MESOP MIDEAST WATCH: Abdullah Öcalan – Will Erdogans Bündnis den PKK-Führer freilassen?
Von Friederike Böge, Ankara FAZ 23.10.2024,
Der Parteichef der rechtsextremen MHP löst ein politisches „Erdbeben“ aus. Die Regierung dürfte mit dem Vorstoß zwei Ziele verfolgen.
Erst hatte Devlet Bahçeli, der gewiefte Parteichef der rechtsextremen MHP, die Türken damit überrascht, dass er Abgeordneten der kurdischen DEM-Partei die Hand schüttelte. Jener Partei also, die er regelmäßig als Hort des Terrorismus verunglimpft und deren Verbot er seit Langem fordert. Dann ging der mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan verbündete Bahçeli am Dienstag noch einen Schritt weiter.
Er schlug vor, dass Abdullah Öcalan, der seit 1999 inhaftierte Anführer der PKK, in einer Fraktionssitzung der DEM-Partei im türkischen Parlament die Selbstauflösung seiner Miliz verkünden solle. Bahçeli fügte einschränkend hinzu, „falls die Isolation des Terrorführers aufgehoben wird“.
Im Laufe seiner nunmehr 25 Jahre langen Haft ist Öcalan auf der Gefängnisinsel İmralı über lange Phasen vollkommen von der Außenwelt abgeschirmt worden. In den vergangenen drei Jahren hat er weder Zugang zu seinen Anwälten noch Kontakt zu seiner Familie gehabt.
Die Aufhebung seiner Isolation ist eine zentrale Forderung der DEM-Partei. Noch dazu verwies Bahçeli auf das „Recht auf Hoffnung“. Das bezieht sich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach auch eine lebenslange Haftstrafe nach 25 Jahren überprüft werden müsse – also im Fall von Öcalan in diesem Jahr.
Im politischen Ankara wurden die Äußerungen des MHP-Chefs am Mittwoch als „Erdbeben“ und potentieller „Wendepunkt“ bezeichnet. Seinen Worten wurde auch deshalb so viel Bedeutung zugemessen, weil vielen grundlegenden Kurswechseln in der türkischen Politik Signale aus der MHP vorausgegangen sind. Das gilt für das Referendum über die Einführung des Präsidialsystems 2017, die Neuwahl 2018 und die Abschaffung der Todesstrafe 2004.
Erdoğan nutzt die Partei gern als Stichwortgeber, auch um die Stimmung im ultranationalistischen Lager zu testen, die gerade in der Kurdenfrage entscheidend ist. Auch in diesem Fall kann man davon ausgehen, dass Bahçeli in Absprache mit Erdoğan handelt. Dieser sprach am Mittwoch von einer „historischen Gelegenheit“.
Selbst die DEM-Partei rätselt, was die Führung genau will
Was aber bezweckt die türkische Führung mit dem Vorstoß? Darüber herrscht selbst in der DEM-Partei noch immer Rätselraten. Mehr Klarheit könnte es geben, wenn Öcalan Besuch empfangen und sich so indirekt an die Öffentlichkeit wenden könnte. Am Mittwoch gab es Berichte, wonach Öcalans Neffe, der DEM-Abgeordnete Ömer Öcalan, ein Besuchsrecht erhalten habe. Später wurde dies dementiert.
Viele Beobachter bringen Bahçelis Vorstoß mit zwei Entwicklungen in Verbindung. Zum einen strebt Erdoğan eine Verfassungsänderung an. Sie könnte dem Präsidenten eine weitere Amtszeit ermöglichen. Bisher hat er dafür nicht die nötige Mehrheit im Parlament. Er könnte also versuchen, dafür die Unterstützung der DEM-Partei zu gewinnen.
Zum anderen bereitet sich die Regierung in Ankara auf mögliche regionale Machtverschiebungen nach der amerikanischen Präsidentenwahl und im Zuge des Konflikts zwischen Israel und Iran vor. So könnte etwa ein Wahlsieg Donald Trumps mittelfristig zu einem Abzug der amerikanischen Truppen aus Syrien führen.
Das würde die mit Amerika verbündete kurdische YPG-Miliz schwächen, die nicht nur die Türkei als syrischen Ableger der PKK betrachtet. Eine militärische Eskalation zwischen Israel und Iran würde den Krieg außerdem bis an die Grenze der Türkei tragen – mit potentiell destabilisierenden Folgen. Die türkische Regierung erwarte große Verwerfungen und wolle deshalb Schwachstellen wie den auf niedriger Schwelle weiterschwelenden Konflikt mit der PKK abstellen, meint der Türkei-Forscher und Blogger Selim Koru. „Sie scheinen es eilig zu haben“, sagt er.
Was in Syrien passiert, hat oft Einfluss auf die kurdische Frage
Entwicklungen in Syrien haben schon oft Einfluss auf die kurdische Frage in der Türkei gehabt. Zunächst fungierte Syrien als Rückzugsort der PKK. Kurz nachdem Öcalan von Damaskus ausgewiesen worden war, wurde er 1998 in Kenia festgenommen. Der syrische Bürgerkrieg von 2012 an eröffnete den syrischen Kurden die Möglichkeit, ein eigenes autonomes Gebiet zu verwalten. Viele Kurden in der Türkei sahen darin einen symbolischen Sehnsuchtsort. Ankara besetzte daraufhin militärisch Teile Syriens.
2015 war ein Friedensprozess zwischen der Regierung Erdoğan und der PKK gescheitert. Damals verfügte die Guerilla noch über schlagkräftige Strukturen innerhalb der Türkei, was inzwischen nicht mehr der Fall ist. Auch der politische Arm der Kurdenbewegung hat seit der Inhaftierung des damaligen Parteichefs Selahattin Demirtaş im Jahr 2016 stark an Einfluss verloren. „Jetzt ginge es eher um eine Kapitulation“, sagt Koru. Manche glauben, Erdoğan könnte im „Herbst“ seiner Herrschaft danach trachten, sich mit einer Lösung der Kurdenfrage einen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.