht beenden, weil seine rechtsextremen Koalitionspartner ihn unter Druck setzen würden – Bezalel Smotrich, Itamar Ben-Gvir und andere. Doch das lenkt ab: Netanjahu ist Premierminister. Er ist verantwortlich. Und es ist seine Politik. Man muss verstehen: Für Netanjahu war die Hamas immer nützlich. Bereits 2015 sprach Smotrich offen darüber. Netanjahu selbst handelte mit Katar Geldtransfers für die Hamas aus – in bar, in Koffern übergeben, von Israel genehmigt. Warum? Weil die Hamas aus seiner Sicht der beste Vorwand war, um jede Lösung zu blockieren. Mit ihr könne man nicht verhandeln, sie sei international geächtet, wolle Israel zerstören und einen islamischen Staat in Israel errichten. Die Palästinensische Autonomiebehörde sei korrupt und schwach. Also blieb nur: die Besatzung „managen“. Das war Netanjahus Strategie – bis zum 7. Oktober.

Der 7. Oktober hat alles verändert.

Ja, aber Netanjahu bleibt seiner Linie treu. Er sagt: Wir kämpfen bis zum vollständigen Sieg. Was das bedeutet, sagt er nicht. Über „den Tag danach“ spricht er nicht. Das Militär fragt sich seit Monaten: Was ist unser Ziel? Die militärischen Operationen sind abgeschlossen. Was jetzt geschieht, ist entweder tägliche Zerstörung oder der Schutz ziviler Bulldozer, die für jeden abgerissenen Wohnblock bezahlt werden. Es geht nicht mehr um Hamas. Es geht um die völlige Einebnung Gazas.

Solange der Krieg andauert, kann Netanjahu sagen: Wir haben Hamas noch nicht besiegt.

Dabei gab es doch ein Angebot im Mai: „Alle gegen alle“ – Gefangene gegen Geiseln, Rückzug der IDF …

Das lag auf dem Tisch. Und im Hintergrund stand der Plan, dass sich die Hamas-Führung zurückzieht und eine neue palästinensische Regierung übernimmt. Aber das ist genau der Albtraum Netanjahus – nicht erst für Smotrich und Ben-Gvir, sondern schon lange zuvor. Denn sobald der Krieg endet, müsste jemand regieren. Und das könnten nur Palästinenser sein. Also kann der Krieg nicht enden. Solange der Krieg andauert, kann Netanjahu sagen: Wir haben Hamas noch nicht besiegt.

Und politisch?

Je länger der Krieg dauert, desto mehr Gesetze werden vorbereitet, die etwa arabische Israelis aus den Wahlen ausschließen könnten – mit dem Argument, sie gehörten nicht zu zionistischen Parteien. Das erhöht Netanjahus Chancen auf einen Wahlsieg. Der Krieg ist für ihn nicht nur ein Mittel zur Machtsicherung. Er ist das letzte Glied einer langen Strategie.

Glauben Sie, dass die Regierungen in Europa und anderswo nun Israels Vorgehen in Gaza als Genozid einordnen? Und dass sie deshalb beginnen, zu handeln?

Ich weiß nicht, was sie wirklich denken – und ob sie überhaupt bereit sind, in diesen Kategorien zu denken. Aber die zentrale Frage ist: Warum ist es überhaupt wichtig, von Genozid zu sprechen? Manche sagen: Reicht es nicht, wenn wir von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprechen? Das sei doch schlimm genug.

Omer Bartov über den juristischen Begriff „Genozid“

Und Ihre Antwort?

Genozid ist nicht nur ein moralischer Begriff – es ist ein juristischer. Er ist völkerrechtlich in der UN-Völkermordkonvention verankert. Und diese Konvention verpflichtet alle Unterzeichnerstaaten: Sie müssen eingreifen, wenn sich ein Genozid abzeichnet. Sie müssen ihn stoppen, wenn er läuft. Und sie müssen die Verantwortlichen bestrafen. Das ist keine moralische Empfehlung, es ist Völkerrecht.

Und genau deshalb schrecken viele Staaten davor zurück, ihn zu benennen?

Historisch gesehen war das oft der Grund. Denken Sie an die USA während des Genozids in Ruanda. Die Regierung wusste, was geschieht, aber sie vermied bewusst das Wort „Genozid“. Denn damit hätte eine Interventionspflicht bestanden – und genau das wollte man vermeiden. Ähnlich ist es heute: Wenn europäische Regierungen oder die USA den Genozid anerkennen würden, müssten sie handeln. Deshalb halten sie sich zurück.

Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs?

Der IGH ist Teil der UN-Struktur, ebenso wie die Genozidkonvention. Derzeit verhandelt er auf Antrag Südafrikas den Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen Genozid. Das Urteil wird kommen – aber vermutlich erst nach erheblicher Verzögerung. Denn der Gerichtshof muss eine gewaltige Beweislast prüfen, was Monate oder Jahre dauert.

Und bis dahin?

Staaten sind nicht verpflichtet zu warten. Sie können auch ohne Urteil zu der Einschätzung kommen, dass ein Genozid geschieht – und müssen dann entsprechend handeln. Was aber besonders wichtig war: die vorläufigen Anordnungen des IGH. Diese verpflichteten Israel u. a. dazu, deutlich mehr humanitäre Hilfe zuzulassen. Selbst der israelische Richter am Gericht, Aharon Barak, stimmte diesem Punkt zu.

Und doch wurde die Maßnahme nicht umgesetzt.

Nein, Israel hat sie vollständig ignoriert. Das Ergebnis sehen wir jetzt: eine Hungerkatastrophe in Gaza. Warum konnte Israel das tun? Weil der IGH keine eigene Exekutivgewalt hat. Die Durchsetzung liegt beim UN-Sicherheitsrat – und dort verfügen die USA über ein Vetorecht. Solange das besteht, gibt es keine Durchsetzungskraft.

 

Was wäre die politische Wirkung eines späteren IGH-Urteils?

Sollte der Gerichtshof zu dem Schluss kommen – was ich für möglich halte –, dass bestimmte Handlungen in Gaza als Genozid zu qualifizieren sind, dann wird das eine gewaltige Wirkung haben. Nicht nur juristisch – etwa im Hinblick auf mögliche Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs. Sondern auch symbolisch und historisch: Ein Land, das Genozid begangen hat, trägt diesen Makel über Generationen hinweg. Nicht nur seine politischen Führer – die gesamte Gesellschaft wird in Mitleidenschaft gezogen. Ich fürchte, genau das droht Israel: ein Makel, der sich nicht mehr auslöschen lässt.

Was bedeutet das für die Staaten, die Waffen an Israel liefern – dazu gehört ja auch Deutschland?

Wenn ein Genozid festgestellt wird – rechtlich oder politisch –, dann stellt sich auch die Frage nach der Mitverantwortung. Deutschland liefert Waffen an Israel, darunter Systeme mit hoher Zerstörungskraft. Sollte sich nachweisen lassen, dass diese Waffen im Kontext eines Völkermords eingesetzt wurden, wäre das juristisch und moralisch äußerst problematisch. Zumal Deutschland als Unterzeichnerstaat der Genozidkonvention nicht nur verpflichtet ist, keinen Genozid zu begehen, sondern auch, ihn nicht zu ermöglichen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland gehören zu den wichtigsten Waffenlieferanten Israels. Wie bewerten Sie das in Anbetracht dessen, was sich derzeit in Gaza abspielt?

Es ist eindeutig: Beide Staaten sind involviert – militärisch wie politisch. Die israelische Marine etwa basiert auf deutschen Lieferungen. Und auch wenn man in Deutschland gern behauptet, die Marine sei an den Angriffen nicht beteiligt, sie ist es sehr wohl. Sie schützt die Blockade, sie operiert direkt vor der Küste Gazas. Das ist keine Randnotiz, sondern ein zentrales Element dieses Kriegs.

 

Zur Person

Omer Bartov (70), der israelische Holocaustforscher, hat Wurzeln in einem galizischen Städtchen, dessen antisemitische Gewaltgeschichte er in seinem Buch „Anatomie eines Genozids“ erzählt hat. Bartov ist Professor an der Brown University im US-Bundesstaat Rhode Island.

Sein neues Buch: „Genozid, Holocaust und Israel, Palästina. Geschichte im Selbstzeugnis“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen.

Also tragen die USA und Deutschland eine Mitverantwortung?

Ja. Beide sind beteiligt: durch Waffenlieferungen, durch diplomatische Rückendeckung, durch politische Legitimierung. Deutschland etwa hat erklärt, dass es sich im Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Südafrikas Völkermordklage auf die Seite Israels stellen will. Und gleichzeitig wissen alle: Wenn Netanjahu nach Berlin käme, wäre Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, ihn zu verhaften und an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überstellen. Stattdessen lädt man ihn ein. Das ist nicht nur ein politisches, das ist ein rechtliches Problem.

Ein Bruch mit deutschem Recht?

Deutschland hat klare Regeln, die Waffenlieferungen in Konfliktregionen und an Staaten, denen Kriegsverbrechen oder Völkermord vorgeworfen werden, untersagen. Diese Regeln gelten, sie werden nur nicht angewendet. Und das müsste jemand sagen. Es gibt in Deutschland bislang kaum Stimmen, die das offen tun.

Aus Ihrer Perspektive als Historiker – und als Holocaust-Forscher: Wie bewerten Sie das?

Es ist ein Paradox von erschütternder Tragweite. 1948, im selben Jahr, als die UN die Genozidkonvention verabschiedeten, wurde der Staat Israel gegründet – als Reaktion auf den Holocaust. Die Idee war: Nie wieder sollten Jüdinnen und Juden wehrlos einer Vernichtung ausgeliefert sein. Nun steht dieser Staat selbst unter dem Vorwurf, einen Völkermord zu begehen. Das ist für viele – nicht nur in jüdischen Gemeinden – kaum denkbar, kaum auszuhalten. Und gerade deshalb fällt es so schwer, die Realität in Gaza beim Namen zu nennen.

Genozid-Forscher Omer Bartov über die deutsche Staatsräson

Was bedeutet das für Deutschland?

Deutschland hat sich historisch verpflichtet, den Staat Israel zu schützen, so lautet der berühmte Satz von Angela Merkel: Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson. Aber was heißt das, wenn dieser Staat selbst gegen Völkerrecht und gegen die Genozidkonvention verstößt? Staatsräson darf kein Blankoscheck sein.

Was in Gaza geschieht, ist nicht nur eine Katastrophe für die Palästinenser – es ist auch eine Katastrophe für Israel selbst.

Omer Bartov

Was wäre dann eine angemessene Haltung?

Deutschland muss zweierlei tun. Erstens: Es muss sich zu seiner historischen Verantwortung gegenüber Israel bekennen, aber nicht bedingungslos gegenüber jeder Regierung. Und zweitens: Es muss das internationale Recht verteidigen, das gerade aus der Erfahrung des Holocausts entstanden ist. Dazu gehört auch, Verbrechen klar zu benennen, egal, ob sie in Myanmar begangen werden oder in Gaza.

Wer Israel schützen will, darf Netanjahus Regierung nicht unterstützen?

Genau. Was in Gaza geschieht, ist nicht nur eine Katastrophe für die Palästinenser – es ist auch eine Katastrophe für Israel selbst. Es ist Teil eines Prozesses, in dem sich Israel zu einem autoritären Apartheidregime entwickelt: gegen Palästinenser, gegen arabische Israelis, zunehmend aber auch gegen jüdische Oppositionelle. Wer das ernst nimmt, kann diese Regierung nicht weiter stützen. Deutschland müsste sich klar dagegenstellen, im Interesse Israels, nicht gegen es.

Interview: Michael Hesse