THEO VAN GOGH HISTORY – ERINNERUNG: AUS AKTUELLEM ANLASSE – DIE RAF
Das Konzept Stadtguerilla
NonPolitics / 2024-02-28 / Imperialismus, kampf, RAF, Stadtguerilla / Von Cli Ché
Das Konzept Stadtguerilla – April 1971
Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen! Mao
Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht: Ich bin der Meinung, daß es für uns – sei es für den einzelnen, für eine Partei, eine Armee oder eine Schule – schlecht ist, wenn der Feind nicht gegen uns Front macht – denn in diesem Fall würde es doch bedeuten, daß wir mit dem Feind unter einer Decke steckten. Wenn wir vom Feind bekämpft werden, dann ist das gut; denn es ist ein Beweis, daß wir zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich gezogen haben. Wenn uns der Feind energisch entgegentritt, uns in den schwärzesten Farben malt und gar nichts bei uns gelten läßt, dann ist das noch besser; denn es zeugt davon, daß wir nicht nur zwischen uns und dem Feind eine klare Trennungslinie gezogen haben, sondern daß unsere Arbeit auch glänzende Erfolge gezeitigt hat.
Mao Tse Tung, 26. Mai 1939
- Konkrete Antworten auf konkrete Fragen
»Ich beharre fest darauf, daß jemand, der keine Untersuchung angestellt hat, auch kein Mitspracherecht haben kann.« Mao
Einige Genossen sind in ihrem Urteil über uns schon fertig. Für sie ist es eine
»Demagogie der bürgerlichen Presse«, diese »anarchistische Gruppe« mit der sozialistischen Bewegung überhaupt in Verbindung zu bringen. Indem sie ihn falsch und denunziatorisch benutzen, hebt sich ihr Anarchismusbegriff von dem der Springerpresse nicht ab. Auf einem so miesen Niveau möchten wir uns mit niemandem unterhalten.
Viele Genossen wollen wissen, was wir uns dabei denken. Der Brief an »883« vom Mai 70 war zu allgemein; das Tonband, das Michèle Ray8 hatte, wovon Aus- züge im Spiegel erschienen sind, war ohnehin nicht authentisch und stammte aus dem Zusammenhang privatistischer Diskussion. Die Ray wollte es als Gedächtnis- stütze für einen selbständigen Artikel von sich benutzen. Sie hat uns reingelegt, oder wir haben sie überschätzt. Wäre unsere Praxis so überstürzt wie einige For- mulierungen dort, hätten sie uns schon. Der Spiegel hat der Ray ein Honorar von 1 000 Dollar dafür bezahlt.
Daß fast alles, was die Zeitungen über uns schreiben – und wie sie es schreiben: alles – gelogen ist, ist klar. Entführungspläne mit Willy Brandt9 sollen uns zu politischen Hornochsen stempeln, die Verbindung zwischen einer Kindsentführung und uns zu Verbrechern, die in der Wahl der Mittel skrupellos sind. Das geht bis in die »gesicherten Einzelheiten« in Konkret10, wo allerdings schon die für die Sache belanglosen Details nur zusammengeschludert wurden. Daß es bei uns »Offiziere und Soldaten« gäbe, daß jemand jemandem »hörig« sei, daß jemand »liquidiert« werden sollte, daß Genossen, die sich von uns getrennt haben, noch was von uns zu befürchten hätten, daß wir uns mit der vorgehaltenen Knarre Zutritt zu Wohnungen oder Pässe verschafft hätten, daß »Gruppenterror« ausgeübt wür- de – das alles ist nur Dreck.
Wer sich die illegale Organisation von bewaffnetem Widerstand nach dem Muster von Freikorps und Feme vorstellt, will selbst das Pogrom. Psychische Mechanismen, die solche Projektionen produzieren, sind in Horkheimer/Adornos
»Autoritärer Persönlichkeit« und in Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« im Zusammenhang mit Faschismus analysiert worden. Der revolutionäre Zwangscharakter ist eine contradictio in adjecto – ein Widerspruch, der nicht geht. Eine revolutionäre politische Praxis unter den herrschenden Bedingungen – wenn nicht überhaupt – setzt die permanente Integration von individuellem Charakter und politischer Motivation voraus, d.h. politische Identität. Marxistische Kritik und Selbstkritik hat mit »Selbstbefreiung« nichts, dagegen mit revolutionärer Disziplin sehr viel zu tun. Wer hier »nur Schlagzeilen machen« wollte, waren ganz si- cher nicht einmal irgendwelche »linken Organisationen«, die – anonym – als Verfasser firmieren, sondern Konkret selbst, dessen Herausgeber11 auch sonst als linke Hand von Eduard Zimmermann12 Imagepflege treibt, um diese bestimmte Wichsvorlage in einer bestimmten Marktlücke zu behaupten.
Auch viele Genossen verbreiten Unwahrheiten über uns. Sie machen sich da- mit fett, daß wir bei ihnen gewohnt hätten, daß sie unsere Reise in den Nahen Osten organisiert hätten, daß sie über Kontakte informiert wären, über Wohnun- gen, daß sie was für uns täten, obwohl sie nichts tun. Manche wollen damit nur zeigen, daß sie »in« sind. So hat es Günther Voigt erwischt, der sich gegenüber Dürrenmatt13 zum Baader-Befreier aufgeblasen hatte, was er bereut haben wird, als die Bullen kamen. Das Dementi, auch wenn es der Wahrheit entspricht, ist dann gar nicht so einfach. Manche wollen damit beweisen, daß wir blöde sind, un- zuverlässig, unvorsichtig, durchgeknallt. Damit nehmen sie andere gegen uns ein. In Wirklichkeit schließen sie nur von sich auf uns. Sie konsumieren. Wir haben mit diesen Schwätzern, für die sich der antiimperialistische Kampf beim Kaffee- kränzchen abspielt, nichts zu tun. – Solche, die nicht schwatzen, die einen Begriff von Widerstand haben, denen genug stinkt, um uns eine Chance zu wünschen, die uns unterstützen, weil sie wissen, daß ihr Kram lebenslängliche Integration und Anpassung nicht wert ist, gibt es viele.
Die Wohnung in der Knesebeckstraße 89 (Mahler-Verhaftung)14 ist nicht durch eine Schlamperei von uns hochgegangen, sondern durch Verrat. Der De- nunziant war einer von uns. Dagegen gibt es für die, die das machen, was wir ma- chen, keinen Schutz; dagegen, daß Genossen von den Bullen fertiggemacht wer- den, daß einer den Terror nicht aushalten kann, den das System gegen die entfal- tet, die es tatsächlich bekämpfen. Sie hätten nicht die Macht, wenn sie nicht die Mittel hätten, die Schweine.
Manche geraten durch uns in einen unerträglichen Rechtfertigungsdruck. Um der politischen Auseinandersetzung mit uns auszuweichen, der Infragestellung der eigenen Praxis durch unsere Praxis, werden sogar einfache Fakten verdreht. So wird z.B. immer noch behauptet, Baader hätte nur drei oder neun oder zwölf Mo- nate abzusitzen gehabt, obwohl die richtigen Daten leicht zu ermitteln sind: Drei Jahre für Brandstiftung, sechs Monate von früher auf Bewährung, sechs Monate schätzungsweise für Urkundenfälschung etc. – der Prozeß stand noch bevor. Von diesen 48 Monaten hatte Andreas Baader 14 in zehn hessischen Gefängnissen ab- gesessen – neun Verlegungen wegen schlechter Führung, d.h. Organisierung von Meuterei, Widerstand. Das Kalkül, mit dem die verbleibenden 34 Monate auf drei, neun und zwölf heruntergefeilscht worden sind, hatte den Zweck, der Gefangenen- befreiung vom 14. Mai auch noch den moralischen Wind aus den Segeln zu neh- men. So rationalisieren einige Genossen ihre Angst vor den persönlichen Konse- quenzen, die die politische Auseinandersetzung mit uns für sie haben könnte.
Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewußt hätten, daß ein Linke15 dabei angeschossen wird – sie ist uns oft genug gestellt worden – kann nur mit Nein beantwortet werden. Die Frage: was wäre gewesen, wenn, ist aber vieldeutig – pazifistisch, platonisch, moralisch, un- parteiisch. Wer ernsthaft über Gefangenenbefreiung nachdenkt, stellt sie nicht, sondern sucht sich die Antwort selbst. Mit ihr wollen Leute wissen, ob wir so bru- talisiert sind, wie uns die Springerpresse darstellt, da soll uns der Katechismus ab- gefragt werden. Sie ist ein Versuch, an der Frage der revolutionären Gewalt her- umzufummeln, revolutionäre Gewalt und bürgerliche Gewalt auf einen Nenner zu bringen, was nicht geht. Es gab bei Berücksichtigung aller Möglichkeiten und Umstände keinen Grund für die Annahme, daß ein Ziviler sich noch dazwischen- werfen könnte und würde. Daß die Bullen auf so einen keine Rücksicht nehmen würden, war uns klar. Der Gedanke, man müßte eine Gefangenenbefreiung unbe- waffnet durchführen, ist selbstmörderisch.
Am 14. Mai, ebenso wie in Frankfurt, wo zwei von uns abgehauen sind, als sie verhaftet werden sollten, weil wir uns nicht einfach verhaften lassen – haben die Bullen zuerst geschossen. Die Bullen haben jedesmal gezielte Schüsse abgegeben. Wir haben z.T. überhaupt nicht geschossen, und wenn, dann nicht gezielt. In Ber- lin, in Nürnberg, in Frankfurt.16 Das ist nachweisbar, weil es wahr ist. Wir machen nicht »rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch«. Der Bulle, der sich in dem Widerspruch zwischen sich als »kleinem Mann« und als Kapitalistenknecht, als kleinem Gehaltsempfänger und Vollzugsbeamten des Monopolkapitals befindet, befindet sich nicht im Befehlsnotstand. Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird. Den Bullen, der uns laufen läßt, lassen wir auch laufen.
Es ist richtig, wenn behauptet wird, mit dem immensen Fahndungsaufwand gegen uns sei die ganze sozialistische Linke in der Bundesrepublik und Westberlin gemeint. Weder das bißchen Geld, das wir geklaut haben sollen, noch die paar Au- to- und Dokumentendiebstähle, derentwegen gegen uns ermittelt wird, auch nicht der Mordversuch, den man uns anzuhängen versucht, rechtfertigen für sich den Tanz. Der Schreck ist den Herrschenden in die Knochen gefahren, die schon ge- glaubt hatten, diesen Staat und alle seine Einwohner und Klassen und Wider-
ben. So zimperlich freilich, wie die sich aufführten, so verletzbar ist die Macht- struktur, die sie repräsentieren, nicht. Man sollte sich von ihrem Gezeter nicht da- zu verleiten lassen, selbst große Töne zu spucken.
Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffnete Kampf als »die höchste Form des Marxismus-Leninismus« (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß, daß es oh- ne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.
Wir sagen nicht, daß die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstands- gruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, daß der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Be- trieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, daß das eine die Vor- aussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui17 für einen großen Revo- lutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich.
Unsere Praxis ist kein Jahr alt. Die Zeit ist zu kurz, um schon von Ergebnissen reden zu können. Die große Öffentlichkeit, die uns die Herren Genscher, Zim- mermann & Co18 verschafft haben, läßt es uns aber propagandistisch opportun er- scheinen, schon jetzt einiges zu bedenken zu geben.
»Wenn ihr allerdings wissen wollt, was die Kommunisten denken, dann seht auf ihre Hände und nicht auf ihren Mund« sagt Lenin19.
- Metropole Bundesrepublik
Die Krise entsteht nicht so sehr durch den Stillstand der Entwicklungsmechanismen als vielmehr durch die Entwicklung selbst. Da sie einzig das Anwachsen von Profit zum Ziel hat, speist diese Entwicklung mehr und mehr den Parasitismus und die Vergeudung, be- nachteiligt sie ganze soziale Schichten, produziert sie wachsende Bedürfnisse, die sie nicht befriedigen kann und beschleunigt sie den Zerfall des gesellschaftlichen Lebens. Nur ein monströser Apparat kann die provozierten Spannungen und Revolten durch Meinungs-
sprüche bis in den letzten Winkel im Griff zu haben; die Intellektuellen wieder auf
ihre Zeitschriften reduziert, die Linken wieder in ihre Zirkel eingeschlossen, den Marxismus-Leninismus entwaffnet, den Internationalismus demoralisiert zu ha
ben. So zimperlich freilich, wie die sich aufführten, so verletzbar ist die Macht- struktur, die sie repräsentieren, nicht. Man sollte sich von ihrem Gezeter nicht da- zu verleiten lassen, selbst große Töne zu spucken.
Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffnete Kampf als »die höchste Form des Marxismus-Leninismus« (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß, daß es oh- ne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.
Wir sagen nicht, daß die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstands- gruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, daß der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Be- trieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, daß das eine die Vor- aussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui17 für einen großen Revo- lutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich.
Unsere Praxis ist kein Jahr alt. Die Zeit ist zu kurz, um schon von Ergebnissen reden zu können. Die große Öffentlichkeit, die uns die Herren Genscher, Zim- mermann & Co18 verschafft haben, läßt es uns aber propagandistisch opportun er- scheinen, schon jetzt einiges zu bedenken zu geben.
»Wenn ihr allerdings wissen wollt, was die Kommunisten denken, dann seht auf ihre Hände und nicht auf ihren Mund« sagt Lenin19.
- Metropole Bundesrepublik
Die Krise entsteht nicht so sehr durch den Stillstand der Entwicklungsmechanismen als vielmehr durch die Entwicklung selbst. Da sie einzig das Anwachsen von Profit zum Ziel hat, speist diese Entwicklung mehr und mehr den Parasitismus und die Vergeudung, be- nachteiligt sie ganze soziale Schichten, produziert sie wachsende Bedürfnisse, die sie nicht befriedigen kann und beschleunigt sie den Zerfall des gesellschaftlichen Lebens. Nur ein monströser Apparat kann die provozierten Spannungen und Revolten durch Meinungs
manipulation und offene Repression kontrollieren. Die Rebellion der Studenten und der Negerbewegung in Amerika, die Krise, in die die politische Einheit der amerikanischen Gesellschaft geraten ist, die Ausdehnung der studentischen Kämpfe in Europa, der heftige Wiederbeginn und die neuen Inhalte des Arbeiter und Massenkampfes bis hin zur Explo- sion des »Mai« in Frankreich, zur tumultuarischen Gesellschaftskrise in Italien und zum Wiederaufkommen von Unzufriedenheit in Deutschland, kennzeichnen die Situation.
II Manifesto: Notwendigkeit des Kommunismus, aus These 3320
Die Genossen von Il Manifesto nennen bei dieser Aufzählung die Bundesrepublik zurecht an letzter Stelle und benennen das, was die Situation hier kennzeichnet, nur vage als »Unzufriedenheit«. Die Bundesrepublik, von der Barzel21 vor sechs Jahren noch gesagt hat, sie sei ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg: Ihre ökonomische Stärke ist seither nicht weniger geworden, ihre politi- sche Stärke mehr, nach innen und außen. Mit der Bildung der Großen Koalition 1966 kam man der politischen Gefahr, die aus der damals bevorstehenden Rezes- sion hätte spontan entstehen können, zuvor. Mit den Notstandsgesetzen hat man sich das Instrument geschaffen, das einheitliches Handeln der Herrschenden auch in zukünftigen Krisensituationen sichert – die Einheit zwischen politischer Reak- tion und allen, denen an Legalität noch gelegen sein würde. Der sozial-liberalen Koalition ist es gelungen, die »Unzufriedenheit«, die sich durch Studentenbewe- gung und Außerparlamentarische Bewegung bemerkbar gemacht hatte, weitge- hend zu absorbieren, insofern der Reformismus der Sozialdemokratischen Partei im Bewußtsein ihrer Anhänger noch nicht abgewirtschaftet hat, sie mit ihren Re- formversprechen auch für große Teile der Intelligenz die Aktualität einer kommu- nistischen Alternative aufschieben, dem antikapitalistischen Protest die Schärfe nehmen konnte. Ihre Ostpolitik22 erschließt dem Kapitalismus neue Märkte, be- sorgt den deutschen Beitrag zum Ausgleich und Bündnis zwischen US-Imperialis- mus und Sowjetunion, den die USA brauchen, um freie Hand für ihre Aggressi- onskriege in der Dritten Welt zu haben. Dieser Regierung scheint es auch zu ge- lingen, die Neue Linke von den alten Antifaschisten zu trennen und damit die Neue Linke einmal mehr von ihrer Geschichte, der Geschichte der Arbeiterbewe- gung, zu isolieren. Die DKP23, die ihre Zulassung der neuen Komplizenschaft
US-Imperialismus/Sowjetrevisionismus verdankt, veranstaltet Demonstrationen für die Ostpolitik dieser Regierung; Niemöller – antifaschistische Symbolfigur24 – wirbt für die SPD in bevorstehenden Wahlkämpfen.
Unter dem Vorwand »Gemeinwohl« nahm staatlicher Dirigismus mit Lohn- leitlinien und Konzertierter Aktion25 die Gewerkschaftsbürokratien an die Kanda- re. Die Septemberstreiks ’6926 zeigten, daß man den Bogen zugunsten des Profits überspannt hatte, zeigten in ihrem Verlauf als nur-ökonomische Streiks, wie fest man das Heft in der Hand hat.
Die Tatsache, daß die Bundesrepublik mit ihren annähernd 2 Millionen aus- ländischen Arbeitern in der sich abzeichnenden Rezession eine Arbeitslosigkeit bis zu annähernd 10 Prozent dazu wird benutzen können, den ganzen Terror, den ganzen Disziplinierungsmechanismus, der Arbeitslosigkeit für das Proletariat be- deutet, zu entfalten, ohne die politische Radikalisierung dieser Massen am Hals zu haben, verschafft einen Begriff von der Stärke des Systems.
Durch Entwicklungs- und Militärhilfe an den Aggressionskriegen der USA beteiligt, profitiert die Bundesrepublik von der Ausbeutung der Dritten Welt, oh- ne die Verantwortung für diese Kriege zu haben, ohne sich deswegen mit einer Opposition im Innern streiten zu müssen. Nicht weniger aggressiv als der US-Im- perialismus, ist sie doch weniger angreifbar.
Die politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind hier weder in ihrer re- formistischen noch in ihrer faschistischen Variante erschöpft; seine Fähigkeiten, die von ihm selbst erzeugten Widersprüche zu integrieren oder zu unterdrücken, nicht am Ende.
Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin.
- Studentenrevolte
Aus der Erkenntnis des einheitlichen Charakters des kapitalistischen Herrschaftssystems resultiert, daß es unmöglich ist, die Revolution »in den Hochburgen« von der »in den rückständigen Gebieten« zu trennen. Ohne eine Wiederbelebung der Revolution im We
sten kann nicht mit Sicherheit verhindert werden, daß der Imperialismus durch seine Lo- gik der Gewalt dazu fortgerissen wird, seinen Ausweg in einem katastrophischen Krieg zu suchen, oder daß die Supermächte der Welt ein erdrückendes Joch aufzwingen.
Il Manifesto: aus These 52
Die Studentenbewegung als kleinbürgerliche Revolte abtun, heißt: sie auf die Selbstüberschätzung, die sie begleitete, reduzieren; heißt: ihren Ursprung aus dem konkreten Widerspruch zwischen bürgerlicher Ideologie und bürgerlicher Gesell- schaft leugnen; heißt: mit der Erkenntnis ihrer notwendigen Begrenztheit das theoretische Niveau verleugnen, das ihr antikapitalistischer Protest schon erreicht hatte.
Gewiß war das Pathos übertrieben, mit dem sich die Studenten, die sich ihrer psychischen Verelendung in Wissenschaftsfabriken bewußt geworden waren, mit den ausgebeuteten Völkern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens identifizierten; stellte der Vergleich zwischen der Massenauflage der Bild-Zeitung hier und dem Massenbombardement auf Vietnam eine grobe Vereinfachung dar; war der Ver- gleich zwischen ideologischer Systemkritik hier und bewaffnetem Kampf dort überheblich; war der Glaube, selbst das revolutionäre Subjekt zu sein, soweit er unter Berufung auf Marcuse27 verbreitet war, gegenüber der tatsächlichen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft und den sie begründenden Produktionsverhältnis- sen ignorant.
Es ist das Verdienst der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und West- berlin, ihrer Straßenkämpfe, Brandstiftungen, Anwendung von Gegengewalt, ih- res Pathos, also auch ihrer Übertreibungen und Ignoranz, kurz: ihrer Praxis, den Marxismus-Leninismus im Bewußtsein wenigstens der Intelligenz als diejenige politische Theorie rekonstruiert zu haben, ohne die politische, ökonomische und ideologische Tatsachen und ihre Erscheinungsformen nicht auf den Begriff zu bringen sind, ihr innerer und äußerer Zusammenhang nicht zu beschreiben ist.
Gerade weil die Studentenbewegung von der konkreten Erfahrung des Wider- spruchs zwischen der Ideologie der Freiheit der Wissenschaft und der Realität der dem Zugriff des Monopolkapitals ausgesetzten Universität ausging, weil sie nicht nur ideologisch initiiert war, ging ihr die Puste nicht aus, bis sie dem Zusammen- hang zwischen der Krise der Universität und der Krise des Kapitalismus wenig- stens theoretisch auf den Grund gegangen war. Bis ihnen und ihrer Öffentlichkeit klar war, daß nicht »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, nicht Menschenrechte, nicht UNO-Charta den Inhalt dieser Demokratie ausmachen; daß hier gilt, was für die kolonialistische und imperialistische Ausbeutung Lateinamerikas, Afrikas und Asiens immer gegolten hat: Disziplin, Unterordnung und Brutalität für die Unterdrückten, für die, die sich auf deren Seite stellen, Protest erheben, Wider- stand leisten, den antiimperialistischen Kampf führen.
Ideologiekritisch hat die Studentenbewegung nahezu alle Bereiche staatlicher
Repression als Ausdruck imperialistischer Ausbeutung erfaßt: In der Springerkam- pagne, in den Demonstrationen gegen die amerikanische Aggression in Vietnam, in der Kampagne gegen die Klassenjustiz, in der Bundeswehrkampagne, gegen die Notstandsgesetze, in der Schülerbewegung. Enteignet Springer!, Zerschlagt die Nato!, Kampf dem Konsumterror!, Kampf dem Erziehungsterror!, Kampf dem Mietterror! waren richtige politische Parolen. Sie zielten auf die Aktualisierung der vom Spätkapitalismus selbst erzeugten Widersprüche im Bewußtsein aller Un- terdrückten, zwischen neuen Bedürfnissen und den durch die Entwicklung der Produktivkräfte neuen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung auf der einen Seite und dem Druck irrationaler Subordination als Kehrseite.
Was ihr das Selbstbewußtsein gab, waren nicht entfaltete Klassenkämpfe hier, sondern das Bewußtsein, Teil einer internationalen Bewegung zu sein, es mit dem- selben Klassenfeind hier zu tun zu haben, wie der Vietcong dort, mit demselben Papiertiger, mit denselben Pigs.
Die provinzialistische Abkapselung der alten Linken durchbrochen zu haben, ist das zweite Verdienst der Studentenbewegung: Die Volksfrontstrategie der alten Linken als Ostermarsch, Deutsche Friedensunion, Deutsche Volkszeitung, als irra- tionale Hoffnung auf den »großen Erdrutsch« bei irgendwelchen Wahlen, ihre parlamentarische Fixierung auf Strauß hier, Heinemann da,28 ihre pro- und anti- kommunistische Fixierung auf die DDR, ihre Isolation, ihre Resignation, ihre mo- ralische Zerrissenheit: zu jedem Opfer bereit, zu keiner Praxis fähig zu sein. Der sozialistische Teil der Studentenbewegung nahm, trotz theoretischer Ungenauig- keiten – sein Selbstbewußtsein aus der richtigen Erkenntnis, daß »die revolutionä- re Initiative im Westen auf die Krise des globalen Gleichgewichts und auf das Heranreifen neuer Kräfte in allen Ländern vertrauen kann« (These 55 von Il Ma- nifesto). Sie machten zum Inhalt ihrer Agitation und Propaganda das, worauf sie sich angesichts der deutschen Verhältnisse hauptsächlich berufen konnten: Daß gegenüber der Globalstrategie des Imperialismus die Perspektive nationaler Kämpfe internationalistisch zu sein hat, daß erst die Verbindung nationaler Inhal- te mit internationalen, traditioneller Kampfformen mit internationalistischen re- volutionäre Initiative stabilisieren kann. Sie machten ihre Schwäche zu ihrer Stär- ke, weil sie erkannt hatten, daß nur so erneute Resignation, provinzialistische Ab- kapselung, Reformismus, Volksfrontstrategie, Integration verhindert werden kön- nen – die Sackgassen sozialistischer Politik unter post- und präfaschistischen Be- dingungen, wie sie in der Bundesrepublik und Westberlin bestehen.
Die Linken wußten damals, daß es richtig sein würde, sozialistische Propagan- da im Betrieb mit der tatsächlichen Verhinderung der Auslieferung der Bild-Zei- tung zu verbinden. Daß es richtig wäre, die Propaganda bei den GIs, sich nicht nach Vietnam schicken zu lassen, mit tatsächlichen Angriffen auf Militärflugzeuge für Vietnam zu verbinden, die Bundeswehrkampagne mit tatsächlichen Angriffen auf Nato-Flughäfen. Daß es richtig wäre, die Kritik an der Klassenjustiz mit dem Sprengen von Gefängnismauern zu verbinden, die Kritik am Springerkonzern mit der Entwaffnung seines Werkschutzes, richtig, einen eigenen Sender in Gang zu setzen, die Polizei zu demoralisieren, illegale Wohnungen für Bundeswehrdeser- teure zu haben, für die Agitation bei ausländischen Arbeitern Personalpapiere fäl- schen zu können, durch Betriebssabotage die Produktion von Napalm zu verhin- dern.
Und falsch, seine eigene Propaganda von Angebot und Nachfrage abhängig zu machen: keine Zeitung, wenn die Arbeiter sie noch nicht finanzieren, kein Auto, wenn die »Bewegung« es noch nicht kaufen kann, keinen Sender, weil es keine Li- zenz dafür gibt, keine Sabotage, weil der Kapitalismus davon nicht gleich zusam- menbricht.
Die Studentenbewegung zerfiel, als ihre spezifisch studentischkleinbürgerli- che Organisationsform, das »Antiautoritäre Lager« sich als ungeeignet erwies, ei- ne ihren Zielen angemessene Praxis zu entwickeln, ihre Spontaneität weder ein- fach in die Betriebe zu verlängern war noch in eine funktionsfähige Stadtguerilla, noch in eine sozialistische Massenorganisation. Sie zerfiel, als der Funke der Stu- dentenbewegung – anders als in Italien und Frankreich – nicht zum Steppenbrand entfalteter Klassenkämpfe geworden war. Sie konnte die Ziele und Inhalte des an- tiimperialistischen Kampfes benennen – selbst nicht das revolutionäre Subjekt, konnte sie deren organisatorische Vermittlung nicht leisten.
Die Rote Armee Fraktion leugnet im Unterschied zu den proletarischen Orga- nisationen der Neuen Linken, ihre Vorgeschichte als Geschichte der Studenten- bewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im Klassenkampf re- konstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat.
- Primat der Praxis
Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennen lernen will, muß persönlich am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit, zur Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen teilnehmen, denn nur so kommt er mit der Er- scheinung der betreffenden Dinge in Berührung, und erst durch die persönliche Teilnahme am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit ist er imstande, das Wesen je- nes Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen zu enthüllen und sie zu verstehen.
Aber der Marxismus legt der Theorie darum und nur darum ernste Bedeutung bei, weil sie die Anleitung zum Handeln sein kann. Wenn man über eine richtige Theorie ver
fügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es dann in die Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in die Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein mag, bedeutungslos.
Mao Tse Tung: Über die Praxis
Die Hinwendung der Linken, der Sozialisten, die zugleich die Autoritäten der Studentenbewegung waren, zum Studium des wissenschaftlichen Sozialismus, die Aktualisierung der Kritik der politischen Ökonomie als ihrer Selbstkritik an der Studentenbewegung, war gleichzeitig ihre Rückkehr zu ihren studentischen Schreibtischen. Nach ihrer Papierproduktion zu urteilen, ihren Organisationsmo- dellen29, dem Aufwand, den sie mit und in ihren Erklärungen treiben, könnte man meinen, hier beanspruchten Revolutionäre die Führung in gewaltigen Klas- senkämpfen, als wäre das Jahr 1967/68 das 1905 des Sozialismus in Deutschland. Wenn Lenin 1903 in »Was tun?« das Theoriebedürfnis der russischen Arbeiter hervorhob und gegenüber Anarchisten und Sozialrevolutionären die Notwendig- keit von Klassenanalyse und Organisation und entlarvender Propaganda postulierte, dann, weil massenhafte Klassenkämpfe im Gange waren. »Das ist es ja gerade, daß die Arbeitermassen durch die Niederträchtigkeiten des russischen Lebens sehr stark aufgerüttelt werden, wir verstehen es nur nicht, alle jene Tropfen und Rinnsale der Volkserregung zu sammeln und, wenn man so sagen darf – zu konzentrieren, die aus dem russischen Leben in unermeßlich größerer Menge hervor- quellen, als wir alle es uns vorstellen und glauben, die aber zu einem gewaltigen Strom vereinigt werden müssen.« (Lenin: »Was tun?«)
Wir bezweifeln, ob es unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Bundesre- publik und Westberlin überhaupt schon möglich ist, eine die Arbeiterklasse verei- nigende Strategie zu entwickeln, eine Organisation zu schaffen, die gleichzeitig Ausdruck und Initiator des notwendigen Vereinheitlichungsprozesses sein kann. Wir bezweifeln, daß sich das Bündnis zwischen der sozialistischen Intelligenz und dem Proletariat durch programmatische Erklärungen »schweißen«, durch ihren Anspruch auf proletarische Organisationen erzwingen läßt. Die Tropfen und Rinnsale über die Niederträchtigkeiten des deutschen Lebens sammelt bislang noch der Springer-Konzern und leitet sie neuen Niederträchtigkeiten zu.
Wir behaupten, daß ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische revolu- tionäre Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter und Intellektuel- len, ohne den konkreten antiimperialistischen Kampf es keinen Vereinheitli- chungsprozeß gibt, daß das Bündnis nur in gemeinsamen Kämpfen hergestellt wird oder nicht, in denen der bewußte Teil der Arbeiter und Intellektuellen nicht Regie zu fahren, sondern voranzugehen hat.
In der Papierproduktion der Organisationen erkennen wir ihre Praxis hauptsächlich nur wieder als den Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich
vor einer imaginären Jury, die die Arbeiterklasse nicht sein kann, weil ihre Sprache schon deren Mitsprache ausschließt, den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen. Es ist ihnen peinlicher, bei einem falschen Marx-Zitat ertappt zu werden als bei einer Lüge, wenn von ihrer Praxis die Rede ist. Die Seitenzahlen, die sie in ihren Anmerkungen angeben, stimmen fast immer, die Mitgliederzahlen, die sie für ihre Organisationen angeben, stimmen fast nie. Sie fürchten sich vor dem Vor- wurf der revolutionären Ungeduld mehr als vor ihrer Korrumpierung in bürgerli- chen Berufen, mit Lukács30 langfristig zu promovieren, ist ihnen wichtig, sich von Blanqui kurzfristig agitieren zu lassen, ist ihnen suspekt. Ihrem Internationalismus geben sie in Zensuren Ausdruck, mit denen sie die eine palästinensische Kom- mandoorganisation vor der anderen auszeichnen – weiße Herren, die sich als die wahren Sachwalter des Marxismus aufspielen; sie bringen ihn in den Umgangsfor- men von Mäzenatentum zum Ausdruck, indem sie befreundete Reiche im Namen der Black Panther Partei31 anbetteln und das, was die für ihren Ablaß zu geben be- reit sind, sich selbst beim lieben Gott gutschreiben lassen – nicht den »Sieg im Volkskrieg« im Auge, nur um ihr gutes Gewissen besorgt. Eine revolutionäre In- terventionsmethode ist das nicht.
Mao stellte in seiner »Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft« (1926) den Kampf der Revolution und den Kampf der Konterrevolution einander gegenüber als »das Rote Banner der Revolution, hoch erhoben von der III. Inter- nationale, die alle unterdrückten Klassen in der Welt aufruft, sich um ihr Banner zu scharen; das andere ist das Weiße Banner der Konterrevolution, erhoben vom Völkerbund, der alle Konterrevolutionäre aufruft, sich um sein Banner zu scha- ren.« Mao unterschied die Klassen in der chinesischen Gesellschaft danach, wie sie sich zwischen Rotem und Weißem Banner beim Fortschreiten der Revolution in China entscheiden würden. Es genügte ihm nicht, die ökonomische Lage der verschiedenen Klassen in der chinesischen Gesellschaft zu analysieren. Bestandteil seiner Klassenanalyse war ebenso die Einstellung der verschiedenen Klassen zur Revolution. Eine Führungsrolle der Marxisten-Leninisten in zukünftige Klassenkämpfen wird es nicht geben, wenn die Avantgarde selbst nicht das Rote Banner des Prole- tarischen Internationalismus hochhält und wenn die Avantgarde selbst die Frage
nicht beantwortet, wie die Diktatur des Proletariats zu errichten sein wird, wie die politische Macht des Proletariats zu erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie zu brechen ist, und durch keine Praxis darauf vorbereitet ist, sie zu beantworten. Die Klassenanalyse, die wir brauchen, ist nicht zu machen ohne revolutionäre Praxis, ohne revolutionäre Initiative.
Die »Revolutionären Übergangsforderungen«, die die proletarischen Organi- sationen landauf, landab aufgestellt haben, wie Kampf der Intensivierung der Aus- beutung, Verkürzung der Arbeitszeit, gegen die Vergeudung von gesellschaftli- chem Reichtum, gleicher Lohn für Männer und Frauen und ausländische Arbei- ter, gegen Akkordhetze etc., diese Übergangsforderungen sind nichts als gewerk- schaftlicher Ökonomismus, solange nicht gleichzeitig die Frage beantwortet wird, wie der politische, militärische und propagandistische Druck zu brechen sein wird, der sich schon diesen Forderungen aggressiv in den Weg stellen wird, wenn sie in massenhaften Klassenkämpfen erhoben werden. Dann aber – wenn es bei ih- nen bleibt, sind sie nur noch ökonomischer Dreck, weil es sich um sie nicht lohnt, den revolutionären Kampf aufzunehmen und zum Sieg zu führen, wenn »Siegen heißt, prinzipiell akzeptieren, daß das Leben nicht das höchste Gut des Revolu- tionärs ist« (Debray)32. Mit diesen Forderungen kann man gewerkschaftlich inter- venieren – »die tradeunionistische Politik der Arbeiterklasse ist aber eben bürger- liche Politik der Arbeiterklasse« (Lenin). Eine revolutionäre Interventionsmetho- de ist sie nicht.
Die sogenannten proletarischen Organisationen unterscheiden sich, wenn sie die Frage der Bewaffnung als Antwort auf die Notstandsgesetze, die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, die Polizei, die Springerpresse nicht aufwerfen, opportu- nistisch verschweigen, nur insoweit von der DKP, als sie noch weniger in den Massen verankert sind, als sie wortradikaler sind, als sie theoretisch mehr drauf haben. Praktisch begeben sie sich auf das Niveau von Bürgerrechtlern, die es auf Popularität um jeden Preis abgesehen haben, unterstützen sie die Lügen der Bourgeoisie, daß in diesem Staat mit den Mitteln der parlamentarischen Demo- kratie noch was auszurichten sei, ermutigen sie das Proletariat zu Kämpfen, die angesichts des Potentials an Gewalt in diesem Staat nur verloren werden können – auf barbarische Weise. »Diese marxistisch-leninistischen Fraktionen oder Partei- en« – schreibt Debray über die Kommunisten in Lateinamerika – »bewegen sich innerhalb derselben politischen Fragestellungen, wie sie von der Bourgeoisie be- herrscht werden. Anstatt sie zu verändern, haben sie dazu beigetragen, sie noch fester zu verankern …«
Den Tausenden von Lehrlingen und Jugendlichen, die aus ihrer Politisierung während der Studentenbewegung erstmal den Schluß gezogen haben, sich dem
Ausbeutungsdruck im Betrieb zu entziehen, bieten diese Organisationen keine po- litische Perspektive mit dem Vorschlag, sich dem kapitalistischen Ausbeutungs- druck erstmal wieder anzupassen. Gegenüber der Jugendkriminalität nehmen sie praktisch den Standpunkt von Gefängnisdirektoren ein, gegenüber den Genossen im Knast den Standpunkt ihrer Richter, gegenüber dem Untergrund den Stand- punkt von Sozialarbeitern.
Praxislos ist die Lektüre des »Kapital« nichts als bürgerliches Studium. Praxis- los sind programmatische Erklärungen nur Geschwätz. Praxislos ist proletarischer Internationalismus nur Angeberei. Theoretisch den Standpunkt des Proletariats einnehmen, heißt ihn praktisch einnehmen.
Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.
- Stadtguerilla
Somit muß man von seinem Wesen her, aus einer langen Perspektive, in strategischer Hinsicht den Imperialismus und alle Reaktionäre als das betrachten, was sie in Wirklich- keit sind: als Papiertiger. Darauf müssen wir unser strategisches Denken gründen. Ande- rerseits sind sie aber wiederum lebendige, eisenharte, wirkliche Tiger, die Menschen fres- sen. Darauf müssen wir unser taktisches Denken gründen.
Mao Tse Tung, 1. 12. 1958
Wenn es richtig ist, daß der amerikanische Imperialismus ein Papiertiger ist, d.h. daß er letzten Endes besiegt werden kann; und wenn die These der chinesischen Kommunisten richtig ist, daß der Sieg über den amerikanischen Imperialismus da- durch möglich geworden ist, daß an allen Ecken und Enden der Welt der Kampf gegen ihn geführt wird, so daß dadurch die Kräfte des Imperialismus zersplittert werden und durch ihre Zersplitterung schlagbar werden – wenn das richtig ist, dann gibt es keinen Grund, irgendein Land und irgendeine Region aus dem anti- imperialistischen Kampf deswegen auszuschließen oder auszuklammern, weil die Kräfte der Revolution dort besonders schwach, weil die Kräfte der Reaktion dort besonders stark sind. Wie es falsch ist, die Kräfte der Revolution zu entmutigen, indem man sie un- terschätzt, ist es falsch, ihnen Auseinandersetzungen vorzuschlagen, in denen sie nur verheizt und kaputtgemacht werden können. Der Widerspruch zwischen den ehrlichen Genossen in den Organisationen – lassen wir die Schwätzer mal raus – und der Roten Armee Faktion ist der, daß wir ihnen vorwerfen, die Kräfte der Re- volution zu entmutigen, und daß sie uns verdächtigen, wir würden die Kräfte der Revolution verheizen. Daß damit die Richtung angegeben wird, in der die Frakti- on der in Betrieben und Stadtteilen arbeitenden Genossen und die Rote Armee Fraktion den Bogen überspannen, wenn sie ihn überspannen, entspricht der Wahrheit. Dogmatismus und Abenteurertum sind seit je die charakteristischen
Abweichungen in Perioden der Schwäche der Revolution in einem Land. Da seit je die Anarchisten die schärfsten Kritiker des Opportunismus waren, setzt sich dem Anarchismus-Vorwurf aus, wer die Opportunisten kritisiert. Das ist gewisser- maßen ein alter Hut.
Das Konzept Stadtguerilla stammt aus Lateinamerika. Es ist dort, was es auch hier nur sein kann: die revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwa- chen revolutionären Kräften.
Stadtguerilla geht davon aus, daß es die preußische Marschordnung nicht ge- ben wird, in der viele sogenannte Revolutionäre das Volk in den revolutionären Kampf führen möchten. Geht davon aus, daß dann, wenn die Situation reif sein wird für den bewaffneten Kampf, es zu spät sein wird, ihn erst vorzubereiten. Daß es ohne revolutionäre Initiative in einem Land, dessen Potential an Gewalt so groß, dessen revolutionäre Traditionen so kaputt und so schwach sind wie in der Bundesrepublik, auch dann keine revolutionäre Orientierung geben wird, wenn die Bedingungen für den revolutionären Kampf günstiger sein werden als sie es jetzt schon sind aufgrund der politischen und ökonomischen Entwicklung des Spätkapitalismus selbst.
Stadtguerilla ist insofern die Konsequenz aus der längst vollzogenen Negation der parlamentarischen Demokratie durch ihre Repräsentanten selbst, die unver- meidliche Antwort auf Notstandsgesetze und Handgranatengesetz33, die Bereit- schaft, mit den Mitteln zu kämpfen, die das System für sich bereitgestellt hat, um seine Gegner auszuschalten. Stadtguerilla basiert auf der Anerkennung von Tatsa