THEO VAN GOGH ENDSPIEL! Ghiblifizierung ! ALLE NEUE KUNST GEHÖRT JETZT DER MASCHINE. KEIN PROBLEM, AUSSER: WER BEZAHLTDIE FRÜHER ORIGINÄREN KÜNSTLER?
Heft 914, Juli 2025 MERKUR
Vergemeinschaftung des Stils? – Werkherrschaft im Zeitalter Künstlicher Intelligenzvon Johannes Franzen
»Miyazaki würde euch Loser hassen«
Ein Konflikt, der die moderne Kulturgeschichte stark geprägt hat, dreht sich um die Frage des ästhetischen Eigentums: Wem gehört das Werk? Der Literaturwissenschaftler Heinrich Bosse hat für den Streitgegenstand dieses Konflikts in den 1980er Jahren den Begriff der »Werkherrschaft« etabliert. Erst die vor allem urheberrechtliche Kontrolle über das Werk, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte, bildet demnach die Voraussetzung einer individuellen Autorschaft, die einen Herrschaftsanspruch auf das eigene Werk stellen kann.1 Der Geniegedanke legitimiert diesen Anspruch: Dem Schöpfer eines Werkes soll das Werk auch gehören. Der nichtautorisierte Nachdruck wurde in dieser Zeit umgedeutet – von einem Prozess der Vervielfältigung von Wissen und Kunst zu einem Eingriff in das Eigentumsrecht des Schöpfers. Es handelt sich um eine Vorstellung, die seitdem als kultureller Grundkonsens gilt, auch wenn in der konkreten Praxis der Publikation und Distribution von Kunstwerken natürlich ständig Konflikte über Eigentumsfragen ausgefochten wurden.
Seit einiger Zeit hat man den Eindruck, dieser Grundkonsens sei im Zeichen der digitalen Gegenwart aufgekündigt worden. Mitte März veröffentlichte die Firma OpenAI ein Update zu ihrem KI-Bildgenerator, der es unter anderem möglich machte, Bilder im Stil der Animationsfilme von Hayao Miyazaki (Prinzessin Mononoke, Chihiros Reise ins Zauberland oder Mein Nachbar Totoro) zu erstellen, die für ihre Mischung aus liebenswert-idyllischer Bildsprache und der beunruhigend wuchernden Fantasie ihrer Märchenwelten bekannt sind.
Nach der Veröffentlichung des Updates überschwemmte eine Flut an Bildern in der nach dem Studio, das Miyazaki mitgründete, so genannten Ghibli-Ästhetik die sozialen Netzwerke. Mit nur wenigen Klicks können die eigenen Hochzeitsfotos, beliebte Memes oder andere fiktionale Universen wie Herr der Ringe in diesem Stil darstellt werden. Für OpenAI war die Aktion ein großer Erfolg, der die Nutzerzahlen in die Höhe schießen ließ. Auch der CEO der Firma, Sam Altman, änderte auf der Plattform X seinen Avatar zu einem Ghibli-artigen Bild. Gleichzeitig sorgte diese Vergesellschaftung eines beliebten Stils aber auch für Ärger und Entsetzen. Jenny G. Zhang, Redakteurin des Magazins Slate, schrieb: Hayao Miyazaki Would Hate You Fucking Losers.2
Für die Autorin ist die Herstellung von Ghibli-Slop (»Slop« bezeichnet in Bezug auf KI-generierte Inhalte den schleimigen Müll, der die sozialen Netzwerke verstopft und verschmutzt) ein regelrecht böser Vorgang. Social Media sei mit »random shit« geflutet worden. Es handele sich um eine »Innovation«, die menschengemachte Schöpfungen stehle, um sie zu zerkauen und dann Überreste auszuspucken, die jede Originalität, jeden Geist und jede Arbeit vermissen lassen – all die Charakteristika also, die Kunst überhaupt erst zu Kunst macht.
Die heftige Emotionalität, mit der der Fall der massenhaften Ghiblifizierung aufgeladen zu sein scheint, macht die gravierenden Probleme sichtbar, die durch die rapide Verbreitung leistungsfähiger Künstlicher Intelligenz für das Konzept des ästhetischen Eigentums entstehen können. Etablierte Vorstellungen davon, was in der Gegenwart noch Werkherrschaft ist und sein kann, werden infrage gestellt. Eine Ästhetik, die zuvor von wenigen Personen hervorgebracht werden konnte, steht auf einmal jedem Menschen zur Verfügung, der bereit ist, sich bei OpenAI anzumelden. Der Prozess ist kinderleicht: Man muss nur in das Chat-Fenster die Bitte eingeben, ein Bild im Stil von Ghibli zu erstellen, und kurze Zeit später ist dieses Bild abrufbar. Der Effekt ist – auch nach Jahren mit KI-Bildgeneratoren – nach wie vor erstaunlich. Die Bilder fangen den Zauber der Vorlage auf den ersten Blick fast perfekt ein.
Man muss sich die Frage stellen, warum der Fall der Ghiblifizierung für besondere Empörung gesorgt hat. Ein Grund dafür wird der Geniekult sein, der um den Auteur der Filme herum aufgebaut wurde. Dokumentationen zeigen Hayao Miyazaki als ultraskrupulösen Künstler, der sich und sein Team bis zum Äußersten treibt – eine in jeder Hinsicht altmodische Figur, in der sich der Handwerker, der sich eine Schürze anzieht und jeden Tag an den Zeichentisch setzt, und der Meisterkünstler, der sich mit seinem Perfektionismus quält, verbinden. Eine solche Figur bietet sich als Gegenmodell zur Digitalisierung des Ästhetischen natürlich an. Kyle Chayka etwa schrieb angesichts des Konflikts um die KI-generierten Bilder im New Yorker, die Filme von Studio Ghibli könne man als essenziell »menschliche« Kunstwerke bezeichnen. Behauptet wird im Fall der Werke Miyazakis also eine besondere Humanität, die nicht nur auf Handlungs- und Figurenebene zu erkennen ist, sondern auch in der Art des Hervorbingens liegt, im Charakter des Handgemachten.
Kurz nachdem ChatGPT begann, unzählige Ghibli-Bilder auszuspucken, kursierte in den sozialen Netzwerken ein alter Clip, in dem Miyazaki eine Gruppe junger Männer, die ihm ihre KI-Videotechnik vorführten, mit äußerster Strenge abkanzelt und ihr Projekt »eine Beleidigung des Lebens selbst« nennt. Dieses harsche Urteil ist sicher auch Ausdruck des Entsetzens über das groteske Wesen, das sich in der Präsentation mit schlackernden Gliedmaßen mühsam kriechend voranbewegt und über das der Mann, der es vorstellt, selbst sagt, es sei sehr gruselig und könne in Zombie-Videospielen eingesetzt werden. Miyazaki antwortet, er müsse an seinen körperlich eingeschränkten Freund denken, dem es schwerfalle, ihm ein High five zu geben; wer solche monströsen Figuren erschaffe, wisse nicht, was Schmerzen sind. Die sichtlich beschämten Programmierer verteidigen sich: Es sei eben ein Experiment. Auf die Frage, was ihr Ziel sei, antworten sie mit einem gewissen Trotz: eine Maschine zu schaffen, die Bilder wie ein Mensch zeichnen kann.
Grundsätzliche Aspekte dieses Konflikts zwischen Maschine und Künstler, der vor allem um Konzepte wie »Kreativität«, »Originalität«, »Urheberrecht« oder »Authentizität« ausgefochten wird, werden schon länger erforscht und wurden etwa in dem von Stephanie Catani herausgegebenen Handbuch Künstliche Intelligenz und die Künste umfassend erschlossen.3 Dabei zeigt sich, wie die Abwehr der kunstmachenden Künstlichen Intelligenz den anthropozentrischen Charakter echter Ästhetik immer mehr verstärkt. Das gilt – wie Antonius Weixler in seinem Beitrag vermerkt – gerade in Bezug auf das »Hochwertphänomen« der Authentizität, deren Zuschreibung oder Aberkennung zu »ästhetischen ebenso wie zu moralischen Urteilen« führen kann.4
Der Auftritt Miyazakis in der Dokumentation dramatisiert diesen Konflikt auf effektive Weise. Und so drängt der Erlebnisbegriff der modernen Ästhetik in die Debatte: Nur das echte Schmerzwissen befähigt den menschlichen Künstler dazu, wahre Kunst zu produzieren. Das ist unter anderem gemeint, wenn Chayka in seinem Kommentar die besondere Menschlichkeit der Ghibli-Filme beschwört. Die Drohung einer kunstmachenden Maschine rückt den kunstmachenden Menschen ins Zentrum einer heroischen Widerstandserzählung, die den anthropozentrischen Aspekt künstlerischen Schaffens beteuert.
Damit wird die lange Konfliktgeschichte des individuellen Schöpfertums aufgerufen, in der sich die starke Subjektivität des menschlichen Genies und die automatisierte Produktion (die Kunstmaschine) gegenüberstehen. Dieser Konflikt spielte sich lange Zeit vor allem im Umfeld der Kritik an einer marktförmigen, industriell hergestellten Kunst ab, deren wichtigstes Charakteristikum die Standardisierung war. So bürgerte sich seit Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Ausbildung eines breiteren Lesepublikums immer mehr die Fabrik-Metapher ein, um bestimmte literarische Produktionsverfahren abzuwerten.5 Diese Kritik der maschinellen Produktion zieht sich durch die Geschichte der ästhetischen Polemik: von Flauberts Die Erziehung des Herzens, unter anderem eine Parodie des kommerzialisierten Kunstmarkts, über das Kulturindustrie-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung bis hin zur Kritik an der trostlosen Gleichförmigkeit von Hollywood-Franchises.
Thomas Hecken hat die grundsätzliche Argumentation der Standardisierungs-These in seinem Buch Das Populäre als Kunst? so zusammengefasst: »Gearbeitet werde nach Anleitung durch ausformulierte oder durch Standard-Beispiele sichtbar gemachte Regeln, gefolgt werde mehr oder minder bewusst einem Muster.« Und: »Kunst hingegen sei regellos, individuell, originell, breche Konventionen; Künstler seien Neuerer, selbstbewusste oder sich dem Unbewussten hingebende Genies.«6 Diese Vorstellung individuellen Schöpfertums war für die moderne Kulturgeschichte so wichtig, dass sie auch in Produktionsbereichen, die auf ein hohes Maß an Kooperativität angewiesen sind – wie Film und Fernsehen – erfolgreich eingeführt wurde.
Davon zeugen Autorschaftsmodelle wie der »Auteur« oder der »Showrunner«. Man spricht von Martin Scorceses Taxi Driver oder von Vince Gilligans Breaking Bad, obwohl an der Produktion dieser Kunstwerke Hunderte von Menschen beteiligt waren. Die damit verbundene Vorstellung von Werkherrschaft ist stark an die Menschlichkeit des Autors gebunden, dessen Erleben – oder besser dessen Erlebnisfähigkeit – dem ästhetischen Artefakt die Hochwertigkeit der Authentizität verleiht.
In den letzten Jahrzehnten stand der Diskurs um das ästhetische Eigentumsrecht vor allem im Zeichen der identitätspolitischen Frage: Wer darf welche Geschichten verarbeiten und erzählen? In diesem Zusammenhang wurde das Erleben zu einem Legitimationsfaktor des Erzählens gemacht.7 Dieser Anspruch stand oft quer zur klassischen Genieästhetik und wurde als Einschränkung der Freiheit von Kunst gewertet. Im Kampf gegen die kunstmachenden Maschinen der Gegenwart erlebt diese Legitimationsstrategie allerdings eine gewisse Aufwertung. Die humane Schöpferkraft zeichnet sich gerade durch ihre Erlebnisse aus, die ihren Anspruch auf den Status des echten Ästhetischen begründen.
In einem Artikel in der New York Times ringt ein Dozent für kreatives Schreiben die Hände, weil er nun ausgerechnet in einem Kurs über Memoirs einen Text bekommen habe, der offenkundig von ChatGPT verfasst wurde. Autobiografisches Schreiben sei aber ein Akt der Selbstdefinition, die Erinnerung an besonders intensive Erlebnisse verarbeite, die man aus allen Perspektiven analysieren müsse, um sie in der Wiedererzählung zu verkomplizieren. Es handele sich um einen Akt, der dazu geeignet sei, den Autor lebendiger zu machen. Dass nun ausgerechnet dieser Akt an eine Maschine delegiert wird, sei nicht nur eine akademische Unehrlichkeit, sondern eine Herabwürdigung unserer Erinnerungen und unserer Menschlichkeit (»a broader degradation of our memories and our humanity«).8
Der Fall der enteigneten Ghibli-Ästhetik fügt sich nahtlos ein in vorhandene, gut eingeübte kulturkritische Muster. Die digitale Vergemeinschaftung der Ghibli-Ästhetik wird als grotesker Höhepunkt eines rechtsfreien und kunstfeindlichen Zeitalters der nun komplett mühelosen technischen Reproduzierbarkeit gelesen. Davon zeugen die entsetzten Reaktionen, die die Respektlosigkeit vor dem Künstler in diesem Fall als besonders gravierend wahrnehmen. Jenny G. Zhang zitiert in ihrem wutentbrannten Text einen Post auf X, in dem als Kommentar zu einer Ghiblifizierung von Donald Trump schlicht gefordert wird: »hayao miyazaki should start killing people. I think.«9 Der Post sammelte in kurzer Zeit über 280 000 Likes.
»Kunst ist gerade zugänglich geworden«
In seinem Kommentar zur Debatte um die digitale Ghiblifizierung zitiert Kyle Chayka einen viralen Post auf X, in dem ein glückloser Nutzer angesichts der neuen kreativen Möglichkeiten verkündete: »Art just became accessible« – die Kunst sei nun zugänglich geworden.10 Am nächsten Tag entschuldigte er sich in einem Blogpost für den »unnecessarily viral tweet«. Da hatten sich dort schon über zweitausend Antworten angesammelt, in denen er teils heftig beschimpft wurde: Er sei dämlich, faul und privilegiert; KI sei keine Kunst, sondern Diebstahl; Kunst sei schon immer zugänglich gewesen, man müsse eben nur zum Stift greifen.
Der Post und der öffentliche Zorn darüber machen einen Aspekt des Konflikts Mensch/Maschine sichtbar, der in den Kontroversen oft in den Hintergrund gerät: Der Fall der Ghibli-KI bezeichnet die Eskalation eines grundsätzlichen Konflikts um ästhetische Eigentumsfragen, der sich vor allem zwischen der Ebene der Produktion und der Ebene der Rezeption abspielt.
Als vordergründiger Schurke dient in diesem Konflikt zumeist die Figur des Unternehmers, der sich die Kunst widerrechtlich aneignet: vom Nachdrucker des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Betreibern von Plattformen zur Verbreitung von Raubkopien wie »The Pirate Bay«. Im Fall der Ghibli-Ästhetik wird die Figur des Räubers durch die Firma OpenAI und ihren CEO Sam Altman verkörpert, dem 2024 bereits vorgeworfen wurde, die Stimme der Schauspielerin Scarlett Johansson gegen ihren Willen für seine neue Version von ChatGPT gestohlen zu haben.
Was den Fall der Ghiblifizierung charakterisiert, ist allerdings weniger ein Konflikt zwischen Mensch und Maschine, sondern ein Konflikt zwischen dem Künstler und den Menschen, die die Maschine benutzen, um seinen Stil zu verwenden – ein Konflikt also zwischen Autor und einem Publikum, das sich zu eigener Autorschaft aufschwingt. Dieses Publikum erscheint im Gegensatz zu den anderen Feindbildern selbst wieder unangenehm menschlich. Bis in die Nacht habe er mit den neuen kreativen Möglichkeiten des Bildgenerators gespielt, schreibt der Autor des »Art just became accessible«-Posts in seiner Entschuldigung, fasziniert von den Kreationen, die er mithilfe nur weniger Worte hervorzaubern konnte.11
Der Konflikt, der sich hier abzeichnet, ist der ästhetischen Kommunikation zwischen der Ebene der Produktion und der Ebene der Rezeption wesenhaft eingeschrieben. Er betriff notwendig auch die Frage nach dem künstlerischen Eigentum. Werkherrschaft, schreibt Matthias Schaffrick, sei »das konzeptuelle Paradigma, das die Vorstellung von der Souveränität des Autors über sein Werk transportiert«. Diese Souveränität erscheint allerdings auf den zweiten Blick unmittelbar fragwürdig und fragil: »Es fragt sich also, wie unter den Bedingungen schriftlicher, literarischer Kommunikation so etwas wie ›Herrschaft‹ überhaupt denkbar ist und wer hier eigentlich über wen herrscht.«12
Ein Aspekt der literarischen Kommunikation, der in diesem Zusammenhang besonders prekär erscheint, ist naheliegenderweise die Rezeption selbst, in der sich die Leser auf das in die Öffentlichkeit entlassene Werk stürzen – um damit oft Dinge zu tun, die dem souveränen Autor nicht gefallen können. Das Problem vermeintlicher Fehldeutungen, Fehllektüren, Fehlurteile gehört in diese Konstellation und öffnet fast automatisch einen Graben zwischen Autor und Publikum. Die Werkherrschaft des Autors bedeutet eben auch eine Entmachtung des Publikums, während die Emanzipation des Publikums immer auch einen Angriff auf die Souveränität des Autors darstellt.
Gerade in Bezug auf die urheberrechtliche Souveränität können die Rezipienten ausgesprochen rabiat agieren, wenn es darum geht, ihre eigenen ästhetischen Bedürfnisse durchzusetzen. Raubkopien oder illegale Streams verweisen auf eine Rezeptionspraxis, die immer schon mit einer gewissen Respektlosigkeit gegenüber der Werkherrschaft des Künstlers einhergeht. Als »textuelle Wilderer« bezeichnet Henry Jenkins in seinem Klassiker der Fan-Forschung Textual Poachers (1992) die Menge der Rezipienten, die sich in die geliebten populärkulturellen Universen hineindrängen – etwa indem sie sich in einer Flut an Fan-Fiction in diese Universen einschreiben. Was sich in dieser Praxis abzeichnet, ist der Anspruch auf Werkmiteigentümerschaft, der im Verhältnis von Produktion und Rezeption immer angelegt ist.
Die Digitalisierung hat diese Konflikte mit einer neuen Intensität eskalieren lassen, denn sie macht, wie Jürgen Habermas in seiner Diagnose eines »erneuten Strukturwandels der Öffentlichkeit« angemerkt hat, »alle potentiellen Nutzer prinzipiell zu selbstständigen und gleichberechtigten Autoren«.13 Diese entfesselte Autorschaft erzeugt neue Herausforderungen für die Werkherrschaft, die sich nicht erst seit dem Aufstieg von Programmen wie ChatGPT stellen. Die Flut an Fan-Fiction, die sich seit Jahrzehnten in digitale Publikationsplattformen ergießt, hat natürlich auch mit der barrierefreien publizistischen Infrastruktur zu tun, die durch das Internet geschaffen wurde. Für die meisten Autoren handelt es sich dabei um eine Begleiterscheinung gelungener literarischer Kommunikation. Manche, notorisch etwa der Verfasser der Game of Thrones-Reihe George R. R. Martin, sind der Praxis der Fan-Fiction gegenüber allerdings auch feindselig eingestellt.
»Bildwelten der Rücksichtslosigkeit«
Die Kontroverse um die digitale Ghiblifizierung wirft mit erneuter Dringlichkeit die Frage auf: Kann man einen Stil stehlen? Wo die Struktur ganzer Werke oder Werkausschnitte, wo etwa ganze Sätze oder Figuren ohne Berechtigung übernommen werden, scheinen die eigentumsethischen Fragen einigermaßen geklärt. Aber wie verhält es sich, wenn es um die Aneignung von schwer greifbaren Phänomenen wie Linienführung, Farbwahl, Atmosphäre, den Rhythmus von Dialogen, eine spezifische Satzstruktur geht – Aspekte des künstlerischen Handwerks also, die einen Individualstil charakterisieren können. Die Handschrift eines Künstlers ist – wie im Fall Miyazakis – klar erkennbar, aber schwer zu beschreiben, was den eigentumsrechtlichen Einspruch gegen die digitale Enteignung ausgesprochen schwierig macht.
ChatGPT weiß das auch und verweigert störrisch die Produktion von identifizierbaren Figuren aus dem Ghibli-Universum. Einen Totoro will das Programm zum Beispiel nicht erstellen. Wenn man aber nach einem »süßen Tier« fragt, wird eine Figur erstellt, die Totoro verdächtig ähnlich sieht. Auf die Rückfrage, ob das denn erlaubt sei, gibt das Programm zu, dass es urheberrechtlich geschützte Figuren nicht vervielfältigen darf, allerdings: »Ich kann etwas schaffen, das von der Ghibli-Ästhetik inspiriert ist, mit originellen, Totoro-ähnlichen Kreaturen. Wenn Sie ein niedliches, flauschiges Tier mit einem ähnlich skurrilen Vibe möchten, lassen Sie es mich einfach wissen!«
In dieser Antwort kommt die Schwäche einer Werkherrschaft zum Ausdruck, die in Bezug auf konkrete Figuren gesichert erscheint, gegen eine Aneignung durch Ähnlichkeit aber mehr oder weniger hilflos ist. Ein »Vibe« ist schwer fassbar und lässt sich kaum urheberrechtlich einfangen. Kulturgeschichtlich wurde diese Hilflosigkeit durch die Vorstellung legitimiert, dass eine eigentumsrechtliche Flexibilität in Bezug auf einen Stil kreative Entwicklungen überhaupt erst möglich macht. Künstler lernen von anderen Künstlern, adaptieren deren ästhetische Strategien und entwickeln sie weiter. Die Geschichte der Kunst wäre kaum vorstellbar, wenn diese Prozesse durch eine rigide Werkherrschaft eingeschränkt worden wären. Vor allem die Geschichte der Populärkultur beruht auf der ständigen Wiederholung beliebter ästhetischer Muster, die gerade so vermeidet, urheberrechtlich problematisch zu sein.
Wer früher einen Stil nachmachte, sich inspirieren ließ, lernen und adaptieren wollte, der musste allerdings zumindest selbst zeichnen können. Konflikte über eine mögliche ästhetische Enteignung gab es natürlich auch in solchen Fällen, aber das Konfliktpotenzial wurde durch die Tatsache gedrosselt, dass nur wenige über die Produktionsmittel dieser Enteignung verfügten. Mit der Vergesellschaftung ästhetischer Produktionsmittel durch KI fallen die Barrieren der Könnerschaft. Die Zugänglichkeit von Kunst erreicht so tatsächlich eine neue Qualität.
Die Vergemeinschaftung einer Ästhetik bedroht den Wert dieser Ästhetik, der ja durch eine gewisse Verknappung erzeugt wird, unmittelbar. Gleichzeitig kann man auch argumentieren, dass diese Vergemeinschaftung ihre Popularität auch erhöhen kann. Für die Werkherrschaft des Produzenten verbinden sich damit allerdings Unwägbarkeiten, die bis zu einem katastrophalen Kontrollverlust führen können.
Unter den zahllosen Bildern, die im Stil der Ghibli-Filme generiert wurden, fielen eine Reihe von Schöpfungen besonders auf, die bei vielen Beobachtern unmittelbares Entsetzen erzeugten. Nicht nur nutzen Vertreter der rechtsradikalen Identitären Bewegung die Technik, um ihre Bewegung zu ästhetisieren, der Account des Weißen Hauses ghiblifizierte sogar die Deportation einer angeblichen Drogenhändlerin, die im Stil Miyazakis weinend in Handschellen gelegt wurde. Roland Meyer hat in einem Essay gezeigt, wie sich in der Expansion von KI reaktionäre Politik und rabiates Unternehmertum vereinen: »Es sind Bildwelten der Rücksichtslosigkeit, in denen neokoloniale Expansionsträume, pseudohistorisch bemäntelte Machtphantasien, ein entfesselter Datenextraktivismus und die zynische Glorifizierung staatlicher Gewalt ihren gemeinsamen Ausdruck finden.«14
Man hat den Eindruck, dass die Transgressionsstrategie nicht nur auf die Verwendung eines erkennbaren Stils abzielt, sondern vor allem auf das Entsetzen, das diese Verwendung auszulösen vermag. Es handelt sich also weniger um einen Fall der Selbstverharmlosung – die Verwendung einer liebenswerten Ästhetik, um eine gewaltvolle Ideologie weniger erschreckend aussehen zu lassen –, sondern um eine offene Provokation, der es gerade darum geht, die gewaltsame Okkupation dieser Ästhetik auszustellen. »Seht her«, sagen diese Bilder, »was wir mit Eurem geliebten Studio Ghibli machen können.«
Der Fall zeigt, welche Folgen die ungeordnete Vergemeinschaftung einer Ästhetik haben kann. Die Entmachtung, die mit dieser Form der Aneignung einhergeht, droht einen Stil dermaßen zu kontaminieren, dass er am Ende zerstört wird. Werkherrschaft als Souveränität des Autors schützt nicht nur die Deutungsmacht des Urhebers, sondern auch die Ästhetik selbst, die vor Missbrauch bewahrt wird. Diese Souveränität legitimiert sich allerdings nicht durch die besondere Menschlichkeit des Autors, in deren Beschwörung nur die Versatzstücke eines raunenden Geniemythos reproduziert werden, sondern durch die Integrität seiner Vision. Im Fall Miyazakis ist das die besondere Humanität der Figuren, die ihre Ressentiments und emotionalen Wunden überwinden müssen, um für eine Gemeinschaft einzustehen, die in den Filmen oft als versehrte Ersatzfamilie erscheint. Dem Stil, in dem diese Geschichten erzählt werden, wird man nicht gerecht, wenn man daraus eine universale Ausdrucksform von »süß« und »flauschig« macht. Und man verhöhnt diese Ästhetik, wenn man sie für menschenfeindliche Politik instrumentalisiert.
Werkherrschaft schützt allerdings nicht nur die Integrität einer ästhetischen Vision vor Verwässerung und Missbrauch, sondern auch die finanzielle Infrastruktur, auf der diese Vision beruht. Der Fall der Ghiblifizierung ist nur ein besonders sichtbares Beispiel für den spektakulären Raub ästhetischen Eigentums, der sich gerade vollzieht, indem die Werke unzähliger Künstler den Maschinen als Trainingsdaten verfüttert werden. Dieser Angriff auf das Konzept des ästhetischen Eigentums könnte tatsächlich eine existenzielle Gefahr für die Kunst bedeuten; nicht weil Maschinen in das Kunstmachen miteinbezogen werden, sondern weil kunstmachende Menschen ihre bürgerlichen Existenzen verlieren. Respekt vor der Kunst bedeutet nicht Respekt vor einer fetischisierten Menschlichkeit, sondern vor den konkreten Menschen, die diese Werke erschaffen haben und die von irgendetwas leben müssen. Die finanzielle Infrastruktur, die die moderne Kunst möglich gemacht hat, war schon immer ausgesprochen instabil – jetzt droht sie endgültig wegzubrechen. Ob viele Menschen mit der Ghibli-Ästhetik spielen können sollten, bleibt eine komplexe ethische Frage. Klar ist, dass es diese Ästhetik gar nicht geben würde, wenn ihre Schöpfer nicht bezahlt worden wären.
Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn: Fink 2014.
Jenny G. Zhang, Hayao Miyazaki Would Hate You Fucking Losers. In: Slate vom 28. März 2025 (slate.com/life/2025/03/studio-ghibli-style-ai-chatgpt-openai-generator-prompt-hayao-miyazaki.html).
Dazu gehören etwa die Beiträge zu Autorschaft und Künstliche Intelligenz (Hannes Bajohr), KI-Kunst: Künstlertum – Schöpfung – Originalität (Juliane Blank), Künstliche Intelligenz und Kreativität (Stephanie Catani) oder Urheberschaft und Künstliche Intelligenz (Fabian Schmieder). Alle in: Stephanie Catani (Hrsg.), Handbuch Künstliche Intelligenz und die Künste. Berlin: de Gruyter 2024. Vgl. auch die Besprechung dieses Bands von Bernhard J. Dotzler, Künstliche Künstliche Intelligenz. In: Merkur, Nr. 909, Februar 2025.
Antonius Weixler, Authentizität und KI. In: Catani (Hrsg.), Handbuch Künstliche Intelligenz und die Künste.
Niels Penke, Bedrohungsszenarien und routinierte Praktiken: Anonymität und Autorschaft in der »literarischen Fabrik«. In: Publications of the English Goethe Society, Nr. 88/3, 2019.
Thomas Hecken, Das Populäre als Kunst? Fragen der Form, Werturteile, Begriffe und Begründungen. Berlin: Metzler 2024.
Johannes Franzen, Erleben legitimiert Erzählen. Zum Problem individueller und kultureller narrativer Enteignung in fiktionalen Werken. In: Mathis Lessau /Nora Zügel (Hrsg.), Rückkehr des Erlebnisses in die Geisteswissenschaften? Philosophische und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Baden-Baden: Ergon 2019.
Tom McAllister, I Teach Memoir Writing. Don’t Outsource Your Life Story to A.I. In: New York Times vom 23. März 2025 (nytimes.com/2025/03/23/opinion/ai-outsource-writing-memoir.html).
Zit. n. www.rollingstone.com/culture/culture-news/miyazaki-chatgpt-ai-slop-1235305906/
x.com/KrishRShah/status/1904786452170342466
Matthias Schaffrick, Autorsubjekt und Werkherrschaft. In: Michael Wetzel (Hrsg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft: Autorschaft. Berlin: de Gruyter 2022.
Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. In: Martin Seeliger/Sebastian Sevignani (Hrsg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Baden-Baden: Nomos 2021 (Leviathan, Sonderband 37).
Roland Meyer, Die Ästhetik des digitalen Faschismus. In: FAS vom 27. April 2025.