THEO VAN GOGH INSIDE REPORT: ZELENSKYS FORCIERTE NATOISIERUNG!

NATO-Beitritt der Ukraine : Der Sonderweg des Kanzlers

Von Majid Sattar, Konrad Schuller, Michaela Wiegel    FAZ  26.10.2024, 10:02Lesezeit: 7 Min.

Olaf Scholz und Joe Biden waren sich einig: Die Ukraine soll erst mal nicht in die NATO. Jetzt gibt es Bewegung in Amerika, und um den Bundeskanzler könnte es einsam werden.

Führende Politiker aus den größten Ländern der NATO diskutieren gerade kontrovers, ob das Bündnis die Ukraine bald zum Beitritt einladen sollte. Wie die F.A.S. aus französischen, amerikanischen und ukrainischen Quellen erfuhr, tendieren Paris und London zu einem solchen Schritt. Auch in Washington, wo Präsident Joe Biden bisher dagegen war, nehmen Kenner aus internationalen Regierungskreisen und Instituten eine vorsichtige Öffnung wahr. Berlin ist weiter dagegen.

Diplomatischen Quellen in Paris zufolge sind diese Unterschiede zuletzt beim Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz, den Präsidenten Amerikas und Frankreichs, Biden und Emmanuel Macron, sowie dem britischen Premierminister Keir Starmer in Berlin sichtbar geworden. Wie die F.A.S. erfuhr, hat Paris dort den Eindruck gewonnen, dass Amerika sich auf eine schnelle Beitrittseinladung an die Ukraine zubewegen könnte, falls die demokratische Kandidatin Kamala Harris die Präsidentenwahl im November gewinnt. Macron dringe schon länger auf einen solchen Schritt, Scholz habe sich aber auf ein Nein festgelegt.

Auch aus Washington ist zu hören, dass diese unterschiedlichen Ansätze in der „Quad“ aus Amerika, Britannien, Deutschland und Frankreich beim Treffen der Gruppe am 18. Oktober zutage getreten seien. Offenbar hatte der ukra­inische Präsident Wolodymyr Selenskyj zuvor in Amerika zu erkennen gegeben, dass er im Gegenzug für territoriale Zugeständnisse der Ukraine an Russland mehr bekommen müsse als vage Sicherheitsgarantien – nämlich die Vollmitgliedschaft in der NATO. Diese Forderung ist auch Punkt eins des Siegesplans, den er unlängst vorgestellt hat.

Nachdenken im Weißen Haus

In Washington heißt es, Biden, aber auch Macron und Starmer hätten in Berlin signalisiert, dass sie sich für die Idee erwärmen könnten. Washington ist demnach zwar noch weit von einer Zusage entfernt, doch gibt es im Weißen Haus eine Offenheit dem Gedanken gegenüber. Biden war bis vor Kurzem noch auf einer Linie mit Scholz. Noch im Juni hatte er in einem Interview mit dem „Time Magazine“ zwar einerseits gesagt, Frieden müsse bedeuten, dass Russland die Ukraine „nie, nie, nie“ besetze. Das heiße aber nicht, dass das Land „Teil der NATO“ werden müsse. Biden ging damals so weit zu sagen: „Ich bin nicht bereit, die Natoisierung der Ukraine zu unterstützen.“

Das entspricht einerseits der Linie des deutschen Kanzlers. Es gibt Grund zur Annahme, dass Scholz nicht durch eine Einladung an die Ukraine Tatsachen schaffen möchte, die eine spätere Einigung mit Russland erschweren könnten. Er möchte wohl auch vermeiden, dass die NATO durch Versprechen, die dann nicht eingelöst werden, an Glaubwürdigkeit verliert. Andererseits gab es aber auch immer schon Unterschiede zwischen Kanzleramt und Weißem Haus. Biden scheut sich nicht auszusprechen, er wolle, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Scholz ist hier zurückhaltender und spricht nur davon, dass er einen Sieg Russlands verhindern wolle.

Experten mit guten Kontakten zu den Führungen in Kiew und Washington bestätigen die vorsichtige Öffnung in Amerika. Einer davon ist Benjamin Tallis, Direktor der Democratic Strategy Initiative und Autor mehrerer Publikationen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Tallis berichtet, nach dem letzten Besuch Selenskyjs in Amerika hätten dessen Begleiter ebenso wie Experten in Washington ihm gesagt, es gebe nun „Raum für eine Bewegung in Richtung auf eine NATO-Einladung für die Ukra­ine“. Wenn das geschehe, würden die Vereinigten Staaten auch andere Länder drängen, sich in diese Richtung zu bewegen.

Kiew: Ohne Garantien kein Kompromiss

Ein ukrainischer Gewährsmann bestätigte das der F.A.S.: Die Amerikaner hätten verstanden, dass ein Kompromiss zur Beendigung der Kämpfe nur möglich sei, wenn die Ukraine Sicherheitsgarantien bekomme, die sie vor einem neuen russischen Angriff schützen. Allerdings gebe es auch Einschränkungen. Manche Ukra­iner beobachten, dass in der amerikanischen Regierung überlegt werde, „das Verständnis vom Begriff einer Einladung neu zu definieren“. Was jetzt in Amerika erwogen werde, müsse nicht einer „Einladung im üblichen Sinn“ gleichkommen. „Die Wortwahl könnte verändert werden, so dass der Inhalt mehr eine politische Erklärung wäre als eine echte Einladung. Wir wissen noch nicht, wie das aussehen könnte.“ Und natürlich seien alle Überlegungen hinfällig, falls Donald Trump Präsident werde.

Ukrainische Kenner der Materie sehen auch, dass Bidens Einfluss mit jedem Tag, an dem das Ende seiner Amtszeit näher rückt, geringer wird. „Amerikanische Diplomaten wissen, dass Bidens schwindendes politisches Kapital ein Problem ist“, heißt es. „Das macht es ihm schwer, Verbündete in Bewegung zu setzen, die mit einer Einladung an die Ukra­ine zögern.“ Deutschland sei hier der schwierigste Partner – noch schwieriger als Ungarn oder die Türkei.

Aber nicht nur in Amerika sind die Dinge in Fluss geraten, sondern offenbar auch in der Ukraine. Präsident Selenskyj scheint erkannt zu haben, dass die westlichen Verbündeten seinem Land möglicherweise nicht genug Hilfe geben werden, um alle Gebiete zurückzuerobern, die Russland seit dem ersten Einmarsch im Jahr 2014 und dann noch einmal nach 2022 völkerrechtswidrig erobert hat. Deshalb deutet sich schon seit einiger Zeit an, dass Kiew bereit sein könnte, im Austausch gegen einen Beitritt zur NATO territoriale Kompromisse einzugehen. Dabei bleibt dann immer die Möglichkeit offen, dass Zugeständnisse zeitlich begrenzt wären oder dass ein vorläufiger De-facto-Verzicht an der grundsätzlichen völkerrechtlichen Forderung nach einem vollständigen Abzug Russlands nichts ändern würde.

Das Modell Deutschland

Solche Überlegungen wurden spätestens im Sommer 2023 publik, als Selenskyjs Kanzleichef Andrij Jermak zusammen mit seinem engen Berater, dem früheren NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, das Beispiel Deutschlands und der deutschen Teilung ins Gespräch brachte. Rasmussen sagte damals in einer Presserunde zusammen mit Jermak, Deutschland sei nach der Teilung infolge des Zweiten Weltkriegs auch nur mit seinem westlichen Teil in die NATO integriert worden. „Das könnte man im Fall der Ukraine genauso machen.“ Man könne beschließen, den Beistandsartikel des NATO-Vertrags „nur auf Gebiete anzuwenden, die unter der Kontrolle der Kiewer Regierung stehen“. Das könne zwar kompliziert werden, weil sich die Front im Krieg ständig verschiebe, aber in detaillierten Verhandlungen sei das Problem lösbar. Mit dieser letzten Bemerkung reagierte Rasmussen seinerzeit auf die Frage, ob die NATO bei so einem Arrangement nicht am Ende unweigerlich in den Krieg hineingezogen werde.

Auch Präsident Selenskyj hat im Laufe der Zeit immer wieder Dinge gesagt, die als Öffnung für territoriale Kompromisse gedeutet werden können. Im August 2023 sagte er zum Beispiel einem ukra­inischen Fernsehsender, wenn sein Land genug militärischen Druck aufbaue, könne man die „Demilitarisierung Russlands auf der ukrainischen Krim“ auch „politisch“ erreichen. An dieser Formulierung fiel auf, dass er nur von „Demilitarisierung“ sprach und nicht von „Abzug“. Ukrainische Regierungsvertreter bestritten damals allerdings, dass der Präsident damit die Forderung nach vollständiger Wiederherstellung der territorialen Integrität aufgegeben habe.

Auch ein Interview mit der britischen BBC im Juli 2024 ließ aufhorchen. Selenskyj stellte darin fest, eine Schwächung Russlands auf dem Schlachtfeld werde zwar die Verhandlungsposition der Ukraine verbessern, aber am Ende heiße das nicht, „dass alle Territorien mit Gewalt zurückgewonnen werden“. Hier könne „die Kraft der Diplomatie“ helfen. „Wenn wir Russland unter Druck setzen, können wir, glaube ich, einer diplomatischen Lösung zustimmen.“

Selenskyj hofft auf Amerika

Was das für die Gegenwart heißen könnte, haben ukrainische Kenner der Lage jetzt der F.A.S. beschrieben. Selenskyj, sagen sie, hoffe auf einen amerikanischen Vorschlag in dem Sinne, dass die Ukraine mit den Gebieten, die sie gerade kontrolliert, unter den Schutz des NATO-Artikels fünf gestellt wird, vielleicht mit einer „Pufferzone“ von etwa 50 Kilometern bis zur Front. Kiew würde dann erklären, dass es nicht versuchen werde, den besetzten Rest mit Gewalt zurückzuerobern.

Die Ukrainer, heißt es, wollen so einen Plan aber nicht selbst vorlegen und wünschen sich deshalb, dass Amerika die Initiative ergreift. Der Grund für ihr Zögern ist die Sorge vor heimischen Protesten gegen Gebietsabtretungen. Außerdem fürchten die Ukra­iner wohl, dass Friedenssignale von ihrer Seite von manchen Verbündeten als Vorwand genutzt werden könnten, weniger Waffen zu liefern. Im Westen könnte man dann fragen: Warum sollen wir ein Land bewaffnen, das ohnehin bereit ist, Frieden zu schließen?

Ukrainer mit Kenntnis der Verhandlungen nehmen aber wahr, dass Amerika den erwünschten Vorschlag von sich aus nicht macht. Ihre Deutung: Das Weiße Haus ist der Ansicht, dass so eine Initiative von Kiew kommen muss, womit die Verantwortung dann bei Selenskyj läge.

Die Gründe für diese Washingtoner Haltung sind plausibel: Für Amerika (und Deutschland) wäre es tatsächlich schwierig, von sich aus einen Kompromiss im Sinne von „Land gegen NATO-Einladung“ vorzubringen, weil sie seit Jahr und Tag das Mantra „nichts über die Ukraine ohne die Ukraine“ vor sich hertragen. Wenn jemand im Westen von sich aus territoriale Konzessionen vorschlagen würde, könnte das in der Ukra­ine zu einer Dolchstoßlegende führen: Wer immer dort in Zukunft einen möglichen Waffenstillstand infrage stellen wollte, könnte dann sagen, der Verzicht sei dem Land vom Westen aufgezwungen worden.

Pokerface am Verhandlungstisch

In Berichten über die Kontakte zwischen Ukrainern und Amerikanern ist deshalb von einem gewissen „Pokerface“ die Rede – einer etwas lauernden Haltung, in der jede Seite von der anderen den ersten Schritt erwartet. Außerdem scheint es ein sehr konkretes Kommunikationsproblem zu geben: Selenskyj und seine rechte Hand, Kanzleichef Jermak, sprechen in Verhandlungen mit Amerikanern oft Englisch, statt Dolmetschern Zeit zum Übersetzen zu geben. Allerdings ist Selenskyjs Englisch nur mäßig und das von Jermak ausgesprochen schlecht. Die Amerikaner, so heißt es, sind sich deshalb im direkten Kontakt mit den beiden führenden Politikern der Ukra­ine oft nicht sicher, ob sie diese richtig verstehen. Ebenso wenig können sie ermessen, ob das, was sie selbst erläutern, korrekt zur Kenntnis genommen wird.

Trotz dieser Schwierigkeiten arbeitet nach ukrainischen Angaben eine Gruppe von amerikanischen Beamten im Nationalen Sicherheitsrat gerade an Wegen, wie eine NATO-Einladung an die Ukra­ine möglich gemacht werden könnte. Angeblich ist das Sprachproblem mittlerweile weniger schwerwiegend, weil auf ukrainischer Seite die stellvertretende Ministerpräsidentin Olha Stefanyschina zusammen mit Generalstabschef Anatolij Barhylewytsch die Detailverhandlungen übernommen hat. Und Stefanyschinas Englisch ist gut.

In den Gesprächen, die jetzt geführt werden, geht es auch um die Frage, ob die Verbündeten den ukrainischen Streitkräften erlauben sollen, weitreichende westliche Waffen gegen Ziele in Russland einzusetzen. Diese Bitte taucht gleich in Punkt zwei des ukrainischen Siegesplans auf, aber bisher haben vor allem Deutschland und Amerika das abgelehnt. Frankreich und Großbritannien dagegen neigen zu einem Ja.

Aus Paris verlautet jetzt allerdings, man nehme eine Annäherung zwischen Frankreich und Amerika wahr. Wenn Harris die Präsidentenwahl gewinne, könne sie die Bereitschaft zu so einer Erlaubnis aussprechen. Auch ukrainische Insider glauben zu erkennen, dass das Weiße Haus sich hier bewegt und in der Abwägung die Argumente „Pro“ langsam die Gründe „Kontra“ überwiegen. Nach dieser Darstellung stünde dann Berlin auch in dieser Frage allein. Die Bundesregierung wollte sich der F.A.S. gegenüber nicht öffentlich dazu äußern.