THEO VAN GOGH KLAMOTTE: „ALLE SITZENBLEIBEN!“ ODER: wer betritt den Testgrenzstreifen ? (Oder nichts und niemand) & weshalb Ricarda Lang sitzen blieb und Friedrich Merz erdete !
TV-Kritik: Maybrit Illner : Was Nancy Faeser nicht sagen will – Von Christian Geyer-Hindemith FAZ 13.09.2024
Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser sieht sich bei Maybrit Illner harten Vorwürfen ausgesetzt: Sie habe die Union mit einem falschen Angebot gelockt. Doch deshalb verließ sie nicht gleich das Studio.
Es ist noch mal gut gegangen. Niemand ging raus in dieser Talkshow. Carsten Linnemann, der CDU-Generalsekretär, blieb sitzen, als die Sprache auf die Verhandlungsführer seiner Partei kam und auf Marco Buschmanns Angebot, das Unionsmodell der Zurückweisungen drei Monate lang auf einem bis zu zehn Kilometer langen Grenzstreifen zu testen und abzuwarten, ob die Verwaltungsgerichte eine neue Rechtslage erkennen.
Warum man angesichts dieses Angebots nicht sitzen geblieben sei? Weil der Vorschlag absehbar nicht greifen werde, die Grenzgänger würden einfach andere, ungesicherte Grenzabschnitte wählen, um der Zurückweisung zu entgehen.
Auch Nancy Faeser, die Bundesinnenministerin, blieb bei Illner sitzen, als sie klarstellte, natürlich nicht die Notlage in Deutschland erklären zu wollen, um rechtskonform im Sinne von Linnemanns Vorschlag grenzweite Zurückweisungen als temporäres Experiment zu ermöglichen.
„Sie glauben doch nicht, dass ich sage: Meine Polizei hat die Lage nicht mehr im Griff.“ Das wäre etwas, das den Menschen Angst mache.
Niemand ging raus, aber auch niemand kam wieder rein, einfach vorbeischneiend, der in einer früheren Sendung von Maybrit Illner rausgegangen wäre: „Hallo, da bin ich wieder, was ist denn heute das Thema?“ Aufstehen und Rausgehen – dieses Mittel politischer Motorik kommt in Talkshows dann doch selten zum Zuge, wohl auch in der Einsicht, dass der mediale Effekt des Augenblicks zu nicht mehr, sondern weniger Bildschirmpräsenz führt.
„Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen“
Das gilt kurzfristig – man ist nach Verlassen des Studios einfach erst mal weg vom öffentlichen Fenster, die Sendung geht auch ohne den Rausgeher weiter, der auf seiner Prinzipienreiterei draußen erst mal sitzen bleibt und, frei raus gesagt, selbst nicht weiter stattfindet. Aber es zahlt sich auch à la longue nicht aus, rausgegangen zu sein, weil die TV-Redaktionen mutmaßlich wenig Lust haben, Rausgeher noch einmal einzuladen. Das Gesetz des Wiedersehens ist hier wesentlich auf Sitzenbleiber bei Rotlicht angewiesen.
„Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen“ – dieses Axiom des Politischen wurde lange vor Maybrit Illner von Herbert Wehner formuliert. Der scharfzüngige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion hatte den Satz auf die Unionsfraktion gemünzt, die am 13. März 1975 während Wehners Rede in einer Debatte zur inneren Sicherheit aus Protest den Plenarsaal verließ. Die migrationspolitische Aktualisierung des Wehner-Spruchs lautet, wie gestern im Bundestag zu hören war: Nicht gehen, in sich gehen!
Rechtfertigungsnot als Charakterschwäche
Dass die Frage, wer aus den aktuellen Sitzungen zum Thema Migration aufsteht und wer in solchen Sitzungen sitzen bleibt, dass eine solche Frage der dynamischen Sitzungsordnung die Berichterstattung dominiert, mag unverhältnismäßig wirken. Aber was soll man berichten, wenn die Chronistenpflicht den täglichen Rapport umfasst, dies auch bei Veranstaltungen, wo hinter verschlossenen Türen verhandelt wird? Dann ist es auch schon eine politische Nachricht, wenn die Herstellung weiterer Nachrichten durch physischen Ausstieg aus den Verhandlungen fürs Erste unmöglich gemacht wird. Überhaupt geht es bei politischer Berichterstattung ja sehr gerne darum: fürs Erste. Phasenmomente erscheinen dann wie Erzeugnisse des absoluten Geistes, denen unbedingt eine aus allen Proportionen fallende Aufmerksamkeit zu widmen ist.
Entsprechend spielten Vorhaltungen fürs Protokoll, wer wann die jüngsten Asylverhandlungen verlassen hatte, bei Illners Runde eine zentrale Rolle, wie auch Mitteilungen der Art, dass Türen weiter offen stünden und also an den Verhandlungstisch als dem Forum aller Gutmeinenden wieder zurückgekehrt werden könne, dies jederzeit und schrecklich gerne, so will es die grausame Umarmungstaktik, bei der mal Oppositionsführer Friedrich Merz, mal aber auch die Vertreter der Regierungskoalition in Rechtfertigungsnot und insoweit als charakterlos erschienen.
So wurde Nancy Faeser von der „Zeit“-Journalistin Tina Hildebrandt eine unseriöse Methodik vorgehalten: Die Ministerin sage immer, was keinesfalls gehe, um es dann wenig später doch gehen zu lassen. Das mache argwöhnisch und treibe die Wähler zu Parteien, die versprechen, alles möglich zu machen.
Über sich hinausgewachsen
Faeser redete sich heraus mit der Bemerkung, sie sage immer nur, was „faktisch“ gerade nicht gehe, damit treffe sie aber keine kategorischen Aussagen.
Nein, nein, so Dagmar Rosenfeld, Mitherausgeberin von „The Pioneer“, die Bundesinnenministerin habe auch den vorzeitigen Abgang der Unions-Verhandlungsführer diese Woche auf dem Gewissen, weil sie mit einem „falschen Angebot gelockt“ habe, das sich gar nicht wie gedacht auf Zurückweisungen an Deutschlands Grenzen bezog, sondern im strengen Sinne eines Anker-Zentren-Konzepts tatsächlich nur auf „Aufhaltungen“ (Tina Hildebrandt), durch welche im Übrigen die Verfahren noch nicht schneller würden. Nein, nein, konterte Faeser, „formal“ gesehen seien auch Aufhaltungen Zurückweisungen, nur eben zeitverzögerte. Die Methodik der Rechtfertigung erschien dadurch in der Sache freilich nicht seriöser.
Doch merke: Der gute Charakter redet weiter, der schlechte lässt den Gesprächsfaden reißen. Medial verfängt dieses schräge Narrativ wie auf Kommando. So wird übers Raus- und Reinkommen Politik ganz selbstverständlich zur Charakterfrage, wie das Andreas Audretsch von den Grünen, mit Merz abrechnend, im Bundestag deutlich gemacht hatte:
„Offensichtlich ist Friedrich Merz charakterlich nicht in der Lage, in einem komplexen Umfeld wie Europa zu agieren. Offensichtlich sind Sie nicht der Charakter dafür, mehr Verantwortung zu übernehmen.“
In diese Richtung zielte auch Ricarda Langs Einwand bei Illner, Merz nehme vorsätzlich den Rechtsbruch in Kauf, wenn er seine Vorstellungen von Zurückweisungen an der Grenze als nationales Rechtsexperiment verkaufe. Umgekehrt wurden die Merz-Forderungen in besagter Bundestagssitzung als historische Legitimierung für das AfD-Modell der Migrationspolitik in Anspruch genommen: „Wir haben Recht gehabt!“ (Bernd Baumann).
Hier wurde Merz als AfD-geschulter Master-Charakter hingestellt.
Es blieb der grünen Parteichefin Ricarda Lang überlassen, die Merz-Kritik zu erden, indem sie einerseits auf den Unmut von Nachbarländern wie Polen und Österreich verwies, andererseits sich selbst als Statthalterin Adenauers, Kohls und Merkels ausrief, denen die Merz-CDU kein Asyl mehr biete. Das mochte man auch als Antwort verstehen an die Hunderten von grünen Parteimitgliedern, die in einem offenen Brief an die Parteispitze gegen den eingeschlagenen verschärften Migrationskurs aufstehen.
Bei Illner wuchs, während sie sitzen blieb, Ricarda Lang über sich selbst hinaus.