MESOPOTAMIA NEWS : EINZIG AUSCHWITZ  LÄSST SCH NICHT GLOBALISIEREN- ALLES ANDERE SCHON /  „HOLOCAUST“ EINE ONTOLOGISCHE KATEGORIE  :  sui generis !

Streit um die Gedenkkultur : War der Holocaust eine koloniale Tat? – Von Claudius Seidl  –FAZ –  01.03.2021

+Ist die deutsche Art, der eigenen Verbrechen zu gedenken, borniert? Muss die Ermordung der europäischen Juden aus postkolonialer Perspektive betrachtet werden? Über den neuen Historikerstreit.

In diesen Tagen wird allseits daran erinnert, dass seit genau 1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland (die Gegend hieß damals Germania inferior) belegt ist – und wer aus diesem Anlass nicht nur Schönes und Besinnliches sagt, sondern daran erinnert, dass vor nur achtzig Jahren dieses Leben ein für allemal ausgelöscht werden sollte, was ein unfassbares, ungeheures, beispielloses und historisch absolut singuläres Verbrechen sei: Der setzt sich damit dem Vorwurf aus, dass das eine bornierte und provinzielle Haltung sei, ein typisch deutscher Sonderweg.

Wer nämlich den Massenmord an den europäischen Juden nicht nur pflichtgemäß verdamme und verabscheue, sondern aus dieser Schuld der Groß- oder Urgroßväter die Verpflichtung zur unumstößlichen Loyalität und Solidarität gegenüber den Juden und dem Staat Israel ableite:

Der mache es sich letztlich bequem in den vertrauten moralischen Verhältnissen. Und vergesse darüber all die anderen Opfer von Rassismus und kolonialer Gewalt, inklusive der Palästinenser in Gaza und dem Westjordanland. Zudem sei das Beharren auf der Einzigartigkeit des deutschen Verbrechens womöglich nur ein Vorwand dafür, den Kontext und die Vorgeschichte zu ignorieren und aus dem Massenmord einen moralischen Betriebsunfall zu machen, ein gewissermaßen ahistorisches Ereignis, das man aus der deutschen Erinnerung und Geschichte gut auslagern kann – als gut gesicherte moralische Bad Bank, in der deutsche Schuld und Erinnerung konserviert werden, aber mit der deutschen Gegenwart, dem deutschen Alltag keine Berührungspunkte mehr haben.

Dieser Streit über die vermeintliche Beschränktheit deutscher Erinnerung und der Anspruch, den Holocaust aus einer globalen und postkolonialen Perspektive zu betrachten (und, womöglich, besser zu verstehen), das ist beides nicht ganz neu. Dass die Diskussion aber in dieser Saison mit so viel Leidenschaft und Aggression wiederaufgenommen worden ist, hat wohl, einerseits, mit Achille Mbembe zu tim, dem preisgekrönten und hochdekorierten kamerunischen Autor und Historiker, der es sich im vergangenen Frühjahr gefallen lassen musste, dass deutsche Leser in seine Werke tatsächlich mal hineingeschaut haben, zuallererst in das Buch „Politik der Feindschaft”; und dass sie darin vor allem ein vages, unbestimmtes und unbelegtes Raunen über den Zusammenhang von Demokratie und Kolonialismus fanden -und konkrete Aussagen nur da, wo es um und vor allem gegen Israel geht, dessen Besatzungsregime schlimmer als die südafrikanische Apartheid und der größte moralische Skandal der Gegenwart sei. Es gab, auch in anderen Texten, Belege genug für den Vorwurf, dass Mbembe ein starkes Ressentiment gegen den Staat der Juden habe – was den kulturellen Betriebsfrieden in Deutschland schon deshalb gewaltig störte, weil Mbembe eingeladen war, den Festvortrag zur Eröffnung der Ruhrtriennale zu halten. Wegen Corona fiel die Feier aus, der Streit ging aber weiter. Und in einem soge-nannten Plädoyer für Weltoffenheit warfen dessen Unterzeichner, einige der mächtigsten Funktionäre des deutschen Kulturbetriebs, den Kritikern Mbembes vor, borniert und provinziell zu urteilen: „Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren.”

Was offenbar heißen soll, dass der Afrikaner Mbembe für seine Israel-Feindschaft schon seine Gründe haben werde und dass das deutsche Publikum diese zu verstehen lernen müsse,

Und andererseits hat der wiederaufgelebte Streit damit zu um, dass einer der wichtigsten Texte zum Thema, eine sperrige Studie mit dem sperrigen Titel „Multidirektionale Erinnerung”, in diesen Tagen auf Deutsch (im Metropol Verlag) erschienen ist, fast zwölf Jahre nach der englischsprachigen Erstausgabe. Der Autor heißt Michael Rothberg, er forscht zu Holocaust und Kolonialismus – und wenn man das Thema des Buchs (das sich sehr häufig in Details verläuft und verliert) zuspitzen wollte, dann liefe es wohl darauf hinaus, dass Erinnerung kein Nullsummenspiel ist; dass also das Erinnern an die deutschen Verbrechen nicht unbedingt bedeuten sollte, dass man dar-über die anderen Verbrechen vergisst.

Worum es dem Amerikaner Rothberg da geht, versteht man besser, wenn man

Amerikas Schwarze wollten nicht an den Holocaust, sondern an die Versklavung wenn man versucht, auch selbst eine amerikanische, am besten eine afroamerikanische Perspektive einzunehmen: Als der amerikanische Präsident Jimmy Carter im Jahr 1978 zum ersten Mal die Pläne für ein Holocaust Memorial auf der Mall in Washington präsentierte, gab es viel Zorn, Gekränktheit und Widerspruch: An den Völkermord im fernen Europa zu erinnern sei falsch und heuchlerisch – solange sich Amerika nicht eingestehe, was für ein unbegreifliches, ungesühntes und allseits verdrängtes Verbrechen die Versklavung von Millionen Afrikanern gewesen sei. Seit 2016 steht an der Mali auch das Museum of African American History and Culture. Dass sich trotzdem nicht allzu viel geändert und verbessert hat, demonstrierte im vergangenen Jahr die „Black Lives Mauer’-Bewegung.

Der Holocaust, seine Wahrnehmung durch Schwarze – und, vor allem, die Frage, wie sich die Gewalterfahrungsgeschichte der einstmals Versklavten oder Kolonisierten behaupten könne, angesichts der Ungeheuerlichkeit des deutschen Verbrechens (und der Schocks, die dieses Verbrechen ausgelöst hat): Darum geht es in „Multidirektionale Erinnerung”.

Rothberg zitiert Aime Cesaire, den karibisch-französischen Schriftsteller, der 195o, in seinem Essay „Über den Kolonialismus”, den Massenmord ein „Verbrechen gegen den weißen Menschen” nannte und von kolonialen Praktiken schrieb, „die bis dahin exklusiv für die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas reserviert gewesen waren”.

Rothberg zitiert und referiert W.E.B. Dubois, den afroamerikanischen Schriftsteller, Europa-Kenner und Weltreisenden, der 1949 nach Polen kam und in den Trümmern von Warschau auch seine eigenen Haltungen kaputtgehen sah. Zwei Jahre vorher hatte er noch geschrieben, dass es kein einziges Nazi-Greuel gebe, das die Europäer nicht seit langem den Menschen anderer Hautfarbe angetan hätten. Nach dem Besuch in Warschau schrieb er aber, dass er dort, in den Trümmern des Gettos, gelernt habe, dass das „Rassenproblem” keine Frage „der Hautfarbe, der Körperbaus, der Religion sei”; dass es vielmehr um „kulturelle Muster, pervertierte Lehren, menschlichen Hass und Vorurteile” ging. Es klingt in diesem Text, den Dubois „The Negro and the Warsaw Ghetto” überschrieb, bei allem Entsetzen fast so etwas wie Erleichterung durch, die Erkenntnis, dass es nicht die unveränderliche Hautfarbe ist; ja dass es überhaupt nicht die Eigenschaften des Opfers, sondern die des Täters sind, die am Anfang der Verbrechen stehen.

Dass Rassismus und Kolonialismus, dass also die Verachtung, Unterdrückung, Versklavung von Menschen in Afrika, Amerika, Asien in irgendeinem Zusammenhang stehen müssen mit ‘der Ermordung von Millionen Juden in Europa, das vermuten, ahnen, spüren eigentlich alle Autoren, mit denen Rothbergs Studie sich auseinandersetzt. Und auch für Rothberg selbst scheint es evident zu sein. Nur was genau es eben ist, in welchem Verhältnis Kolonialismus und Holocaust tatsächlich zueinander stehen, das lässt sich so leicht nicht bestimmen. Der Kolonialismus habe sich zuletzt gegen die Kolonisatoren gewandt, er sei endlich heimgekehrt nach Europa: Das ist eine Vermutung, der Cesaire und Dubois manchmal zuneigen; auch Mbembe scheint das so zu sehen. Haltbar ist die

These aber nicht; es waren ja die Deutschen und nicht die viel erfahreneren Kolonisatoren in England oder Frankreich, die den Völkermord begingen. Und die europäischen Juden hatten mit dem Kolonialismus nur insofern zu tun, als der Antisemitismus immer wieder behauptete, die Juden kolonisierten die ganze Welt. Was eine paranoide Phantasie und keine historische Tatsache war.

Der Kolonialismus verrohe und entmenschliche beide, die Kolonisierten und die Kolonisatoren, schreibt immer wieder Cesaire.

Und der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer hat 2011, in seinem Buch „Von Windhuk nach Auschwitz”, darauf hingewiesen, dass dem Völkermord an den Juden der Genozid an den Nama und Herero in Deutsch-Südwestafrika vorausging. Und dass die Ähnlichkeiten und Parallelen bestürzend seien. Allerdings haben die Historiker Robert Gerwarth und Stephan Malinowski gezeigt, dass Zimmerers Vermutung, wonach diese Gewalterfahrungen die Gewalt der Nazis direkt beeinflusst habe, nur schwer belegbar ist. Nicht nur wegen der fast vierzig Jahre, die zwischen den beiden Verbrechen liegen. Sondern auch weil es vergleichsweise wenige waren, die die kolonialen Erfahrungen machten – gerade im Vergleich zu den Millionen, die verstört und verroht aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen.

„Die Ermordung von ganzen Bevölkerungsgruppen ist eben nicht einzigartig in der Geschichte, sondern kam und kommt durchaus häufiger vor.” So schreibt Zimmerer, und so kalt und fast schon desinteressiert kann es klingen, wenn die Singularität des Holocausts unbedingt widerlegt werden muss und wenn das Verbrechen der Deutschen in den größeren verbrechensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden soll.

Es braucht aber gar nicht den Umweg über die Kolonien, wenn es um den Kon-text der deutschen Verbrechen geht; das kann man sehr anschaulich nachlesen in Peter Schäfers “Kurzer Geschichte des Antisemitismus”, die in diesem Winter (bei C.H. Beck) erschienen ist. Zum ersten Mal wurden ganze jüdische Gemeinden in Deutschland beim Ersten Kreuz-zug ausgelöscht, zum zweiten Mal, als die Pest umging, ein Vierteljahrtausend später. Das Konstrukt der Rasse war noch unbekannt; es ging nur darum, dass Menschen anders lebten, anders aßen, anders glaubten. Der Begriff des Antisemitismus ist eine Erfindung der Antisemiten; der Hass auf die Juden sollte in säkularisierten Zeiten eine scheinbar wissenschaftliche, biologische Grundlage bekommen. „Ich will die Juden nicht umbringen oder abschlachten, sie auch nicht aus dem Land vertreiben; ich will ihnen nichts nehmen von dem, was die einmal besitzen”: So stand das 1875 in der „Gartenlaube”; wer solche Sätze schreibt, hat das Undenkbare längst erwogen.

Der Kolonialismus bleibt ein Problem der Gegenwart, auch der deutschen, worauf Jürgen Zimmerer immer wieder beharrt; und der postkoloniale Blick auf die deutschen Verbrechen, die Betrachtung des Holocausts im Gesamtzusammenhang der globalen Gewaltgeschichte mag den Nachfahren der kolonisierten und Versklavten manche Erkenntnis bringen, wie Rothmann zeigt.

Aber was folgte daraus denn für die Deutschen? Und was für die Juden, speziell in Israel? Sollen wir uns darauf einigen, dass so etwas wie der Holocaust „häufiger” vorkomme? Sollen die Leute in Israel sich anhören, dass ihr Sicher-heitsbedürfnis übertrieben sei; andere Völker hätten doch auch üble Erfahrungen gemacht?

Kann schon sein, dass das borniert klingt, aber die Ermordung der Juden war eben in erster Linie das Werk der Deutschen – und ganz egal, ob einer heute der Nachkomme von Tätern, Indifferenten oder der wenigen Widerstandskämpfer ist: Man bewohnt jedenfalls als Deutscher einen gemeinsamen Geschichts- und Erinnerungsraum mit den Nachkommen der Opfer und Überlebenden. Und daraus ergeben sich Verbindlichkeiten, die mit dem Hinweis auf multidirektionale Erinnerungen nicht erledigt oder suspendiert sind. Die deutsche Verantwortung nimmt uns Rothberg nicht ab.

Und doch werden wir unseren Erinnerungsraum erweitern müssen, worauf Rothberg neulich völlig zu Recht hingewiesen hat: Mehr als elf Millionen Deutsche haben keine deutsche Vorgeschichte; sie sind zu uns gekommen aus Gegenden, die ihre eigenen Probleme haben, und sie haben ihre eigenen Erinnerungen im Gepäck. Man kann ihnen natürlich, ganz im Sinn von Rothbergs Multidirektionalität, empfehlen, sich mit der deutschen Vorgeschichte zu befassen und die deutschen Erinnerungen zu ihren zu machen, Was aber streng genommen die Forderung nach sich ziehen müsste, dass Menschen mit deutscher Vorgeschichte sich endlich auch den syrischen, türkischen, persischen Erinnerungen öffnen.

Vermutlich wären beide von beidem überfordert. Deutsche Verantwortung lässt sich nicht globalisieren.

CLAUDIUS SEIDL