THEO VAN GOGH LESENSWERTER KOMMENTAR: JENSEITS ALLER SATIRISCHEN MÖGLICHKEITEN – DAS SITTENGEMÄLDE DER AKUELLEN BRD!
Friedrich Merz bei Sat.1 Newstime: Wer, bitte, fragt ihn was zu Nouripour?
Von Christian Geyer-Hindemith FAZ – 20.08.2024, 06:13Lesezeit: 5 Min.
Kaum beschreibt sich die Ampel selbst als Übergangsregierung, gibt Friedrich Merz ihr in einem Interview mit Pro Sieben Sat.1 den Rest – beim Barte von Markus Söder.
Wie wirft man Fragen auf, die sich nicht stellen? Wie lenkt man mit ihnen von den anderen Fragen ab, die sich stellen? Darum geht’s beim politischen, von den sozialen Medien angeleiteten Agenda-Setting. Markus Söders Tanz um des Söders Bart zeigt, was gemeint ist, und lässt zugleich den Atem stocken, wenn Söder von Friedrich Merz attestiert bekommt, neben ihm, Merz, ebenfalls das Zeug zum Kanzlerkandidaten zu haben, zuletzt mit den Worten bei Pro Sieben Sat.1 (wie es dazu gekommen sein könnte, siehe unten): „Also wir haben unterschiedliche Profile, aber ich glaube, wir könnten das beide.“
Sein Bart, ein aus dem Nichts von Söder aufgespieltes Thema, mit dem er auch schon zu Jahresbeginn seine Follower kirre zu machen suchte. „Sommerzeit in Bayern“, postet Söder am Wochenende, abgebildet auf Social Media mit kurz angebundenem Brad-Pitt-Bart unter einer Schirmmütze mit bayerischem Wappen. „Ein Privileg ist es, sich nicht rasieren zu müssen. Gefällt euch der Sommerbart oder lieber glatt rasiert?“
Wen interessiert es?
Prompt überschlagen sich die Meinungen im Netz, Söder hält sie auf Trab und sich selbst für gefragt. Die dritte Option, weder für noch gegen Söders königlichen Sommerbart zu sein, hätten wir früher auf dem Schulhof mit der überlegenen, im Chor gerufenen Spottfrage „Wen denn?“-eingeführt: Wen interessiert es denn, was Söder mit seinem Kinn macht, wen denn? Heute, in den setzungsstarken Social-Media-Zeiten, ist dieser Ausweg so gut wie verbaut. Niemand fragt mehr: Wen denn? Was gesetzt ist (egal was und von wem), erzwingt Beachtung und Befassung.
Dass die Währung Aufmerksamkeit dadurch an Stabilität verlöre, einfach weil sie als solche nun umso erkennbarer leerläuft, Klicks sich auch auf schreiend nichtige Inhalte beziehen – ein solcher etwaiger Sättigungseffekt zeichnet sich nicht ab. Anderenfalls hätte Söder als Kanzlerkandidat sein „Profil“ (Merz) verspielt. Es geht im Zweifel um Wortprotokolle auch von Phasenmomenten statt um synthetisierende Darstellungen. Die Zerstreuungsbereitschaft scheint unbegrenzt, nichts, was nicht followerfähig wäre und so das Gesetz von Angebot und Nachfrage übererfüllt, sobald die Frage „Gefällt euch das?“ auch dort aufgeworfen ist, wo sie sich gar nicht stellt.
Steilvorlage für Merz
Doch wehe, wenn der Medienfluss unterbrochen ist. Dann legt der Dämon des aufgestauten Reaktionsdrucks Hand an, wie er an Friedrich Merz Hand anlegte, als dieser der Steilvorlage gewahr wurde, die ihm Omid Nouripour, Bundesvorsitzender der Grünen, mit seinem Prozessbegriff der „Übergangsregierung“ lieferte, als die er, Nouripour, sich selbst beschrieb – und wiederum er, Merz, aber gerade keinen Sender zur Hand hatte (die Talkshows haben Sommerpause), um diesen Nouripour-Defaitismus als Krankheit zum Tode ausschlachten zu können, und schon begann, sich selbst darob in kierkegaardschen Kategorien der Leere zu verheddern.
Während Söder, zu Leeregefühlen von Haus aus nicht aufgelegt, mit einer anderen Flucht nach vorn schon eine weitere digitale Ansage gemacht hatte: „In der Urlaubszeit darf man auch mal genießen. Süßigkeiten machen das Leben einfach noch schöner. Was nascht ihr am liebsten?“ Um dann Lieblingssüßigkeiten von sich selbst als „Södersnacks“ preiszugeben, Erdbeeren mit Sahne etwa, Waldmeisterbrause, Pistazieneis etc. pp. Wer lebt da eigentlich „in einer anderen Welt“? Kanzler Scholz, der sich alles süß rede, wie Merz meint, als sein Interview schließlich im Kasten war, oder der Kanzlerkandidat aus Bayern, als welcher er von Merz (!) ausgerufen wird („Ich glaube, wir könnten das beide“)?
Interview bei Pro Sieben Sat.1
Wer, bitte, fragt mich was zu Nouripour? Also nicht zu Süßzeug. Merz suchte, so stellt man sich das vor, einen quälend langen Moment hindurch im urlaubenden Parlamentsbetrieb die Fragensteller, und er fand sie in Charlotte Potts und Heiko Paluschka von Pro Sieben Sat.1, die eine Chefreporterin, der andere Politikchef, keinesfalls unbeschriebene Blätter, wie man denken könnte, nur weil die Namen Potts und Paluschka noch nicht so eingebürgert sind wie Maischberger, Illner oder Miosga. Vielleicht war auch sie es, die frische vierte Gewalt von Pro Sieben Sat.1, welche geistesgegenwärtig die Gunst der Stunde ergriff, indem sie Nouripours Wort hörte und dann gleich von sich aus agierte: Da brauchen wir jetzt den Oppositionsführer am Mikro.
Gesagt, getan, wie herum auch immer: Merz kam ins politische Gesprächsformat „Sat.1 Newstime“, sah und sprach. Und jedenfalls war der Dämon vertrieben, das bleiern hervorlugende Leeregefühl („Warum ruft mich grad niemand an?“) wie weggefegt, die zunächst bedrohlich ausgebliebene Resonanz stellte sich vollumfänglich her, es habe „Freude gemacht“, sagte Merz am Ende des Interviews, bei dem er den Deckel auf Nouripours siedenden Topf hatte setzen können. Ohne dass ihm dies persönlich guttäte, betont Merz, der hier als Bürger, nicht als Oppositionsführer wahrgenommen werden wollte, als er sagte: „Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist praktisch nicht mehr regierungsfähig, und das ist für uns alle nicht gut.“ Für Merz lieferte der Grünen-Chef mit seiner depressiven Formel das „Eingeständnis, dass diese Koalition nichts mehr zu sagen hat, keine Einigung mehr erzielt, im Dauerstreit seit zweieinhalb Jahren ist, und jetzt offensichtlich auch das letzte Jahr nichts mehr zuwege bringt“.
So richtig neu schien diese Mitteilung dann doch nicht zu sein. Hätte man die Sendung nicht nutzen können, um die Erträge dieser Regierung weniger pamphletistisch auf den Prüfstand zu stellen?
Den Oppositionshammer sausen lassen
Stattdessen wurde Nouripours rhetorische Wunderlichkeit dann doch nur als Anlass genommen, um den Oppositionshammer sausen zu lassen, nicht aber wurde auf die interessante intrapsychische Situation des Grünen eingegangen, wie es die Situation verlangt hätte, Merz aber offenbar nicht der Rede wert war. Die Frage ist ja: Wie kam dieser grüne Polit-Profi dazu, sich derart geschichtsergeben als Übergangsphänomen zu beschreiben, statt tapfer die Ideologie hochzuhalten? Von welchem Dämon des Historismus war jetzt er befallen? Hatte Nouripour das Sommerinterview als Therapiestunde missverstanden? Meinte er am falschen Ort zur falschen Zeit, sich mal fallen lassen zu sollen?
Auch die Fragesteller von Pro Sieben Sat.1 gingen nicht wirklich auf die Lage Nouripours ein, eines Berufspolitikers von Schrot und Korn immerhin, der es sich mit einem Authentizitätsschub meinte leisten zu können, derart aus der Rolle zu fallen. Sie begriffen nicht die mit diesem Vorgang verbundene Ungeheuerlichkeit. Dagegen sieht Ralf Schuler, ein bewährter Nachrichtenmann alter Schule, der Wahrheit im Agitationssender „Nius“ ins Auge: „Die Grünen im Abseits, heißt das wohl. Aber so weit darf sich ein Polit-Profi niemals seinen Stimmungen hingeben.“
Jawohl, so weit niemals, Herr Nouripour, dass Ihre Äußerungen („Übergangsregierung“) keine 24 Stunden später den Oppositionsführer auf den Plan rufen, damit dieser, Sie und Ihre Gefühligkeit zum Anlass nehmend, noch einmal sagen kann, was Sie selbst doch schon schlechtredeten, als verstehe es sich nicht von selbst: nämlich „dass das Vertrauen an Grenzen gekommen ist“ (Merz). Wohin auch sonst? Anders gesagt: Die Frage, die Nouripour mit seiner Selbsthistorisierung aufwarf, stellte sich doch gar nicht. Sie war doch schon beantwortet, noch bevor Merz ihr bei Potts und Paluschka den Rest gab.