THEO VAN GOGH REFLEXIONEN GHAZA – ISRAEL – DEUTSCHLAND : Masha Gessen: „In Deutschland würde Hannah Arendt den Preis heute nicht erhalten“
Stand: 15.12.2023, 15:53 Uhr FRANKFURTER RUNDSCHAU – Von: Hanno Hauenstein
Masha Gessen schreibt für den „New Yorker“ und hat zahlreiche Bücher über die politische Lage in Russland verfasst.
Masha Gessen über das Debakel der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises und den Essay im „New Yorker“, in dem Gaza mit einem jüdischen Ghetto unter NS-Herrschaft verglichen wird.
Guten Abend Masha Gessen, wie fühlen Sie sich gerade?
Etwas überwältigt, aber alles in allem gut.
An diesem Wochenende steht die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Sie an. Die Bremer Niederlassung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft forderte, dass Sie den Preis nicht bekommen, die Heinrich-Böll-Stiftung zog sich daraufhin von der Preisverleihung zurück. Können Sie Ihre Sicht der Dinge schildern?
Ich sollte am Mittwochnachmittag von New York nach Bremen fliegen. Als ich aufwachte, erhielt ich eine Nachricht von einem der Organisatoren des Preises, der mir mitteilte, dass die Heinrich-Böll-Stiftung ihre Zusage zurückgezogen habe und der Preis seinen Veranstaltungsort, das Bremer Rathaus, verlor.
Aber sie sagten auch, sie stünden zu mir und würden den Preis weiterführen. Ich glaube, im Moment ist noch nicht klar, ob das Preisgeld noch mit dem Preis verbunden ist. Ich habe kurz überlegt, ob ich überhaupt noch nach Bremen kommen soll. Aber ich dachte mir – wenn sie zu mir stehen, sollte ich auch kommen. Hier bin ich.
Die Zeremonie wird also wie gehabt stattfinden?
Es wird ein privates Abendessen geben. Am Samstagmorgen gibt es eine halböffentliche Veranstaltung, an der auch ein Politikwissenschaftler aus Bulgarien, Ivan Krastev, teilnimmt. Ich werde einen Vortrag halten und ich schätze, es wird eine Diskussion geben.
Ursprünglich sollte es eine Preisverleihung und eine Diskussion an der Universität geben, die es jetzt aber nicht mehr geben wird. Die Universität Bremen scheint zu dem Schluss gekommen zu sein, dass so eine Veranstaltung gegen die rechtlich nicht-bindende BDS-Resolution verstoßen würde? Ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht sicher, gegen was es genau verstoßen soll.
Da Sie es erwähnen: was ist Ihre Position zu BDS?
Ich habe gemischte Gefühle. Ich wünschte, die Bewegung würde eine klare Position beziehen, welche die Notwendigkeit einer gemeinsamen palästinensisch-jüdischen Zukunft auf dem Land anerkennt – aber ich verstehe auch, weshalb sie eine solche Position nicht vertritt.
Abgesehen von meinen persönlichen Spitzfindigkeiten: es handelt sich um eine gewaltfreie Bewegung. Aufrufe zu einem Wirtschaftsboykott mit Gewalt und/oder Hassrede gleichzusetzen, ist ein Affront gegen die Meinungsfreiheit. Was wir tun sollten, anstatt BDS und seine Befürworter:innen zu deligitimieren, ist die Einwände oder Vorbehalte zu diskutieren, die Menschen – mich eingeschlossen – dagegen haben könnten.
In Ihrem Artikel beschreiben Sie, wie Sie mit Blick auf eine Holocaust-Gedenk-Installation im Jüdischen Museum Berlin an die Tausenden Bewohner:innen Gazas denken mussten, die bei israelischen Vergeltungsschlägen für das Massaker der Hamas am 7. Oktober bereits getötet wurden. Sie schreiben: „Dann dachte ich, wenn ich das in Deutschland öffentlich sagen würde, bekäme ich vielleicht Ärger.“ War manches von dem, was jetzt passiert ist, vorhersehbar?
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Es ist ein bisschen wie ein kontrolliertes Experiment. Als ich in Berlin war zur Berichterstattung für diesen „New Yorker“-Essay, scherzten meine Partnerin und ich darüber, dass der Arendt-Preis vielleicht zurückgezogen würde. Aber Leute aus der Kunstszene, mit denen wir in Berlin zu tun hatten, sagten: „Nein, nicht in deinem Fall, nicht der Arendt-Preis.“ Und hier sind wir.
Ich finde die ganze Sache in erster Linie lächerlich. Im Endeffekt wirkt es auch so, als ob dadurch sowohl der Preis, als auch mein „New Yorker“-Essay in Deutschland viel mehr Aufmerksamkeit bekommen, als sie sonst bekommen hätten.
Die Böll-Stiftung begründete ihren Rückzug von der Preisverleihung in einer Pressemitteilung mit Ihrer Beschreibung Gazas als „Ghetto“, welches in Ihren Augen durch Israel „liquidiert“ werde. War das eine gezielte Polemik? Stehen Sie hinter dieser Bezeichnung?
Sehen Sie, die Singularität des Holocausts, das ist ja das Hauptargument meines Essays, wird in der Regel so verstanden, dass er nicht mit anderen Dingen verglichen werden darf. Ich wiederum denke, die Singularität des Holocausts bedeutet, dass er immer mit anderen Dingen verglichen werden sollte.
Das ist buchstäblich die Substanz des Satzes: „Nie wieder“. Wir, Menschen, die im Jahr 2023 leben, sind nicht irgendwie intelligenter oder moralischer als Menschen vor 80, 90 Jahren. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns ist, dass der Holocaust für uns bereits in der Vergangenheit liegt.
Dinge, die während oder vor dem Holocaust passiert sind, mit Dingen zu vergleichen, die heute passieren, ist unsere beste Chance zu verhindern, dass der Holocaust sich wiederholt. Das ist mein prinzipieller Standpunkt. Das ist nicht als Provokation gemeint. Ich denke, wir haben eine moralische Verpflichtung, Vergleiche anzustellen.
Können Sie dennoch über den spezifischen Begriff sprechen? Sie vergleichen Gaza mit den Ghettos zur Nazizeit.
Alle Vergleiche sind unvollkommen. Der Grund, warum wir Vergleiche anstellen und versuchen, aus ihnen zu lernen ist, dass sie uns ermöglichen zu sehen, was ähnlich und was unterschiedlich ist.
Im Fall des belagerten Gazastreifens – ich beziehe mich explizit auf die Zeit vor dem 07. Oktober – war die Trope eines „Freiluftgefängnisses“, wie sie von Menschenrechtsorganisationen oft verwendet wird, sehr fehlerhaft. Gaza besteht nicht aus Zellen, hat keinen festgelegten Zeitplan, keine Gefängniswärter.
Ein Ghetto in einem der von den Nazis besetzten osteuropäischen Ländern kommt der Sache näher. Wenn man einen Ort als Ghetto bezeichnet, ist die Folgefrage: ‚Was passiert als nächstes?‘ Was wir jetzt sehen, mit dem Ansturm der israelischen Militärmacht auf Gaza und dem Umstand, dass die Menschen diesen belagerten Raum nicht verlassen können, ähnelt in der Tat der Liquidierung eines Ghettos.
Einige Leute haben daraufhin argumentiert: ‚Falsch. Nach der Liquidierung der Ghettos wurden die Juden in Vernichtungslager gesteckt‘. Das ist ein berechtigtes Argument. Aber viele Juden starben bereits während der Liquidierung oder auf dem Weg in die Vernichtungslager.
Das ist der Punkt, an dem wir die Frage nach dem „Nie wieder“ stellen sollten. Die ägyptische Grenze ist geschlossen, der Zaun um Gaza steht, das israelische Militär bombardiert Gaza. Was wird die Welt tun, um weiteres Sterben zu verhindern?
Wenn Sie sich in die Lage nicht-jüdischer Deutscher hineinversetzen, etwa eines Vertreters der Heinrich-Böll-Stiftung oder mich selbst: Können Sie das Unbehagen nachvollziehen, das so ein Vergleich auslöst – zwischen einem von den Nazis besetzten jüdischen Ghetto und dem von Israel militärisch besetzten Gaza? Immerhin gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Israels Existenz und der antisemitischen Gewaltgeschichte Deutschlands.
Zur Person
Masha Gessen , geboren 1967 in Moskau, wurde mit Büchern wie „Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung“ (2012) und „Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman“ (2013) bekannt. „Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor“ wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award 2017 und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019. Gessen schreibt für das Magazin „The New Yorker“ und lehrt am Amherst College. Masha Gessen lebt in New York.
Sicher! Ich verstehe, woher das kommt. Die Deutschen haben sich ein seltsames Dilemma geschaffen, das darin besteht, zu versuchen, sich des Holocausts zwar einerseits ständig sehr bewusst zu sein, sich jedoch andererseits davor zu hüten, diese Erinnerung zu nivellieren oder relativieren indem sie sie universalisieren.
Hat sich die Heinrich-Böll-Stiftung nach dem Eklat eigentlich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?
Vor circa einer halben Stunde erhielt ich eine Mail von Imme Scholz, einer der Präsidentinnen der Heinrich-Böll-Stiftung, in der sie sich für die negative Dynamik entschuldigt, die der Vorfall ausgelöst hat.
Da heißt es: „Bitte seien Sie versichert, dass wir nicht in Frage stellen, dass Sie den Preis erhalten. Im Gegenteil, wir teilen das Lob und den Respekt für Ihre Arbeit (…) Aber, wie Sie in Ihrem Artikel im New Yorker bereits vorhergesehen haben, hat sich die öffentliche Debatte darüber in Deutschland sehr schnell ins Negative gewendet.
Die Böll-Stiftung in Bremen sah sich unter Druck gesetzt, von der für morgen Abend geplanten Zeremonie zurückzutreten. Wir haben uns dieser Entscheidung angeschlossen, da sie unsere Partner sind, und wir akzeptieren die starke Kritik, die wir dafür nun in Deutschland und auch international erhalten haben.“ Diese Art Sprache ist mir extrem vertraut.
Woher?
Aus Russland, aus der Sowjetunion. Und, entschuldigen Sie, jetzt mache ich es schon wieder! Ich vergleiche. Diesmal das heutige Deutschland mit dem totalitären Deutschland. Ich will nicht behaupten, dass Deutschland heute ein totalitäres Land ist. Doch bestimmte Gewohnheiten haben so eine Art, ruhend weiter zu bestehen und dann plötzlich wieder aufzutauchen.
Ich habe ein ganzes Buch über totalitäre Gewohnheiten in Russland geschrieben und wie sie sich heute fortschreiben. Da ist eine spezifische Dynamik am Werk. Totalitäre Regierungen sind sehr gut darin, sie zu erzeugen, es ist gewissermaßen ihr Lebenselixier. Es geht darum, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie etwas unter den gegebenen Umständen Unmoralisches tun müssen, um anständige Menschen zu bleiben.
Haben Sie derartiges in Russland selbst erlebt?
Sicher. Um 2004 herum war Putin gerade dabei, alle demokratischen Mechanismen zu zerstören, aber es gab noch keine Zensur. Ich hatte einen Artikel über den damaligen Krieg in Tschetschenien geschrieben. Und der Chef des Verlags, dem mehrere Zeitschriften unterstanden, kam zu mir und sagte: ‘Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Aber Sie können keineswegs diese Schlagzeile verwenden. Wenn Sie das tun, verlieren 320 Leute ihren Job.’
Er hat versucht, mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Dass ich meine Arbeit als Journalist:in mache, wurde durch eine Art höhere Loyalität ersetzt – in dem Fall durch den Erhalt von Arbeitsplätzen. Einen Hauch dieser Attitüde spüre ich auch in dieser Böll-E-Mail.
[Nicht wörtlich:] ’Wir unterstützen Sie, aber die Stimmung im Land ist einfach super schwierig. Und überhaupt müssen wir den schwächeren Partner schützen. Sprich, wir sind machtlos, das zu tun, wofür wir geschaffen wurden: liberale Werte zu unterstützen.’ Das ist eine Logik, die ich bereits mein ganzes Leben lang erlebe.
Was steckt dahinter?
Ich denke, es ist der fehlende Wille, existierende politische Macht wahrzunehmen und zu nutzen. Wenn wir diese Macht nicht ausüben, können wir unsere Demokratien nicht beibehalten.
In Ihrem Artikel beschreiben Sie, wie die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland, aber auch in anderen, vor allem osteuropäischen Ländern im Zuge eines Rechtsrucks instrumentalisiert wird. Was ist in Ihren Augen das Besondere an der deutschen Situation?
Es gibt große Unterschiede zwischen Deutschland und beispielsweise Polen. Deutschland hat es zu einem Kernbestandteil seiner nationalen Identität gemacht, die eigene Schuld anzuerkennen und geltend zu machen. Hannah Arendt hat sich lange mit der Ausdifferenzierung von Schuld und Verantwortung auseinandergesetzt.
Ich denke, man kann argumentieren, dass, was Deutschland behauptet, keine Verantwortung im Arendt’schen Sinne ist, sondern eben Schuld. In Polen ist das Gegenteil der Fall. Polen lehnt sowohl Verantwortung als auch Schuld ab. Und beteuert kontrafaktischerweise seine historische Unschuld.
Judith Butler hat verlautbart, nicht mehr nach Deutschland kommen zu wollen. Viele Kulturschaffende haben sich in den vergangenen Wochen ähnlich geäußert. Was glauben Sie – wie wird sich diese Episode auf Ihr Verhältnis zu Deutschland auswirken?
Diese Frage stelle ich mir auch. Ich mag den Begriff der Cancel Culture eigentlich nicht, aber er scheint hier tatsächlich angemessen. Meine Freundin Tania Bruguera, Leiterin des Hannah-Arendt-Zentrums in Havanna, wird demnächst im Kasseler Museum eine Kunstaktion mit dem Titel „Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading The Origins of Totalitarianism)“ aufführen.
Sie hat mich gebeten, zu lesen. Ich warte jetzt ab, ob ich ausgeladen werde. Deutschland ist für mich ein wichtiger Ort für meine Bücher und für deren Resonanz. Ich habe es bislang immer als lohnenswert empfunden, nach Deutschland zu kommen. Leute diskutieren hier auf eine Weise über Bücher, die in den USA recht ungewöhnlich ist. Intellektuell wäre es durchaus ein Verlust für mich, nicht mehr nach Deutschland kommen zu können.
Die jüngsten Diskussionen über Antisemitismus auf den US-Hochschulen wirkt – ungeachtet dessen, dass es offenbar tatsächliche Defizite bei der Aufarbeitung des Schreckens vom 7. Oktober gibt – wie ein Spiegelbild der Diskussionen in Deutschland. Sehen Sie einen Zusammenhang?
Die Dynamik ist sehr ähnlich. Auch rechtlich betrachtet. In den USA steht das Thema weniger im Vordergrund. Aber das könnte eine Frage der Zeit sein. 35 US-Bundesstaaten haben Anti-BDS-Gesetzgebungen verabschiedet – Gesetze, nicht rechts-unverbindliche Resolutionen.
Seit 2019 gibt es eine von Donald Trump unterzeichnete Durchführungsverordnung, mit der Bundesmittel für Hochschulen und andere Programme entzogen werden können, die Studierende angeblich nicht vor Antisemitismus schützen. Ich denke, der Grund, dass diese Gesetzgebung in den USA nicht mehr Wirkung gezeigt haben, ist, dass es dort so wenig staatliche Finanzierung gibt.
Ich will nicht sagen, dass es in den USA keinen Antisemitismus gäbe. Aber bei diesen Anhörungen über sogenannten Antisemitismus an den Universitäten handelt es sich um einen Angriff auf die Hochschulbildung.
Nichts mehr wie zuvor – ein außenpolitischer Rückblick
Nach der Ankündigung, dass die Böll-Stiftung sich von dem Preis distanzieren wird, sagten einige, dass Hannah Arendt selbst in diesem Klima in Deutschland des Hannah-Arendt-Preises für unwürdig erklärt würde.
Hannah Arendt war in den 1930er Jahren überzeugte Zionistin. Aber später war sie sehr kritisch gegenüber dem siedlungskolonialen Nationalstaatprojekt Israel. Sie würde vielleicht nicht die Worte „siedler-kolonial“ benutzen, sie sprach vom „Nationalstaat“. Aber sie war entsetzt darüber, was sie seit den ersten Tagen Israels beobachtete.
Und sie bestand darauf, Vergleiche zwischen Nazis und etwa einer jüdisch-israelischen Partei anzustellen. Sie war eine Studentin des Totalitarismus, den sie für eine neuartige Regierungsform hielt. Für sie war es sehr wichtig, nach frühen Anzeichen dafür in anderen Ländern Ausschau zu halten.
Insofern ja: in Deutschland würde Hannah Arendt den Hannah-Arendt-Preis heute wohl eher nicht erhalten.