MESOPOTAMIA NEWS :  DERRIDA’S DIRECTION ODER VOM ENDE EUROPAS & DES WESTENS

Sollen Identitätspolitik, Postmoderne und Postkolonialismus die Richtung der Gesellschaft bestimmen?

Am 17. März 2021 | Von Stefan Laurin  RUHRBARONE  – Eugène Delacroix – Die Freiheit führt das Volk

Cancel Culture, der Streit um Wolfgang Thierse, Identitätspolitik die nach dem Fall-Mbembe ausgelöste Postkolonialismus-Diskussion, Konflikte über das, was Feminismus ist und ob er nur etwas mit Frauen zu tun hat: In den vergangenen Monaten beschäftigte neben Corona kein Thema die Republik mehr als Debatten unter dem Zeichen der Postmoderne. Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, welchen Raum die Gesellschaft diesen Ideen einräumen will und welche Konsequenzen das haben könnte.

Viele der Themen, die in den vergangenen Jahren und vor allem Monaten immer deutlicher zutage traten, Cancel Culture, Identitätspolitik, Wokeness haben ihre Wurzeln in der postmodernen Philosophie, die in den 60er Jahren in Frankreich entstand und dabei ist, die dominante Denkrichtung in Hochschulen, Medien, öffentlicher Verwaltung und Unternehmen zu werden. Kurzum: Auch wenn man mit all dem nichts zu tun haben möchte, und dafür gibt es sehr gute Gründe, kommt man nicht mehr darum herum, sich mit diesen Themen zu beschäftigen, denn sie beginnen unser Leben zunehmende zu beeinflussen.
Vordenker der Postmoderne waren meist ältere und immer weiße Männer wie Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Jacques Derrida. Ihr Denken richtete sich gegen die Überheblichkeit des neuzeitlichen Denkens und seiner Versuche, die Welt restlos zu rationalisieren.[1] Bernd Stegemann beschreibt, dass am den Ursprung der postmodernen Erzählung steht,

„dass die Moderne ein Stadium erreicht hat, wo ihre großen Unterscheidungen nicht mehr zutreffen. Die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Natur und Kultur, zwischen den Nationen, Religionen oder Geschlechtern, alle diese Unterscheidungen sollen als obsolet gelten. An ihre Stelle tritt stattdessen das Chaos der Bruchlinien, die zwischen allen Menschen, Meinungen und Interessen verlaufen. Niemand ist mehr Teil eines größeren Zusammenhangs, sondern jeder lebt in der Mikroumwelt seiner hochspezialisierten Existenz.“[2]

Die heutigen Vertreter postmoderner Philosophie haben sich nach Meinung von Stefan Kleie weit von den Ursprüngen der Theorie entfernt:

„Die Gender Studies und etwas später auch die Postcolonial Studies verbanden geschickt ihre eigenen Lobbyinteressen mit Versatzstücken der französischen Theorie; und weil kaum jemand auf der Höhe dieser Theorie war, kamen sie damit zumeist durch“, schrieb er in der FAZ[3] und der französische Philosoph und Autor Pascal Bruckner nimmt im Interview mit der Welt die postmodernen Denker vor der Vereinnahmung durch die heutigen Sittenwächter in Schutz: „Wir haben den Amerikanern dieses Virus eingebrockt. Jetzt schicken sie uns die grassierende Krankheit zurück.“

Doch weder Derrida oder Foucault würden sich „heute in diesem reimportierten ideologischen Mist wiedererkennen, der die Welt in ethnischen Gruppen erstarren lässt, in fest voneinander getrennten Identitäten, während es der französischen Intelligenz damals darum ging, die Unterschiede für alle Zeiten verschwinden zu lassen.“[4]

Sammelsurium von Ideologemen gegen die Aufklärung 

Das, was sich uns heute als Postmoderne unter Schlagworten wie Postkolonialismus, Queertheorie, Genderstudies, Intersektionaler Feminismus, Wokeness oder Cancel Culture begegnet, ist im Kern kein einheitliches Ideengebäude, sondern ein Sammelsurium von Ideologemen, das sich gegen die Aufklärung, den Universalismus und gegen fast jede Form des Essentialismus wendet, also die Idee, dass Menschen ganz bestimmte Eigenschaften haben, die sich auch nicht verändern lassen.

Einige Ideen der Postmoderne sorgten für neue Denkansätze und Perspektiven: Begriffe wie Biomacht, die Bedeutung von Strafvollzug und Gesundheitswesen für die politische Entwicklung rückten in das Zentrum. Die radikale Kritik an der Moderne und die Behauptung, sie sei gescheitert führten letztendlich zu einer Kritik, die nur als reaktionäre bezeichnet werden kann, auch wenn sie sich in scheinbar progressive Sprache hüllt.  Das postmoderne Denken erschöpft sich im Wesentlichen in Angriffen gegen westlich-demokratische Gesellschaften, die im Kern als imperialistisch, rassistisch, transphob und kolonialistisch abgekanzelt werden sollen.

Autoren wie Bernd Stegemann, aber auch der österreichische Philosoph Robert Pfaller sehen das postmoderne Denken in einem direkten Zusammenhang mit dem Neoliberalismus. So kümmert sich die atomisierte, entsolidarisierte Gesellschaft nicht mehr um Klassenfragen, aber um die Verbesserung der Lage von Minderheiten. Was für Unternehmen wie Facebook oder Google kein Problem ist: Toleranz und Förderung queerer Programmierer sind nicht nur gut fürs Image. Sie wirken sich zudem gut auf die Produktivität der Betroffenen aus. Ein Betriebsrat wäre für die Unternehmen jedoch deutlich unangenehmer.

Neoliberalismus ist in Deutschland eher ein Kampfbegriff als eine wirtschaftliche Realität. Was in Kalifornien zutreffen mag, gilt für Deutschland nicht, zumal sich zur Postmoderne hier ein weiteres Post gesellt hat: Der Postmaterialismus, der in den USA, in dem das Streben nach Wohlstand und Wachstum weitgehender Konsens sind, keine große Rolle spielt, aber dazu später.

Wettbewerb der Ideen durch eine Hierarchie der Opfer ersetzt

Die Vertreter der Post-Ideensammelsurien eint, dass es ihnen weniger auf stichhaltige, nachvollziehbare Argumente ankommt als auf den subjektiven Standpunkt des Sprechers. Man muss betroffen sein, um sich äußern zu dürfen. In einer Diskussion über Rassismus zählt nur das Wort der „rassistisch gelesenen“ PoC. Ihre weißen „Allies“ dürfen sich auf die bloße Akklamation des Gehörten beschränken, andernfalls setzen sie sich dem Verdacht des „blacksplaining“ als „kolonialer Praxis“ aus. Gleiches gilt bei Fragen des Geschlechts, sexueller Diskriminierung oder jedem anderen Thema. Damit wurde der Wettbewerb der Ideen durch eine Hierarchie der Opfer ersetzt, die über das Gewicht jedes Arguments mitentscheidet. Damit wird der Opferstatus in den postmodernen Milieus zur härtesten Währung.

Dies gilt umso mehr, wenn der Wettstreit um die authentischere Opferstellung mit dem Wissen um die korrekte Sprache zusammen geht. Es geht bei der korrekten Sprache nicht darum, auf die bekannten Formen sprachlicher Diskriminierung zu verzichten, sondern um einen ständig wechselnden Code, mit dem sich die Eingeweihten zu erkennen geben.

Im Ergebnis werden täglich wechselnde Wortungetüme und Akronyme produziert, die es auch Kennern der Szene schwierig macht, Fehler zu vermeiden:

Dass es sich um die Sprache einer neuen Elite handelt, hat Michael Lind im Tablet-Mag erklärt:

„In der Tat ändert die neue nationale Oligarchie die Codes und Passwörter etwa alle sechs Monate und informiert ihre Mitglieder über die Universitäten und die Prestigemedien und Twitter. Amerikas Arbeiterklasse-Mehrheit aller Rassen schenkt den Medien weit weniger Aufmerksamkeit als die Elite und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie ein Kind in Harvard oder Yale haben, das sie aufklärt. Und nicht-College-gebildete Amerikaner verbringen sehr wenig Zeit auf Facebook und Twitter.“[5]

Ein demokratischer Sprachgebrauch gibt sich Mühe, möglichst viele Menschen miteinzubeziehen. Bei fast allen Webseiten, Magazinen und Zeitungen, die sich an ein breites Publikum wenden, werden die Autoren aus diesem Grund dazu angehalten, nach Möglichkeit keine Fremdwörter zu verwenden und lange Sätze zu meiden.

In der postmodernen Welt ist Sprache nicht vor allem Mittel, um sich mit anderen auszutauschen. Sie ist vielmehr eine Möglichkeit der Abgrenzung mit fast magischen Fähigkeiten. In der Nachfolge des sprachlichen Idealismus und der Sprechakttheorie geht man davon aus, dass Sprache die Wirklichkeit schafft. Das tut sie ohne Zweifel in einem bestimmten Maße, aber sie kann nicht dauerhaft die Wirklichkeit brechen. Eine Elefant ist keine Maus, auch wenn man ihn so nennt. Tut man es ständig, ändert höchstens das Wort „Maus“ seine Bedeutung, aber der Elefant bleibt ein sehr großes Tier mit Rüssel und wird nicht zum kleinen Nager.

Judith Butler, die Hohepriesterin der Queer-Theorie, sieht das anders. Für sie werden die Geschlechter durch Sprechakte konstruiert. Ein biologisches Geschlecht gibt es für sie und ihre Anhängerinnen nicht. Es ist nur ein durch sprachliche Wiederholung fest gemauertes soziales Konstrukt – das es zu ändern gilt.

Nicht zu leugnende körperliche Unterschiede wie eine Gebärmutter oder ein Penis sind in dieser Gedankenwelt keine biologisch festgelegten Merkmale von Geschlechtern, sondern werden erst dadurch zu Merkmalen von Geschlechtern gemacht, weil sie als solche gelesen werden. Mann und Frau gibt es nicht, es gibt nur Menschen die als Mann oder Frau gelesen werden. Und als was sie gelesen werden wollen, ist ihre Sache: Wenn also in britischen Krankenhäusern darüber nachgedacht wird, den Begriff Muttermilch durch Menschenmilch zu ersetzen, dann weil dahinter die Idee steht, dass Frauen, sondern Menschen Kinder bekommen und auch Menschen, die als Väter „gelesen“ werden wollen, Kinder säugen können. Nichts ist von Natur aus festgelegt, der Antiessentialismus der Postmoderne, der kein stabiles „sein“ kennt, zeigt sich an diesem Beispiel am deutlichsten.

Die Abschaffung der Frau

Die Queertheorie hat zwei Folgen: Sie schafft die Frau ab und wird deshalb von vielen Feministinnen bekämpft, denn wenn es keine Frauen mehr gibt, kann es auch keine Unterdrückung von Frauen geben. Im Streit um die britische Schriftstellerin Joanne K. Rowling, der „Transfeindlichkeit“ vorgeworfen wurde, ging es genau um die Anwendung dieser Theorie in der Praxis. Rowling hatte sich für die Ökonomin Maya Forstater eingesetzt, deren Vertrag am „Center for Global Development (CGD)” nicht verlängert wurde, weil sie Gregor Murray als „er“ angesprochen hatte und sagte, dass sie der Ansicht sei, aus Männern könnten keine Frauen werden.

Im Cicero beschrieb Eva Schweitzer Murray als einen „Politiker aus dem schottischen Dundee, der im Stadtrat für Familien und Kinder zuständig war und der sich gendermäßig trotz Vollbarts als „plural (neutral)“ und „non-binary“ identifiziert. Zu seinen Aktivitäten gehört ein Versuch, seinen Minister Alex Salmond zu torpedieren, der eine 40-prozentige Frauenquote in Aufsichtsräten durchsetzen wollte. Im Familienausschuss fiel Murray dadurch auf, dass er Frauen ordinär beschimpfte, Tampons an Jungen verteilen wollte, sich nicht um die Sicherheit der Schulkinder kümmerte, und schließlich erst aus dem Stadtrat und dann aus der schottischen Unabhängigkeitspartei hinauskomplimentiert wurde, unter anderem, weil er mehrfach öffentlich das C-Wort („Cunt“) benutzt hatte. Ein echter Feminist also.“[6]

Erbitterter Kampf um die Begriffe von Geschlechtern

Der erbitterte Kampf um die Begriffe von Geschlechtern hat nichts mit dem Befinden von Trans- oder Intersexuellen zu tun, die häufig unter den gesellschaftlichen Reaktionen auf ihrer Veranlagung leiden. Das Thema wurde gerade in Großbritannien und den USA zum Schlachtfeld, auf dem sich entscheidet, ob sich ein postmoderne Antiessentialismus durchsetzt, der naturwissenschaftliche Erkenntnis weitgehend ignoriert. Im Lexikon des Wissenschaftsmagazins Spektrum wird Geschlecht wie folgt erklärt:

„Sexus, die entgegengesetzte Ausprägung der Gameten und der sie erzeugenden elterlichen Individuen unterschiedlicher Gestalt der Gameten werden die Mikrogameten bzw. Spermien als männlich, die Makrogameten bzw. Eizellen als weiblich bezeichnet, entsprechend auch die sie erzeugenden Individuen. Auch wenn die Gameten gleiche Gestalt haben gibt es in physiologischer Hinsicht stets nur 2 Sorten (Gesetz der allgemein bipolaren Zweigeschlechtlichkeit, Sexualität). Dann wird der „aktivere“ Gamet (und auch der Wanderkern bei der Ciliaten-Konjugation als männlich bezeichnet. Gibt es nicht einmal solche Unterschiede, werden die Geschlechter willkürlich mit + und – bezeichnet. Hermaphroditen (Zwitter) erzeugen beide Gametensorten gleichzeitig oder nacheinander.“[7]

Es gibt also einen Standard – die Zweigeschlechtlichkeit, eine Reihe deutlich seltener vorkommender Varianten und mögliche Mutationen, die zum Teil einzigartig sein können. Die biologischen Voraussetzungen sagen nichts darüber aus, wie sich jemand fühlt und was er gerne wäre, sondern was ein biologisches Wesen, zu denen natürlich auch die Menschen gehören, ist. Und natürlich ist es biologisch unmöglich, sein Geschlecht zu ändern, denn die genetischen Grundlagen sind nun einmal gesetzt. Der Genotyp, der in den Keimzellen angelegt ist, steht fest, nur der Phänotyp, die äußeren Merkmale, lassen sich ändern. Männer können nach Hormonbehandlung Brüste bekommen. Frauen kann ein Penis anoperiert werden. An der genetischen Grundausstattung ändert das nichts, nur am Erscheinungsbild und am Wohlempfinden der Betroffenen.

Setzt sich in diesem Bereich eine geisteswissenschaftliche Strömung mit bedenklich niedriger Forschungsleistung gegen die gesicherten Befunde der Naturwissenschaften durch, ist das kein Schlag gegen die soziale Konstruktion tradierter Rollenbilder, die tatsächlich zu einem großen Teil ein gesellschaftliches Konstrukte sind, Vielmehr handelt es sich bei dieser Überhöhung von Sprache um einen Rückfall in ein mittelalterliches Denken, dass glaubt, über der Natur und ihrer Gesetze mittels einer Art von Magie zu stehen: ein magisch-esoterisches Denken, das an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart scheitern muss. . Die Frage, die es zu beantworten gilt ist, will diese Gesellschaft den Rückfall in ein magisches Denken oder soll weiter auf rationale Wissenschaft gesetzt werden? Angesichts der Herausforderung, für bald zehn Milliarden Menschen ein gutes Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen, ist die Antwort eigentlich klar: In allen Gesellschaften, in denen das magischen Denken bestimmend war, wurde das Leben der Menschen immer von Mangel und Elend geprägt. Magisches Denken war auch immer die Grundlage zur Machtsicherung einer Orthodoxie. Auch diese Aspekt spielt heute ein Rolle, wenn es um Jobs in den Medien, in Verwaltungen, der Politik und an Hochschulen geht, denn um die dort vorhandenen Ressourcen kämpfen die „Postler“ verbissen.

 

Die Naturwissenschaft wird in diesem ideologischen Komplex als ein Herrschaftsinstrument westlicher Deutungshoheit gesehen. Und tatsächlich waren es Wissenschaftler aus Mitteleuropa die mit Beginn der Renaissance nach und nach die Naturgesetze erkannten und beschrieben. Isaac Newton, Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus und hunderte andere befreiten damals die Menschen aus jenem magischen Weltbild, das ihr Denken, besonders stark in Europa, in den Jahrhunderten zuvor geprägt hatte. Sie taten das gegen den Willen der Kirche der sehr schnell klar wurde, dass mit jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis ihr Monopol auf Deutung der Welt und damit ihre Macht schwinden würde – was ja auch geschah.

Magisches Denken

Aber Newton, Galilei und Kopernikus standen auf den Schultern von Giganten. Sie konnten ihre Arbeit nur machen, weil in den Jahrtausenden zuvor die Mathematik erst erfunden und dann immer weiterentwickelt worden war, und dabei spielte Mitteleuropa keine große Rolle: Ägypter, Griechen, Araber, Inder und Chinesen, also Afrikaner, Asiaten und Europäer gemeinsam schufen die Grundlage für die bis heute anhaltende wissenschaftliche Revolution, die nun als weiß, westlich und zum Teil sogar für Menschen mit Vorfahren aus Afrika nicht zugänglich beschrieben wird.

Diese Grafik war bis zum Sommer vergangenen Jahres im Smithsonian National Museum of African American History & Culture in Washington DC zu sehen. Unter anderem werden rationales Denken, Zukunftsplanung und naturwissenschaftliche Methoden als „weiß“ bezeichnet. Damit wird der Umkehrschluss nahegelegt, dass all dies allen, die nicht weiß sind, fremd ist. Logik spielt im magischen Denken der Postmodernen Kolonialismuskritik keine hervorgehobene Rolle.

Wird bei den Geschlechtern jede Form von Essentialismus abgelehnt, wird er, wenn es um Fragen der Hauptfarbe geht, wie ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert. Rassen gibt es nicht. Aber in der kruden Welt des postmodernen Denkens ist es normal, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe korrespondierende Eigenschaften zuzuordnen.

Natürlich ist das inhaltlich alles Unsinn: Alle Bauern zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt seit der Einführung der Landwirtschaft bestimmte nach Kalendern die beste Zeit für Saat und Ernte, musste hart und diszipliniert arbeiten und für die Zukunft planen. Landwirtschaft ohne Planung hat es nie gegeben. Auch kennen alle sesshaften Gemeinschaften der Menschheit verschiedenen Arten des Schutzes von Eigentum und damit verbunden auch immer komplexer Hierarchien. Wo die Menschen in prekären, überschaubaren Gesellschaften lebten, gab es all das nicht, was genau so für die Menschen in Germanien wie für Regionen im subsaharischen Afrika galt. Mit Hautfarbe hat das alles nichts zu tun, mit Entwicklung und zunehmender Komplexität von Gesellschaften wiederum eine ganze Menge.

Und siehe da: Die kulturellen Unterschiede sind gering, wer arm ist, hat keine Küche, sondern eine Kochstelle. Wer Geld hat, verfügt über ein Schlafzimmer mit Doppelbett – und auch die sehen weltweit ähnlich aus. Der schwedische Mediziner und Entwicklungsexperte Hans Rosling kam daher in seinem Buch Factfulness zu dem Schluss:

„Der Hauptfaktor, der den Alltag der Menschen bestimmt, ist nicht die Religion, die Kultur oder das Land, in dem sie leben. Der Hauptfaktor ist das Einkommen.“[8]

Die meisten Menschen streben danach, soviel zu verdienen, dass sie ein Leben führen können, wie es sich im Westen ein großer Teil der Menschen leisten kann – und zwar unabhängig davon, ob sie in Afrika, Asien oder Arabien leben. Und die gute Nachricht: Immer mehr Menschen sind auf einem guten Weg, dass auch zu schaffen.

Um 1800 begann die Menschheit sich durch Industrialisierung, Kapitalismus und Demokratisierung gleichzeitig aus Armut zu befreien. Erst in Europa und Nordamerika, seitdem in immer größeren Teilen der Welt.

Dieser Prozess zwang die entwickelten Gesellschaften dazu, sich mit ihren Widersprüchen auseinanderzusetzen: Während Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beschworen wurde, lebte ein großer Teil der Menschheit wie eh und je in Armut und in verschiedenen Formen der Abhängigkeit, von denen die Sklaverei die brutalste und offensichtlichste war.

„Reinhart Koselleck“, schreibt die Historikerin Hedwig Richter in ihrem Buch „Demokratie – Eine deutsche Affäre[9] „nennt die Entstehung der Moderne um 1800 die Sattelzeit, in der gleichsam ein Bergsattel überschritten wurde und sich eine gänzlich neue Welt eröffnete.“ Und diesen Berg überschritten im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer mehr Menschen. Richter beschreibt den komplexen Prozess des demokratischen Fortschritts: „…Demokratie entwickelte sich nicht aus einer Idee, sondern aus einem ungeordneten Konglomerat an Ideen und Praktiken, die sich oft genug widersprachen. Die Quellen der Demokratie sind vielfältig, und nicht immer sind sie lauter. Die liberale Demokratie, die aus dieser Geschichte hervorgegangen ist, erweist sich daher nicht als ein Gebilde aus einem Guss, vielmehr ist sie ein Flickwerk, ein um Ausbalancierung ringendes Gefüge, in dem es darum geht, Kräfte und Gegenkräfte im Zaum zu halten und die sich in vielerlei Hinsicht widersprechenden Ideale von Gleichheit und Freiheit und Gerechtigkeit voreinander zu schützen und gegeneinander zu stärken.“

Der Beginn des Wohlstands lag nicht in den Kolonien. Die ab dem frühen 16. Jahrhundert einsetzende Kolonialisierung der beiden Amerikas zerstörte die indigenen Kulturen und führte, wenn auch ohne Absicht, durch Infektionskrankheiten zum Tod von Millionen Menschen. All das führte nicht zu mehr Wohlstand in den Kolonialstaaten. Ein spanischer Bauer führte weiterhin eine ähnlich prekäre Existenz wie ein britischer Gelegenheitsarbeiter. Die Kolonien Südamerikas ermöglichten es Europa erst einmal nur, verstärkt am Welthandel teilzunehmen und dank neue Schiffsmodelle Handelsposten in Afrika und Asien zu erobern. Europa produzierte so gut wie nichts, was auf den Märkten in Arabien, Indien oder China auf Interesse stieß. Nur das geraubte Gold und Silber war begehrt. Kleine Mengen an Luxusgütern wurden transportiert, die kaum etwas am Leben der normalen Bevölkerung änderten. „Nach den niedrigsten Schätzungen entziehen Indien, die Serer und die Halbinsel Arabien unserem Staate alle Jahre 100 Millionen Sesterzen: Soviel kosten uns Luxus und Frauen.“ klagte Plinius der Ältere schon im 1. Jahrhundert.

Das Handelsdefizit blieb trotz Sklaverei und Kolonialismus bestehen, bis es in Europa gelang, im Zuge der Industrialisierung Produkte herzustellen, die auf den Märkten Asiens vor allem wegen ihrer niedrigen Preise gefragt waren. Wie bis dahin in der Geschichte weitgehend üblich, wurde die Öffnung der Märkte mit Gewalt erzwungen. Das war die traurige Praxis bevor sich der Freihandel und die heute so bekämpften Handelsabkommen durchsetzten. All das trug zur Zivilisierung der Welt bei, wie die weltweite Abschaffung der Sklaverei, die von den Christen und Frühaufklärern ausging.

Sklaverei war keine Erfindung des Westens

Für den Westen und die Aufklärung waren Sklaverei und Kolonialismus, die Erfindung des „Anderen“ nicht konstitutiv. Rassismus gab es schon vorher. Der arabische Begriff „Zantsch“ setze Schwarze und Sklaven gleich. Er beinhaltete jedoch noch nicht die Ideologie des Rassismus, die letztendlich eine Reaktion auf die Aufklärung war: Moralisch und politisch ließen sich Kolonialismus und brutale Ausbeutung im 19. Jahrhundert im Westen nicht mehr rechtfertigen, also wurde der Darwinismus pervertiert. Eine Praxis, die allerdings beständig in der Kritik stand und politisch und militärisch, beispielsweise von der britischen Marine bei der Umsetzung des Slave Trade Act von 1807 und im Amerikanischen Bürgerkrieg, durchgesetzt wurde. Politik, Idealismus und wirtschaftliche Interessen gingen dabei Hand in Hand. Allerdings war die Abschaffung der Sklaverei, die zu jeder Zeit und in allen Gesellschaften von Einzelnen immer als unmenschlich kritisiert worden war, eine Leistung der Aufklärung. Sklaverei war keine Erfindung des Westens, es gab sie seit Anbeginn der Menschheit und auch die Sklaverei in Afrika, der größte Teil der geraubten Menschen wurde nach Brasilien, in die Kolonie des mit Portugals später einem der ärmsten Länder Europa, verschleppt, war kein exklusives Verbrechen der Europäer:

„1501 bis 1900, als über 12,5 Millionen Afrikaner nach Amerika geschafft wurden, sollen zugleich 1.844.000 Sklaven auf den Karawanenstraßen durch die Sahara in den Maghreb gelangt sein, 1.322.000 nilabwärts nach Ägypten, 1.172.000 aus Ostafrika durch das Rote Meer vor allem nach Arabien und 533.000 aus Ostafrika in die Länder am Persischen Golf und nach Indien, zusammen 4,9 Millionen. 1780 bis 1840erreichte dieser Sklavenexport in den Orient sogar seinen Höhepunkt. Doch der Sklavenhandel der Muslime war runde 800 Jahre älter als der westliche, so dass heute mit einer Gesamtzahl von 6 bis 7 Millionen allein durch die Sahara, insgesamt mit mindestens 12, von manchen sogar mit 17 Millionen gerechnet wird. Eine andere Schätzung veranschlagt für 1401 bis 1900 neben 12,6 Millionen über den Atlantik 3,6 Millionen für die Sahararoute und 2,3 Millionen für den Indischen Ozean, vor allem aber weitere 18,5 Millionen für den Sklavenhandel innerhalb Schwarzafrikas, zusammen 37 Millionen Menschen!“[10]

Die europäischen Sklavenhändler trafen zudem auf erfahrene afrikanische Händler, die ihnen auf Augenhöhe entgegentraten und wussten, welchen Preis sie für Menschen verlangen konnten:

„Die Afrikaner waren gute Geschäftsleute, die wussten, was sie verlangen konnten. Die europäischen Schiffe brachten Metallwaren, nicht zuletzt Musketen samt Schießpulver; Textilien, vor allem aus Baumwolle und Leinen, Schnaps, Tabak, wo es ging, Kaurimuscheln als Zahlungsmittel und anderes mehr, um dafür Sklaven einzutauschen.“[11]

Spannend ist, dass sich unter den Menschen, die zurzeit mit großer Begeisterung den – vorhandenen – Rassismus und die bis heute anhaltenden Folgen des Kolonialismus kritisieren, nicht wenige sind, deren Wurzeln in der arabischen Welt liegen. Dass sie sich heute als People of Colour bezeichnen und damit in die Nähe der Schwarzen stellen, lässt sich im besten Fall durch mangelnde Kenntnisse der Geschichte der Herkunftsregion oder aber durch den Versuch, die Aufklärung und den Westen, ohne jede Rücksicht kritisieren zu wollen, erklären.

Der Kolonialismus gehört ohne Zweifel zu den großen Verbrechen Europas. Die hemmungslose Ausbeutung der Menschen in den eroberten Territorien und zahlreiche Genozide müssen weiter und intensiver erforscht werden. Vor allem in Deutschland ist das Wissen um die eigene Kolonialgeschichte und die damit verbundenen Verbrechen noch nicht in ausreichendem Maße im Bewusstsein der meisten Menschen. Aber die Eroberung und Ausbeutung von Menschen inklusive Massenmorden und Genoziden war keine Spezialität der Europäer. Alle Großreiche der Geschichte trugen diese Elemente in unterschiedlichem Maße in sich. Schon gar nicht waren die Kolonien für den wirtschaftlichen Aufstieg Europa entscheidend. Die Kosten waren zu hoch, die Idee, sich militärische Rohstoffe und Absatzmärkte zu sichern in der Praxis bereits während der Phase des Hochimperialismus überholt.

Seit Beginn der Dekolonisierung hat sich das weltweite Wirtschaftswachstum verdreifacht:

Der Beginn der Kolonisationsgeschichte ab 1500 hatte so gut wie keine Auswirkungen. Die großen Wachstumstreiber waren der Welthandel und technologische Innovationen. Die zahllosen Verbrechen der Europäer, aber auch die anderer Eroberer führten zwar zu schrecklichem Leid, aber nicht zu Wachstum. Die Dekolonisierung erwies sich für Westeuropa nicht als wirtschaftliches Problem. Im Gegenteil. Nach dem zweiten Weltkrieg stiegen die Kosten für Kriege an, um die Befreiungsbewegungen niederzukämpfen. Die Kolonialmächte hatten zudem einen Prozess in Gang gesetzt, den sie nicht mehr aufhalten konnten, wie Pascal Bruckner in „The Tyranny of Guilt“ schreibt:

„Indem sie schließlich ganze Kontinente den Gesetzen eines imperialen Herrn unterwarfen und ihnen gleichzeitig die Idee des Nationalismus und des Rechts auf Selbstbestimmung einprägten, gaben die Briten, Franzosen und Holländer den von ihnen Beherrschten die Instrumente ihrer Emanzipation in die Hand.“

Der große und der kleine Satan

Ein fester Bestandteil fast aller Anhänger des Postkolonialismus ist der Antisemitismus, der sich in diesen Zusammenhängen als Israelkritik auftritt. Die USA stehen noch mehr als Europa für den Westen. Die Islamisten nennen die USA den großen und Israel den kleinen Satan. Für die Postkolonialisten ist Israel ein kolonialistisches Projekt. Israel wird ein nicht belegbarer und nur herbeigehetzter, Völkermord an den Palästinensern vorgeworfen. Israel ist alles, was Islamisten und Postoklonialisten hassen: Es ist ein westliches Land, das in der Tradition der Aufklärung steht und wirtschaftlich erfolgreich ist. Also alles, was die meisten arabischen postkolonialistischen Staaten nicht sind. Israel die Schuld für dieses Versagen zu geben, hat auch viel mit Entlastung zu tun. Allerdings gibt die Zusammenarbeit zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten wie Marokko und den Vereinigten Arabischen Emiraten Grund zur Hoffnung, dass diese Zeiten ihrem Ende entgegen gehen. Doch was stört postkoloniale Theoretiker die Wirklichkeit? Je mehr ihnen Raum gegeben wird, umso stärker und offener wird sich der Antisemitismus in Medien und Hochschulen zeigen. Die Debatte um Achille Mbembe war nur ein Auftakt.

All die Vorwürfe gegen den Westen und die Aufklärung bedienen sich der Verbrechen des Kolonialismus und der Sklaverei, um die Idee in Verruf zu bringen, die in der Vergangenheit wie keine zweite erwiesen hat, dass sie das Leben der Menschen verbessern kann: Den Universalismus, die Überzeugung, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind und ein Recht darauf besitzen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen: Politisch, privat und wirtschaftlich.

Alles, was der postmoderne Komplex macht, hat das Ziel, die Aufklärung und alles, was mit den westlichen Gesellschaften verbunden wird zu zerstören. Eine Alternative, über die diskutiert und gestritten werden könnte, gibt es nicht.

Aber natürlich wird dieses Projekt nicht aus einem negativen Idealismus heraus betrieben. Es geht um Geld und Macht, darin unterscheiden sich die aktuellen Kampagnen nicht von ihren Vorgängerbewegungen. Hinter Organisationen wie den Neuen Deutschen Medienmachern stehen handfeste wirtschaftliche Interessen. Es geht um Stellen, Aufträge, Renommee. Antirassismus ist ein Geschäftsmodell wie alles im Kapitalismus. Kapitalismus bedeutet auch die Transformation von Ideen zu Geld, das ist seine Stärke und erst einmal spricht nichts dagegen, mit Wokeness und Antirassismus genauso Geld zu verdienen wie mit dem Verkauf von Gummibärchen.

Jobs an Hochschulen, in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten oder in einem der vielen staatlich alimentierten Betroffenheitsvereinen wie den Neuen deutsche Medienmachern oder dem Mediendienst Integration sind heiß begehrt und liegen nicht unbedingt im Zentrum der Leistungsgesellschaft. Caroline A. Sosat stellt fest: „Die queer geprägten Gender-Studies sind als Wissenschaft und als politische Szene im Verfall begriffen. An dieser Erkenntnis hängen die hart umkämpften Arbeitsplätze in der Akademie, Stipendien und Fördermittel“ und endet ihren Text mit der Feststellung: „Der Gender-Kaiser ist nackt – das ist allen bewusst oder unbewusst klar.“[12]

In den Anstalten kann zudem alles angewandt werden, was man an den Unis gelernt hat: Hier wird gegendert, obwohl es ein Großteil der Zuschauer ablehnt und aus Frauen werden „Als Frauen gelesene Menschen.“ Ist man als Journalist nicht davon abhängig, Akzeptanz bei seinen Lesern oder Zuschauern zu finden und bekommt sein Geld sicher aus Zwangsabgaben überwiesen, werden Redaktionen schnell zu postmodernen Krabbelgruppen.

Allerdings sollte man nicht übersehen, dass es ein Geschäftsmodell ist und dessen Auswirkungen autoritär sind. Journalisten verlieren wie Bari Weiss werden aus  ihren Jobs gedrängt, die Kinderbücher von Theodor Seuss Geisel (How the Grinch Stole Christmas!) können teilweise in den USA noch nicht einmal mehr bei eBay gehandelt werden und Wissenschaftler haben in Frankreich Angst über Islamismus zu sprechen, weil das ja angeblich rassistisch ist. Klassiker werden von den Lehrplänen gestrichen, aus den Newtonschen Gesetzen werden an ebenso woken wie teuren US-Eliteschulen die grundlegenden Gesetze der Physik, weil Newton Weißer war.

Je erfolgreicher das Geschäftsmodell ist, umso autoritärer wird die Gesellschaft, umso geringer werden die Freiräume, umso mehr verengt sich der Blick. Der Westen wird zu einer Gesellschaft, die vor allem durch Rassismus bestimmt ist und ihren Aufstieg Rassismus zu verdanken hat. Das ist natürlich Unfug. Natürlich gibt es in den westlichen Gesellschaften Rassismus. Aber das ist kein westliches Phänomen, es gibt ihn in China, Japan und der arabischen Welt und in Indien. Dass macht den Rassismus in der westlichen Welt nicht besser, aber es zeigt, dass er kaum als pauschales Argument gegen den Westen dient. Überträgt man die zentrale Thesen des Buches „Das Integrationsparadox“ des Dortmund Soziologen Aladin El-Mafaalani ist die Debatte über Rassismus sogar eher ein Zeichen dafür, dass der Rassismus in der westlichen Welt stark zurückgedrängt wurde. Das Tocqueville-Paradox, auf dass sich El-Mafaalani stützte, lautet, „dass sich mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten erhöht“. Tocqueville formuliertes es im 19. Jahrhundert nach einem Besuch in den USA, der Gesellschaft, in der die politische und rechtlich Gleichheit seinerzeit am weitesten fortgeschritten war. Die Debatte über Rassismus wird demnach umso heftiger geführt, je weniger Rassismus es gibt. Sie ist ein Zeichen des Erfolgs und kein Zeichen dafür, dass die Probleme größer werden.

Aber um die Lösung von realen Problemen, wie es sie ohne Zweifel bei der Suche nach Wohnungen und Arbeitsplätzen gibt, oder um den tödlichen Rassismus, der sich bei den die Morden von Hanau zeigte, geht es nicht. Die Auseinandersetzungen sind symbolischer Natur, die Nennung des Begriffs „Zigeunerschnitzel“ sorgt für mehr Diskussionen als die erbärmlichen Lebensverhältnisse von Sinti und Roma in Städten wie Gelsenkirchen oder Duisburg, wo sie in heruntergekommen Immobilen leben, die aus guten Gründen „Ekelhäuser“ genannt werden.

Kein Kampf um Teilhabe

Was da an Boden gewinnt, ist keine emanzipatorische Bewegung. Es geht nicht darum, Menschen Freiheit und Teilhabe zu erkämpfen, die bislang davon zum Teil ausgeschlossen waren. Das war der Ansatz des klassischen Universalismus und er trug dazu bei, in den vergangenen Jahrhunderten die Freiheit jedes Einzelnen auszuweiten und Unterdrückung und Diskriminierung zurückzudrängen. Keine andere Idee in der Geschichte der Menschheit hat die Welt jemals gerechter und freier gemacht.

Die Menschen werden wieder in Gruppen eingeordnet, die sie nicht verlassen können. Vom Antiessentalismus, der bei der Geschlechterfrage hochgehalten wird, ist hier nichts mehr übrig. Es herrscht klassischer Rassismus, eine Identitätspolitik, die keine Grenzen kennt. Weiße sind Rassisten und haben den Mund zu halten, sie taugen nur als Alliierte, als „Allys“, wenn sie sich unterordnen. Es gibt People of Color und Black People oft Colour. Und wer weiß ist und sich unterdrückt sieht, ist neuerdings ein White People of Colour. Jemand mit einem polnischen Elternteil zum Beispiel.  Weiße dürfen das Gedicht, das Amanda Gorman bei der Vereidigung von US-Präsident Joe Biden vortrug, nicht übersetzen, Heterosexuelle sollen in Filmen keine Homosexuellen mehr spielen und in US-Geschäften wird damit beworben, dass Produkte von „schwarzen“ Unternehmen stammen. Allerdings sind BPocs der Meinung, dass die helleren POCs zu oft in den Medien vorkommen und auch nicht so stark diskriminiert werden wie sie, was allerdings durchaus zutreffen dürfte. Um den Opferstatus ist ein Wettrennen ausgebrochen und die Antwort auf jedes Problem sind immer Gruppenrechte. Der Westen ist auf den Weg in eine ständische Gesellschaft, in der Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung zu den bestimmenden Faktoren werden. Weitere Kriterien dürften bald folgen. Der Phantasie des Menschen kannte immer schon keine Grenzen, wenn es darum ging, Menschen in Kategorien einzuordnen und ihnen bestimmte Eigenschaften zuzuordnen.

Natürlich stimmt es, dass weiße Männer lange Zeit die Gesellschaften des Westens dominierten – wie auch Männer mit anderen Hautfarben dies in anderen Gesellschaften taten. Die Welt war eine Männerwelt, aber die Diskussionen, dass sich dies ändern musste gingen ebenso vom Westen aus wie die Antisklavereibewegung. Die Lösung, die der Westen sich gegen Unterdrückung und Privilegien entwickelt hatte, bestand im Universalismus. Der hatte nicht nur ein befreiendes Element, sondern war die Grundlage für die Schaffung der neuen, modernen demokratischen Gesellschaften, die sich im 19. Jahrhundert begannen durchzusetzen, denn die brauchten etwas, was es in den Zeiten des Adels nicht gab: den Bürger. Und der konnte, nahm man die Postulate der Aufklärung ernst, nicht nach Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung unterschieden werden. Freiheit und Wahlrecht mussten erkämpft werden, aber die Aufklärung lieferte die Argumente, an denen niemand dauerhaft vorbeikommen konnte.  Seit dem 19. Jahrhundert setzte also eine Ausweitung der bürgerlichen Rechte ein. Deutlich wird das in den immer weiter herabgesetzten Voraussetzungen für das Wahlrecht: Das Wahlrecht wurde vom Landbesitz und den Steuern entkoppelt, Frauen durften wählen, das Wahlalter wurde herabgesetzt und in innerhalb der Europäischen Union dürfen auch Ausländer zumindest bei Kommunalwahlen wählen. Dieser Prozess wird wahrscheinlich weiter gehen, er ist ein Teil der Demokratisierung der Gesellschaften, der um 1800 eingesetzt hat. Und bleibt nicht ohne Folgen „Das Prinzip der Wahl funktionierte nach dieser Logik: Sie schuf Einheit, wobei zugleich die Person als Individuum gewürdigt und ermächtigt wurde. Der Freiburger Liberale Carl von Rotteck beschrieb 1818 die homogenisierende Kraft der Wahlen, die im Verbund mit der Verfassung aus den verschiedenen Gruppen in Baden «ein Volk» schufen: «Wir haben einen Gesamtwillen und ein anerkanntes Gesamtinteresse, d.h. ein Gesamtleben und ein Gesamtrecht.“[13]

Eine neue Ständegesellschaft

Indem er die Individuen aus den traditionellen Gruppe löst, schafft der Universalismus, wie am Beispiel des Effektes von Wahlen gezeigt, eine neue, demokratische Gesellschaft. Was Rotteck noch als Volk beschreibt, war schon damals nicht Völkisches mehr und schloss zum Beispiel die Nachfahren der Hugenotten ebenso ein, wie es heute bei Migranten der Fall ist. Wer also nun versucht, über Sonderregeln für bestimmte Gruppe, Paritätsgesetze oder Migrantenquoten den Universalismus auszuhebeln, will nichts anderes als eine Gesellschaft gleichberechtigter Individuen verhindern, die sich mit allen anderen Bürgern als Teil von etwas sehen, das größer ist als sie selbst: eine demokratische Gesellschaft. Sie streben eine Ständegesellschaft an, in der es den Menschen nicht möglich ist, die Gruppe zu verlassen, in die sie hineingeboren wurden. Dass dies mit einer emanzipatorischen Rhetorik verdeckt wird, macht in der Konsequenz keinen Unterschied, bedeutet aber für die Protagonisten Jobs und Macht.

Wollen wir wirklich eine neue Ständegesellschaft? Natürlich kann die Mehrheit das so beschließen. Aber sie müssen sich klar machen, was das bedeutet: Einen Rückschritt um Jahrhunderte in eine Gesellschaft, die keine soziale Mobilität und kein Streben nach dem persönlichen Glück kannte. Es ist das eine, irgendwelchen Hypes hinterher zu laufen, etwas anderes ist es, darüber nachzudenken, was die Konsequenzen sind.

In Deutschland gesellt sich zu all dem ein seit den frühen 70er Jahren immer weiter um sich greifenden Postmaterialismus, ein Produkt des Zusammengehens von der Arbeiterklasse enttäuschter Linker mit schon immer technikskeptischen und in Opposition zur Aufklärung stehenden Konservativen.  Sprechen sich in den USA Unternehmer wie Bill Gates dafür aus, auf Herausforderungen wie den Klimawandel mit verstärkter Forschung und neuen Technologien zu reagieren, weil es ja darum ginge allen Menschen auf der Welt ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen, kennt die Szene in Deutschland und Europa als Antwort nur den Verzicht. Deutschland steigt aus der Kernenergie und großen Teilen der Gentechnik. Die Welt, mindestens aber die Staaten der Europäischen Union, sollen folgen. Technologien zur Absonderung von C02 will man nicht und der Digitalisierung begegnet man mit Skepsis. Den Datenschutz trägt man wie eine Monstranz vor sich her. Während Staaten wie China und Südkorea immer mehr Patente anmelden, stagniert in Europa der technische Fortschritt. Sollen eine Fabrik, ein Wohnhaus oder ein Schulneubau errichtet werden, ist immer eine Bürgerinitiative in der Nähe, die bereit ist, ein solches Projekt vor Gericht kaputt zu klagen. Natürlich geschieht dies auch, wenn es um Windräder oder Stromleitungen geht. Die Szenen überlappen sich, bilden sich ergänzende Fronten: Fridays for Future kämpft gegen den Klimawandel, Neubauten und das Ende des Kapitalismus. Gleichzeitig ist man für ein Europa ohne Grenzen. Wo die Menschen, die man einlädt, zu kommen, wohnen und arbeiten sollen, ist eine Frage, auf die man keine Antworten hat. Es ist bequem, Politik und Gesellschaft mit widersprechenden Forderungen unter Druck zu setzen, zumal wenn man sie nicht verbessern, sondern zerstören will. Die Folgen werden Wohlstandsverluste sein, die sich immer leichter auf Demonstrationen fordern als im Alltag ertragen lassen, zumal wenn man nicht zu den wenigen Glücklichen Upper-Class-Kids wie Luisa-Marie Neubauer gehört, die sich über ihre wirtschaftliche Zukunft weniger Gedanken machen müssen als über die Karriereoptionen, die sich durch den Protestruhm ergeben.

Es macht Sinn, sich die unterschiedlichen parallellaufenden Diskussionen über Identitätspolitik, Cancel Culture, die Welle der Wokeness, eines Feminismus, der die Frau abschaffen will, und den vor allem in Europa starken Postmaterialismus zusammen anzusehen. All diese Ideologien haben das Ziel, Universalismus, Aufklärung und die Freiheit des Individuums anzugreifen. Sie sind reaktionär, weil sie eine Reaktion auf die Aufklärung sind und nichts als einen Rückfall in die Zeit vor ihr anzubieten haben – und das sogar materiell.

Natürlich kann sich eine Gesellschaft dazu entscheiden, dieses Weg zu gehen. Die Europäer Europa ließen die griechisch-römische Zivilisation hinter sich und lebten danach über Jahrhunderte mit Schweinen und Kühen unter einem Dach und hatten Angst vor Dämonen, die im Wald lebten und vor Teufeln, die ihr Unwesen im Kamin trieben. Und klar. So schlimm wird es nicht kommen, zumindest nicht für alle. Die, die es so nicht wollen, werden einfach gehen und den Rest in Ruhe lassen. Das Zentraleuropa, das das Europa nördlich der Alpen, ein Ort des Wohlstandes und weltbewegender philosophischer Aufbrüche war, ist, betrachtet man die vergangenen Jahrtausende, eine Ausnahme gewesen. Gut gelebt und klug gedacht wurde eigentlich immer ums Mittelmeer herum. Es gibt keine Garantie, dass Mitteleuropa auch in 100 Jahren eine freie und wohlhabende Region ist. Dafür braucht es technologische Offenheit, politische Freiheiten und den Willen, den anderen zu ertragen, auch wenn man vieles was er sagt ablehnt. Kurzum Toleranz. Und man muss zumindest eine Ahnung für den Wert dessen entwickeln, was hier in den vergangenen Jahrhunderte erdacht und geschaffen wurde. Europa war nicht nur Sklaverei und Kolonialismus, es war vor allem Aufklärung, technischer Fortschritt, freie Wissenschaft, Kapitalismus, Demokratie und Menschenrechte. Wer dieses Erbe aufgeben anstatt weiterentwickeln möchte, kann das gerne tun. Aber sich kurz klar zu machen, was man aufgibt bevor man es tut, kann nicht schaden.

Quellen:

[1] Stefan Münker, Alexander Roesler. Poststrukturalismus, Stuttgart, 2012

[2] Stegemann, Bernd. Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, Stuttgart, 2021

[3] Kleie, Stefan: Wer haftet für die „woke“ Identitätspolitik? FAZ, 5. März 2021

[4] Pascal Bruckner: „Die einzige Identität, die den Weißen noch erlaubt ist, ist die Identität der Reue“, Welt, 27. Januar 2021

[5] Lind, Michael: The New National American Elite, Tablet-Mag, 20. Januar 2021

[6] Eva Schweitzer: „Der Hass der politisch Korrekten“ Cicero, 23. Dezember 2019

[7] Spektrum-Lexikon: Geschlecht, 2021

[8] Hans Rosling, Rönnl Rosling und Anna Roslin: Factfulness, Berlin, 2018

[9] Hedwig Richter: Demokratie – Eine deutsche Affäre, München 2020

[10] Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015., München, 2016

[11] Reinhard

[12] Caroline A. Sosat: Grüße von der Gender Front, NZZ, 10.November 2017

[13] Richter