THEO VAN GOGH: BAERBOCKIANA = „AM DEUTSCHEN WESEN SOLL DIE WELT GENESEN!“ – Baerbocks Diplomaten haben die Lizenz zum Anecken
Von Jochen Buchsteiner FAZ 18.10.2024,
Deutschlands Diplomaten sollen kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Manche halten sich dabei ans Beispiel ihrer Ministerin: Sie belehren andere.
Traditionell orientierte sich die Diplomatie, auch die deutsche, an Leitsätzen legendärer Vertreter ihres Fachs. „Listen, not talk“, empfahl der 1. Earl of Malmesbury dem Diplomatennachwuchs. Talleyrand, der Frankreich auf dem Wiener Kongress vertrat, formulierte ungefähr zur selben Zeit die Maxime: „Diplomaten regen sich nicht auf; sie machen Notizen.“ Unbedingt zu vermeiden sei Übereifer.
Schon seit geraumer Zeit sieht sich diese Kultur diplomatischer Zurückhaltung herausgefordert, aber spätestens seit dem Amtsantritt Annalena Baerbocks wird sie auf den Kopf gestellt: Hinterzimmer-Diplomatie soll Transparenz weichen, Reden steht höher im Kurs als Zuhören. „Wir wollen, dass unsere Botschafter an ihren Standorten zu öffentlichen Personen werden“, heißt es heute im Auswärtigen Amt.
Das sind sie geworden; jedenfalls einige. Philipp Ackermann, seit zwei Jahren Botschafter in Indien, berichtet, wie ihn kürzlich ein Inder bei einem Tempelbesuch ergriffen mit den Worten ansprach: „Ich habe gerade mit meinem Sohn gewettet, ob Sie es wirklich sind!“
„Public Diplomacy“ in ihrer freundlichen Form: Philipp Ackermann, Botschafter in Indien, tanzt in einer Kurta zum indischen Schlager „Naatu Naatu“.
Ackermann ist den Indern aus vielen Social-Media-Videos bekannt, weniger als Vertreter deutscher Interessen, sondern als Bewunderer indischen Essens und indischer Kultur – oder als Tänzer in Landestracht, ein Auftritt, der sogar vom indischen Ministerpräsidenten bemerkt wurde.
Für die politischen Botschaften bedient sich Ackermann allerdings lieber konservativer Formate. Allein in den vergangenen zwölf Monaten gab er indischen Medien mehr als 50 Interviews.
Seibert und der „place to be“
Die Formen der „Public Diplomacy“, also der auf öffentliche Wirkung zielenden Diplomatie, sind so unterschiedlich wie die Diplomaten selbst. In Israel inszeniert sich der Botschafter, der frühere Regierungssprecher Steffen Seibert, zuweilen wie ein Reporter.
Einmal ließ er sich auf der Besuchertribüne des israelischen Verfassungsgerichts filmen und sprach vom „place to be“, ein andermal postete er das Foto eines abgeholzten Ölbaums im Westjordanland, um auf Schandtaten „extremistischer Siedler“ aufmerksam zu machen.
In Ungarn wiederum lief die Botschafterin bei einer (gegen die Regierung gerichteten) Pride Parade mit, und in Pakistan organisierte der Botschafter eine Kampagne gegen den Plastikmüll im Land. Letzteres geschah vor sechs Jahren, was anzeigt, dass die Anfänge der Publicity-Offensive schon vor der grünen Übernahme des Auswärtigen Amtes lagen.
Ein Wissenschaftler warnt
Deutschland habe in Sachen Public Diplomacy einigen „Nachholbedarf“ gehabt, sagt Ulrich Schlie, der sich auf dem Kissinger-Lehrstuhl in Bonn auch mit diesem Thema beschäftigt.
Der mögliche Nutzen ist unbestritten: Diplomatie kann wirkungsvoller sein, wenn sie nicht nur Überzeugungsarbeit in den Amtszimmern anderer Regierungen leistet, sondern auch direkt mit der Öffentlichkeit in Kontakt tritt und so Verständnis, manchmal auch Druck erzeugt.
Zudem erzwingt die Welt der sozialen Medien neue Betätigungsformen. Versäumnisse vergangener Jahre, in denen etwa die Briten schon recht erfolgreich mit Public Diplomacy experimentierten, dürften allerdings nicht dazu führen, „dass man es jetzt übertreibt“, warnt Schlie.
Unter Baerbock wurde die Leine für die Botschafter nicht nur gelockert. Die Auslandsvertreter sind geradezu aufgerufen, Wirbel zu machen. Erteilt wurde ihnen die Lizenz zum Anecken.
„Wir brauchen Leute da draußen, die Deutschland erklären und verteidigen“, sagt Ralf Beste, der als Leiter der Kulturabteilung so etwas wie der Spiritus Rector des Konzepts ist. „Nur öffentliche Personen können das glaubwürdig tun.“
Dabei werden die Spielräume für die Diplomaten weit gesteckt und, wie es im Amt heißt, nur von der sogenannten Obama-Regel begrenzt: „Don’t do stupid shit.“ Mit anderen Worten: Alles ist erlaubt, solange kein dummes Zeug dabei herauskommt.
Budapest fordert Respekt ein
Aber wo genau verläuft diese Grenze? Und wo schlägt dummes Zeug in politischen Schaden um? In Budapest nutzte die Botschafterin Julia Gross ihre diesjährige Rede zum Tag der Deutschen Einheit, um sich an die „ungarischen Wähler und Wählerinnen“ zu wenden. Diese würden sich angesichts der Politik Viktor Orbáns vermutlich immer häufiger fragen: Wieso dient das meinen Interessen, inwiefern macht das mein Leben als Ungar besser?, sagte sie vor geladenen Gästen.
Viel deutlicher konnte Gross kaum Stellung für die Opposition beziehen, weshalb die Regierung in Budapest eine „Einmischung in innere Angelegenheiten“ kritisierte, von der Botschafterin „Respekt“ einforderte und sie ins Außenministerium einbestellte.
Lizenz zum Anecken: Deutschlands Botschafterin in Ungarn, Julia Gross, nimmt im Juli 2023 an einer regierungskritischen „Pride“-Parade teil.Picture Alliance
Für Schlie ist mit Fällen wie diesen die Grenze sinnvoller öffentlicher Diplomatie überschritten. Sie dürfe keinesfalls dazu führen, „sich Zugänge zu verbauen und so die eigene Arbeit zu erschweren“.
Eben dies geschieht aber immer wieder, was nicht nur Oppositionspolitiker den Verdacht äußern lässt, dass dies von der Ministeriumsführung als lässlicher Preis für eine öffentliche politische Positionierung betrachtet wird, von der man sich Punkte bei der deutschen Wählerschaft verspricht.
Eine Spitze gegen Trump
Nicht nur Botschafter legen sich inzwischen öffentlich mit politisch missliebigen Politikern an, ob mit Orbán in Ungarn oder mit Vertretern der PiS in Polen. Baerbocks eigenes Pressereferat stieg unlängst in den Social-Media-Kampf gegen Donald Trump ein.
Im September hatte der amerikanische Präsidentschaftskandidat in einem Fernsehduell mit Kamala Harris die deutsche Energiepolitik als schlechtes Beispiel zitiert, was das Auswärtige Amt nicht unwidersprochen lassen wollte. Als P.S. fügte es seinem Post an, dass Deutsche übrigens auch keine Katzen und Hunde essen – eine spöttische Anspielung auf Trumps Behauptung, Migranten würden in Springfield/Ohio die Haustiere der Einwohner verspeisen.
Begründet wird der Post mit dem legitimen Ziel, öffentlich geäußerte Halbwahrheiten rasch zu korrigieren. Aber gehörte Trumps Verweis, dass Deutschland wegen seiner Energiewende mehr Kohlekraft benötigte, wirklich in die Kategorie hart zu dementierender Fake News?
Die Frage stellt sich umso mehr, als das Auswärtige Amt in seiner Antwort seinerseits eine Halbwahrheit verbreitete: dass nämlich inzwischen die Hälfte des deutschen Energiesystems mit Erneuerbaren bestritten werde. Tatsächlich betrifft dieser Erfolg nur die deutsche Stromversorgung, was denn auch rasch vom Wirtschaftsministerium korrigiert wurde.