DER VERRAT AN DEN KURDEN IN SYRIEN

THEO VAN GOGH HINTERGRUND : Der Sturz des Assad-Regimes & die Rolle der Türkei- ▸ BUNDESWEHR RESERVISTEN

Am 8. Dezember 2024 war es so weit: Nach über 13 Jahren Bürgerkrieg wurde der syrische Machthaber Baschar al-Assad von der Opposition gestürzt. Er floh umgehend nach Moskau, seinem wichtigsten militärischen und politischen Verbündeten. Unter Führung der islamistischen Gruppierung „Haiʾat Tahrir asch-Scham“ gelang im Rahmen einer Großoffensive in kürzester Zeit der Fall des Regimes. Davon profitiert insbesondere die Türkei, die seit Jahren militärisch im Nachbarland aktiv ist. Hauptziel: Die Unterdrückung des kurdischen Separatismus. Welche Rolle spielte Ankara bei der Großoffensive und wie kann die Entwicklung Syriens zu einer Demokratie gelingen?

  • Von Julius Vellenzer RESERVISTEN DER BUNDESWEHR 07.07.2025

Die Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus waren lange Zeit von Spannungen geprägt. Einer der Hauptgründe war die Unterstützung der linksextremistischen und separatistischen, in der Türkei operierenden „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) durch das Assad-Regime. Die Gruppe wird von der Türkei, der EU und den USA sowie weiteren Verbündeten als Terrororganisation eingestuft. Mit der Auslieferung des PKK-Anführers Abdullah Öcalan an Ankara Ende der 1990er begann eine Phase der Annäherung, die durch den syrischen Bürgerkrieg ein Ende fand. Die Türkei – wie Washington und die Golfstaaten – sah den Ausbruch als Chance für einen „Regime Change“ und forderte den Rücktritt von Assad.

Unterstützung der Opposition durch die Türkei

Die Niederschlagung der pro-demokratischen Proteste ab März 2011 war den Ursprung des Bürgerkriegs. Syrien stand seit 1963 unter Kontrolle der arabisch-sozialistischen Baath-Partei und wurde als totalitärer Polizeistaat charakterisiert. Wichtigste politische und militärische Verbündete waren Russland und der Iran. Baschar al-Assad übernahm das Amt des Präsidenten im Jahr 2000 von seinem Vater Hafez. Auf die Massendemonstrationen im Zuge des Arabischen Frühlings reagierte er zunächst mit dem Versprechen nach Reformen. Der Forderung nach Aufhebung des seit fast 50 Jahren andauernden Staatsnotstands gab er nach. Da dies nicht zu einem Ende der Proteste beitrug, ließ Assad wenig später seine Sicherheitskräfte auf die Menschen los. Dabei kam es zu zehntausenden Toten und Festnahmen.

In den folgenden Monaten formierten sich aus den verschiedenen Regimegegnern bewaffnete Gruppen, die zum Teil erhebliche finanzielle und materielle Unterstützung aus dem Ausland erhielten. Es entstand ein umfassender Bürgerkrieg. Deserteure des syrischen Militärs gründeten die „Freie Syrische Armee“, die von westlichen Staaten, der Türkei und den Golfmonarchien unterstützt wurde. Zu Beginn des Bürgerkriegs die wichtigste Miliz, nahm ihr Einfluss stetig ab. Aus ihr ging die von Ankara gesponsorte „Syrische Nationale Armee“ (SNA) hervor. Diese kämpfte nicht nur gegen das Assad-Regime, sondern auch gegen das kurdische Militärbündnis „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF).

Die SDF besetzten die von Kurden bewohnten Gebiete im Nordosten und gründeten 2012 das autonome Gebiet „Rojava“. Die Miliz erhielt Unterstützung vom Westen – sehr zum Ärger der Türkei. Im Gegensatz zu anderen Oppositionsgruppen forderten sie nicht den Sturz von Assad, sondern primär Autonomie und die Föderalisierung Syriens. So kooperierte die Kurdenmiliz zum Teil mit Regimetruppen im Kampf gegen Islamisten. Diese stellten die dritte Säule der bewaffneten Opposition dar. Wichtigste islamistische Gruppierungen waren die al-Qaida nahestehende „al-Nusra-Front“ und ihr Nachfolger „Haiʾat Tahrir asch-Scham“ (HTS) sowie der „Islamische Staat“ (IS), der zwischen 2013 und 2017 temporär weite Teile Syriens kontrollierte. Die Türkei lieferte nachweislich Waffen an Islamisten, damit diese gegen Assad und kurdische Rebellen kämpften.

Weg zur türkischen Intervention in Nordsyrien

Ein besonderer Dorn im Auge für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan war und ist der Aufstieg und die Konsolidierung des autonomen Kurdengebiets. Rojava entspricht den Siedlungsgebieten der kurdischen Minderheit in Syrien, die rund 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Region grenzt an den Südosten der Türkei, wo die dortige Kurdenminderheit von 15 bis 20 Prozent lebt. Für Ankara stellte der Erfolg der Rojava eine innenpolitische Bedrohung dar, da dieser als Stärkung des Autonomiebestrebens der einheimischen Kurden betrachtet wurde. Des Weiteren sieht die Türkei seit jeher die Verbindungen der syrischen Kurdenparteien zur PKK äußerst kritisch.

2013 und 2014 fanden geheime Gespräche zwischen der türkischen Regierung und syrischen Kurdenvertretern statt. Nachdem diese ergebnislos verliefen, änderte Erdoğan seine Strategie. Mit einer wirtschaftlichen Blockade und internationalen Isolation sollte der Einfluss der Rojava eingedämmt und eine neue Welle an kurdischem Aktivismus in der Türkei verhindert werden. Parallel griff Ankara Stellungen der SDF an und man ging in eine verstärkte Kooperation mit islamistischen Gruppierungen über. Internationale Medien und Politiker warfen der Türkei hierbei auch eine Zusammenarbeit mit dem IS vor.

Bereits 2014 und 2015 kursierten Gerüchte über eine militärische Intervention der Türkei in Nordsyrien. Die Anspannungen nahmen im Zuge des erfolgreichen Vorgehens der Kurdenmilizen gegen den IS weiter zu. Die Situation eskalierte schließlich im August 2016, als türkische Truppen zusammen mit der SNA im Rahmen der Operation „Schutzschild Euphrat“ gegen Stellungen des IS und der SDF vorgingen. Mit den Operationen „Olivenzweig“ und „Friedensquelle“ drang man bis Ende 2019 noch weiter in kurdisches Gebiet vor. Hierbei sprach sich Ankara mit Moskau ab. Der damalige US-Präsident Donald Trump stellte die langjährige Unterstützung der Kurdenmilizen ein und gab Erdoğan freie Hand. Als größter Unterstützer der nicht-kurdischen Opposition Syriens blieb somit nur die Türkei noch übrig. Teile von Nord- und Nordostsyrien stehen seitdem unter Kontrolle türkischer Truppen und der SNA.

Im Jahr 2019 marschierten türkische Truppen in Nordsyrien ein (rot) und bekämpfen seitdem kurdische Milizen (grün).

Großoffensive und Fall des Assad-Regimes

Am 27. November 2024 startete die islamistische Gruppierung HTS zusammen mit pro-türkischen Rebellen im Nordwesten Syriens einen großen militärischen Vorstoß. Hierbei handelte es sich um die schwersten Kämpfe seit 2020. Die Offensive wurde ein Jahr lang vorbereitet. Die HTS gilt als stärkste militärische Fraktion der syrischen Opposition, als deren internationales Sprachohr sich die Türkei versteht. Auch wenn sich die Gruppierung unter Führung von Ahmed al-Scharaa gemäßigter gibt als die al-Nusra-Front, wird sie von den USA und der EU (noch) als Terrororganisation eingestuft. Die Offensive fand vor allem in Gebieten statt, die seit Jahren unter Kontrolle des Assad-Regimes standen. Dabei eroberten die Islamisten in kurzer Zeit die Millionenstadt Aleppo. Anschließend stießen die Milizen in die weiter zentral gelegene Stadt Hama vor, die ebenfalls umgehend eingenommen wurde. Die Offensive ging in die drittgrößte Stadt Homs über, die in wenigen Tagen in die Hände der Rebellen fiel.

Nun stand die südlich gelegene Hauptstadt Damaskus im Visier der Opposition. Die Metropole wurde innerhalb eines Tages eingenommen. Die Eroberung am 8. Dezember 2024 führten islamistische, säkulare und lokal operierende Milizen im Süden gemeinsam durch. Hierzu zählte unter anderem die „Revolutionäre Kommandoarmee“, die sich vor Jahren aus Deserteuren der syrischen Armee formiert hat. Diese wurde insbesondere von den USA unterstützt. Gemeines Ziel aller Oppositionsgruppen war der Sturz von Assad, der in weniger als zwei Wochen erfolgte. Nach der Einnahme von Damaskus floh Assad nach Moskau und al-Scharaa stieg zum neuen Anführer Syriens auf. Am 29. Januar 2025 erfolgte seine offizielle Ernennung zum Übergangspräsidenten. Die HTS löste sich auf und ihre Truppen gliederten sich in die Syrische Armee ein. Die EU nahm anschließend Kontakt zur neuen Regierung auf und lockerte die Sanktionen gegen das Land.

Die Großoffensive der Opposition und ihre schnellen Erfolge kamen für viele Beobachter überraschend, da sich in den letzten Jahren kaum Gebietsverschiebungen ereigneten. Fachleute ordneten den Vorstoß im Kontext neuerer Konflikte wie dem Ukrainekrieg seit 2022 und der Nahostkrise um Israel seit 2023 ein. So waren die wichtigsten Verbündeten des Assad-Regimes – Russland und der Iran – an zwei anderen Kriegsschauplätzen militärisch und finanziell stark gebunden. Die pro-iranische Schiitenmiliz Hisbollah, die ebenfalls auf Seiten des syrischen Machthabers kämpfte, hat im Konflikt mit Israel erhebliche Verluste erlitten. Die Schwäche der Assad-Unterstützer nutzten die syrischen Oppositionsgruppen aus.

EU-Ratspräsident António Costa traf Ahmed al-Scharaa beim Gaza-Sondergipfel der Arabischen Liga am 3. März 2025. (Foto: Alexandros Michailidis – European Council via Wikimedia Commons)

Rolle der Türkei bei der Großoffensive

Die Rolle der Türkei bei der Großoffensive wird kontrovers diskutiert. Einerseits stufte Ankara die HTS 2018 als Terrorgruppe ein. Andererseits kooperiert die Türkei seit langem mit islamistischen Rebellen in Syrien, beliefert diese mit Waffen oder toleriert deren Vorgehen. So stimmte sich die Türkei bei ihren Militäroperationen im Norden zum Teil mit der HTS ab. Das Hauptziel von Erdoğan ist die Schwächung kurdischer Milizen und das Ende ihrer Autonomie im Nordosten des Landes. Hierbei wird das Land nicht nur von der SNA, sondern auch von Islamisten wie der HTS unterstützt. Auch die Rückführung der über 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in Türkei ist ein wichtiges innenpolitisches Anliegen Erdoğans.

An der großangelegten Offensive der HTS haben zwar nicht direkt türkische Truppen teilgenommen, dennoch ist davon auszugehen, dass das Vorgehen mit Ankara abgestimmt war. So erfolgte die Militärkation im Nordwesten unter anderem vom türkisch besetzten Territorium aus, der sogenannten „Sicherheitszone“. Zudem nahmen pro-türkische Milizen an der Großoffensive teil. Einige Fachleute gehen auch von einer militärischen Begleitung der Türkei aus. Ankara bestritt jegliche Involvierung, startete jedoch unmittelbar nach dem Fall Aleppos Angriffe gegen kurdische Stellungen. Seitdem finden zum Teil heftige Kämpfe zwischen türkischen Truppen und der SDF statt.

Bei der Offensive im Süden konnte die Türkei allein aus geografischen Gründen nicht direkt militärisch eingreifen. Ankara bekundete jedoch explizit Unterstützung für alle Militäraktionen der Rebellen. In den Monaten vor der Offensive drängte die Türkei mehrfach auf einen politischen Dialog zwischen dem syrischen Regime und der Opposition – ohne Erfolg. Die Chance, die weitere Entwicklung des Landes mitzugestalten, habe Assad nach Ansicht von Erdoğan verpasst. Seit der erfolgreichen Offensive der Rebellen gestaltet die Türkei die politische Zukunft Syriens mit. Wie wichtig Ankara dieser Einfluss ist, unterstreicht die Erklärung im Juni 2025 die rund 20.000 türkischen Soldaten in Syrien nicht abzuziehen.

Syriens Weg zur Demokratie

Die Türkei zählt zu den großen Gewinnern des Regime-Sturzes in Syrien Ende 2024. Dank des guten Verhältnisses zu den neuen Machthabern ist davon auszugehen, dass Erdoğan seinen Einfluss auf das Nachbarland ausbauen wird. Die Entwicklungen seit dem Jahreswechsel spielen Ankara in die Karten, da die Kurden in Syrien zusehends alleine dastehen. Ein Ende von Rojava würde das kurdische Autonomiebestreben in der Türkei erheblich schwächen. Mit dem Aufruf des Kurdenführers Öcalan zur Auflösung der PKK im Februar 2025 kommt Erdoğan diesem Ziel immer näher. Mit Blick auf die Kurden-Frage schlossen al-Scharaa und die SDF am 10. März 2025 ein historisches Abkommen. Hierbei werden den Kurden politische Teilhabe und volle Staatsbürgerschaft garantiert. Im Gegenzug hat die Miliz zugesichert, sich vollständig in die syrischen Streitkräfte einzugliedern. Da der kurdische Separatismus in Syrien damit vom Tisch wäre, hätte die Türkei de facto ihr Hauptziel erreicht.

Im Mai 2025 beschloss die PKK ihre Auflösung und Waffenniederlegung. Damit sind die syrischen Kurden vollkommen von al-Scharaa abhängig. Nur wenige Tage nach dem historischen Abkommen stellte dieser eine stark vom Autoritarismus und dem Scharia-Gesetz geprägte Übergangsverfassung vor, die bei nahezu allen Minderheiten auf Ablehnung stieß – insbesondere bei den Kurden. Allgemein nehmen der Druck und die Gewalt gegen Kurden sowie religiöse Minderheiten wie Christen, Alawiten oder Drusen zu. Ein Grund, warum die EU die Sanktionen gegen Syrien zunächst nur teilweise aussetzte. Daran änderte auch der Besuch von al-Scharaa, der noch auf der EU-Terrorliste steht, beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron am 7. Mai 2025 in Paris zunächst nichts.

Außenpolitisch festigte al-Scharaa seine Position – auch dank Unterstützung aus Ankara. So setzte sich die Türkei zusammen mit Saudi-Arabien für die Wiederannäherung zwischen den USA und Syrien ein. Am 14. Mai 2025 trafen US-Präsident Trump und al-Scharaa erstmals aufeinander. Am Gespräch in Riad nahmen der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman und über Videoschaltung der türkische Präsident Erdoğan teil. Beim Treffen verkündete Trump unter anderem die Aufhebung der langjährigen Sanktionen, dem die EU eine Woche später folgte. Der Schutz von Minderheiten oder die Demokratisierung Syriens waren beim Gespräch in Riad jedoch kein Thema. Darum ist Europa als potenzielle Supermacht mehr denn je gefragt. Die EU sollte ihren politischen und wirtschaftlichen Einfluss nicht nur nutzen, um den schnellen Wiederaufbau zu forcieren, sondern auch die Entwicklung Syriens hin zu einer Demokratie zu sichern.

 

Literaturtipps:

 

Dieser Beitrag stammt aus den SiPol-News des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Die SiPol-News können Sie hier abonnieren.