Risse in der Kathedrale / Von Dietmar Dath (FAZ)

MESOP EXTRA: DIETMAR DATH ÜBER :  „jungle world“ Hipsters, die nicht vom Sozialen reden mögen, aber von der sozialkonstruktivistisch-linken Losung „Rasse ist ein gesellschaftliches Konstrukt“, der neuerdings von Alt-Right-Köpfen die Parole „Gesellschaft ist ein Rassenkonstrukt“ entgegengehalten wird.

Rechts, links, Ausfallschritt: Zerbrechen die reichen Gesellschaften in Gruppen und Horden? Nicht nur der Blick nach Amerika lässt das vermuten. Von Dietmar Dath

Gruppenrempelei überall: Großbritannien verlässt die Europäische Union, Schottland droht damit, im Gegenzug Großbritannien zu verlassen, ein Funktionär des Erdogan-Regimes verheißt dem Kontinent Religionskriege, während in der Zeitschrift „The New Republic“ ein Linksliberaler namens Kevin Baker vorschlägt, statt Protesten gegen Trump doch einfach die Vereinigten Staaten aufzugeben – und zwar zonenweise, beginnend mit liberalen Verwaltungseinheiten, etwa Kalifornien. Unterdessen hat der Sänger der erfolgreichsten Heavy-Metal-Band der Welt, James Hetfield von Metallica, mürrisch angekündigt, Kalifornien verlassen zu wollen, weil er da dauernd von Veganern scheel angeguckt wird, wenn er mal ein Tier abgeschossen und auf seine Transporter-Ladefläche geworfen hat. Die Wissenschaftler Alfredo J. Morales und Yaneer Bar-Yam vom New England Complex Systems Institute und dem Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology haben bereits zwanzig sozioökonomisch und politisch-ideologisch klar gegen den Bundesrest abgegrenzte Areale ausgemacht, die bei einer Balkanisierung des Staates, den Donald Trump wieder groß machen will, zusammenklumpen würden.

Das Hausorgan des derzeit bekanntesten deutschen rechtsautoritären Publizisten Götz Kubitschek, den Journalisten auf seiner Burg besuchen und interviewen, als wäre er eine Mischung aus Eremit und exzentrischem Popstar, heißt „Sezession“, also Abspaltung, es geht auch dort gegen Konsens, Integration, Zusammenleben, genau wie beim jüngsten binneneuropäischen Versuch, eine Ideologie zu stricken, die Gebietskartelle zur zukunftsweisenden Idee erklären soll, der „Identitären Bewegung“. Unter „Identität“ versteht man da einen Spaltpilz, der die Welt nach Daumenregeln wie „Wir sind Deutsche, ihr nicht“ sortiert. Wer freilich beispielsweise Deutschland kennt, weiß, dass das Spiel mit diesem Sortiermanöver nicht enden müsste, da etwa die Ossis die Wessis nicht deshalb schon liebhaben, weil beide Deutsche heißen können; und wer aus Baden-Württemberg kommt, kennt die Meinung der Badener über die Schwaben und umgekehrt, die Differenzen zwischen Karlsruhern und Freiburgern und so fort. An den Tabellen, die erklären, wann, wo, wie und warum ich mich eher als Deutscher denn als Badener, gegenüber Muslimen aber andererseits als Europäer fühlen soll, arbeiten die Identitären derzeit fieberhaft und ignorieren jeden Familienstreit, bei dem die Müllers aufeinander losgehen, weil sie fest daran glauben, dass der Hass auf die Meiers von nebenan den Müllerzerfall schon stoppen wird.

Amerikanisches Pendant der Identitären ist die „Alt-Right“, eine vor allem im Internet aktive, alles andere als bruchlose Koalition von weißen Nationalisten, Männerbewegten, komischen Christen und sonstigen Splittern. Deren wichtigster Wahlspruch lautet: „Diversity Plus Proximity Equals War“, also: „Vielfalt + Räumliche Nähe = Krieg“, womit sie die Vereinigten Staaten (und manchmal den jetzigen Westen insgesamt) als eine Art Jugoslawien vor dem Auseinanderbrechen malen. Ihren europäischen Verwandten empfehlen sie die „Reconquista“, also die Rückeroberung Europas aus den Klauen muslimischer Invasoren. Oberster Imperativ all dieser Neurechten ist das Territoriale als nicht nur geographisches Lebensraumprinzip, gemeint sind also keineswegs bloß Vaterländer, sondern auch, zum Beispiel, wirtschaftliche Branchen. In der traditionsreichen amerikanischen Widerstandsrevue „Mother Jones“ konnte man von Kabalen der Alt-Right im Silicon Valley lesen, die autochthon Computerindustriebeschäftigte gegen per Visa legalisierte Konkurrenz aus Asien aufwiegeln. An den Universitäten wird der sozialkonstruktivistisch-linken Losung „Rasse ist ein gesellschaftliches Konstrukt“ neuerdings von Alt-Right-Köpfen die Parole „Gesellschaft ist ein Rassenkonstrukt“ entgegengehalten. Weiße christliche Männer, heißt das, haben die Zivilisation geschaffen und sollen sie jetzt wieder lenken. Säuberungen großen Stils werden verlangt, nicht nur ethnische.

Als Voraussetzung für zumindest politisch homogen besiedelte Gegenden scheinen solche Säuberungen in mancher Hinsicht längst stattgefunden zu haben: Schon 2008 erschien das Buch „The Big Sort – Why The Clustering of Like-Minded America is Tearing Us Apart“ des Journalisten Bill Bishop, in dem nach Parteien gefärbte Landkarten amerikanischer Präsidentenwahlen von 1976 (Jimmy Carter gegen Gerald Ford) einerseits und von 2004 (John Kerry gegen George W. Bush) andererseits eine gewaltige Veränderung anzeigen.

„Before the sort“, vor dem großen Sortieren, gab es zahlreiche umkämpfte Wahlkreise, in denen der Abstand zwischen den von den jeweiligen Kandidaten erzielten Ergebnissen weniger als zwanzig Prozent der abgegebenen Stimmen betrug. Im neuen Jahrtausend sind solche Gebiete zur auffälligen Seltenheit geworden. Der gewissenhafte Rechercheur Bishop markiert die Neunziger als den Zeitraum, als sich diese Kluft auftat – was zuerst auseinanderdriftete, waren ökonomische Kennziffern: Ausbildung, Jobangebote, Bezahlung. Die Mittelschicht schmolz in den ländlichen Regionen nach unten ab, Gegenden wie Westnebraska verloren den Anschluss gegenüber beispielsweise San Francisco in Kalifornien.

Wer vermutet, ein abstraktes Unheil namens „Neoliberalismus“ könnte damit etwas zu tun haben, sollte sich den Spezifika zuwenden, um die These zu überprüfen. Dann zeigt sich etwa, dass die Neunziger nicht nur in Amerika die Zeit waren, in der diverse großräumige Sozialabkommen aufgekündigt wurden – die Bauernregel „Erst stirbt der Flächentarifvertrag, dann bebt der Flächenstaat, falls er sich über Wahlen legitimiert“ fasst den Vorgang eingängig zusammen. Wo das Gemeinwesen zittert, bilden Abstiegsängstliche Wagenburgen um ihre religiösen, ethnischen und sonstigen Gewohnheiten. Diese Art des Sortierens ist der Soziologie nicht erst aus der jüngsten Zeitgeschichte und aus Nordamerika bekannt, man hat es im letzten Jahrhundert als „Versäulung“ (verzuiling) auf religiöser Grundlage der Niederlande intensiv studiert.

Nun ist ja Glaube als etwas Traditionsgebundenes natürlich ohnehin verdächtig, dem integrativen Fortschritt einen Trägheitswiderstand entgegenzusetzen. Aber leben wir nicht in einer Zeit, in der die kosmopolitische Popkultur mit ihrem emotionalen Versprechen allgemeiner Teilhabe am Glück dergleichen Bremsmasse weltweit zersetzt? Dieser Traum ist zumindest gefährdet. Der kluge Musikpublizist Klaus Walter kondolierte der Familie Obama nach der Trump-Wahl in der linken Berliner Wochenzeitung „Jungle World“ unter der Überschrift „Pop tritt ab“, weil von nun an großartige Kunstschaffende wie Beyoncé oder Kendrick Lamar wohl nicht mehr im Weißen Haus ein und aus gehen dürften. Wer statt von dieser Katastrophe davon rede, dass der ethische und stilistische Glanz der Obama-Zeit den erwähnten Abstiegsängstlichen offenbar nicht genug geboten hat, um ihr Abstimmungsverhalten zu beeinflussen, sei, so Walter, ein „Trump-Versteher“ und wolle mit der Wiedereinführung ökonomischer Kategorien in die politische Analyse offenbar „das Comeback von Haupt- und Nebenwiderspruch betreiben“. Andererseits ließe sich natürlich auch fragen, ob der Verlust von Pop als Staatskunst wirklich das erste Übel ist, das man beklagen soll, wenn ein Mann Präsident wird, der Menschen, die fürchten müssen, aus der Krankenversicherung zu fallen, noch in der Abstimmungsnacht in den Selbstmord treibt, und wenn so ein neuer Präsident den Schatten des Ausnahmezustands übers Land wirft, indem er ankündigt, gegen die Zustände in überwiegend von Schwarzen bewohnten Innenstädten bewaffnete Abteilungen des Bundes als rassistische Bürgerkriegstruppen einsetzen zu wollen. Walters von vielen Hipsterlinken geteilte Vorstellung, wer vom Geld rede, wolle Ökonomie zum Hauptproblem erklären, Kultur- oder Identitätsfragen aber zu Nebensachen, bekämpft das Zerrbild eines Marxismus, den es so als Theorie (statt als Propagandahammer) kaum je gegeben hat. Selbst Lenin hatte noch innerhalb seiner schematischsten Klassenanalysen Platz für einander über- und durchkreuzende Privilegienlinien, Stichwort „Arbeiteraristokratie“. Wer sozioökonomisches Denken nur in Gestalt der Schriften von Thomas Piketty und David Graeber kennt, wird den Bruchlinien, um die es beim „Big Sort“ geht, mit naiven Umverteilungsphantasien begegnen. Als Gegengift hierzu sind Bücher der von Modebewussten eher gemiedenen Tradition der Kritik der politischen Ökonomie wie Kees van der Pijls „Transnational Classes and International Relations“ (1998) oder „Divided World Divided Class“ (2012, erweitert 2015) von Zak Cope vielleicht nicht die dümmste Lektüre.

Mindestens zweifelhaft darf man den Einfall nennen, irgendeinen angeblich naturwüchsig aus der Unterhaltungssphäre entsprungenen Pop-Universalismus für die ideale Wunderwaffe gegen das überall immer militanter auftretende „schlechte Besondere“ (Hegel) zu halten. Gerade in der Popgeschichte sind Separatismus, Differenz sowie Identität nicht selten bitter berechtigte Kostüme und Strategien von Minderheiten gewesen, ohne deren kulturelle Überlebenspraxis Pop nie zu sich gekommen wäre. Die Kehrseite dieser Wahrheit ist aber, dass unter entsprechenden schlechten Vorzeichen Popkulturverteidigung genauso chauvinistischer Schwachsinn sein kann wie jede andere sammlungsbewegte Kulturverteidigung.

Denn zwar ist Kultur ein wichtiger sozialer Klebstoff, aber wer zu lange daran schnüffelt, öffnet sich Formen des Wahns – wie neuerdings etwa der stark popkulturaffine Slavoj Žižek, der neben allerlei Klassenkampfgeplapper den Europäern auch den „Schutz der eigenen Lebensweise“ empfiehlt, wozu Thomas Ebermann im aktuellen Märzheft von „Konkret“ das Nötige gesagt hat: „Žižek animiert seine große Leserschaft und sein zahlreiches Veranstaltungspublikum, das gebildet, gutsituiert und keineswegs proletarisch ist, zur Enthemmung.“

Noch deutlich rechts von Žižek denkt und schreibt ein anderer, der demselben internationalen akademischen Milieu entstammt wie der slowenische Philosophaxenmacher: Der Engländer Nick Land war Mitglied des legendären Cybernetic Culture Research Unit der Universität von Warwick, hat 1992 ein ausgezeichnetes, aber ziemlich finsteres Buch über den französischen Fundamentalnegativisten Georges Bataille veröffentlicht („The Thirst For Annihilation“) und sich seither zum führenden Kopf der sogenannten „Neo-Reaction“ (oder auf Netzenglisch: „NRx“) gemausert. Diese nach eigenem Selbstverständnis keineswegs konservative, aber scharf gegen links positionierte Ideologie fußt auf den Denkschriften des Computerprogrammierers Curtis Yarvin alias Mencius Moldbug. Der wiederum vertritt als strikt antiprogressiver Polemiker zwei Hauptthesen: 1. Die von Universitäten und Medien im Westen vertretene Lehre des Menschenrechtsuniversalismus ist keine Evidenzwahrheit, sondern eine Religion. Jene Universitäten und Medien bilden zusammen eine Kirche – Moldbug schreibt: „Cathedral“, also Kathedrale – und verfolgen Abweichlerei mit politisch korrektem Gesinnungsterror. 2. Gegen die Kathedrale, die an Ethno- und Religionskonflikten sterben wird, muss eine Politik vorbereitet werden, in der die Klugen, Starken und Produktiven wieder über die Geschicke der Dummen, Schwachen und Faulen bestimmen. Diese andere Politik nennt Moldbug „neocameralism“, ein komplexes Konzept von untereinander konkurrierenden Gemeinwesen, die sich aus dem universalistischen Unsinn der Gegenwart (zum Beispiel per Brexit, oder wie Trump sagt: „Brexit plus plus plus . . .“) befreien müssen. Jede dieser neokameralistischen Gemeinschaften wird auf die Dauer kulturell homogen und ansonsten wie eine Firma geführt.

Mit solchen Ideen verhalten sich Moldbug und Land zu Donald Trumps Berater Steve Bannon wie der denkende Adorno zum agitierenden Rudi Dutschke – das heißt, man findet zwischen der anspruchsvollen und der Hauruck-Variante eine Menge Unterschiede. Beide aber ziehen die Plausibilität ihrer Propaganda unter anderem aus dem Umstand, dass Profite heute selbst von transnationalen Unternehmen immer noch national realisiert werden und die großen Freihandelsprojekte zwischen den einzelnen Spielern umkämpfter sind, als sich diejenigen träumen ließen, die das Projekt „Globalisierung“ schon für eine abgeschlossene Tatsache hielten statt für eine historische Tendenz. Die Brüche im Westen haben mehr Kontinuität, als das entsetzte Starren auf Trump wahrhaben will: Auch Obama hat Deutschland schon wegen seiner Exportüberschüsse ermahnt, er tat’s nur kultivierter als Trump.

Im Video sagt der rechtsautoritäre Publizist Götz Kubitschek ab Minute 48:00 er mache sich um die Deutschen Sorgen, weil die Frauen vom Bahnhofsvorplatz nicht schlagkräftig von einheimischen Männern verteidigt worden seien.

Dieser nun wird seinen versäulten Fans die versprochene Rückkehr zu Prosperität und Sicherheit nicht liefern können. Viele von ihnen werden ärmer werden, unsicherer auch. Sein isolationistisches Geschwätz verspricht die Rettung vor den krisenhaften Folgen des Weltmarkts. Sollen die ärmeren Amerikaner jetzt aber teurere Produkte kaufen, weil es amerikanische sind? An der Unerfüllbarkeit von nationalstaatlicher Autarkiesehnsucht sind im letzten Jahrhundert schon ganz andere gescheitert, und dass Trump solche Versprechen auch noch mit Stimulanzprogrammen für die Binnenwirtschaft salzt, sollte nicht nur alle nervös machen, die sich noch an Wolfgang Schivelbuschs Abhandlung „Entfernte Verwandtschaft – Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939“ erinnern. Nicht alles kann überall gleich rentabel erzeugt, nicht alles von überallher gleich effektiv verkauft werden. Seit internationale Arbeitsteilung, oft als Abhängigkeit, aufkam, ging es zu, wie Marx zwischen 1857 und 1858 notierte: „Der historische Prozess war die Scheidung bisher verbundner Elemente; sein Resultat ist daher nicht, dass eins der Elemente verschwindet, sondern dass jedes derselben in negativer Beziehung auf das andre erscheint“, kurz: Wenn man nicht aufpasst, gibt es Hauen und Stechen. Diese beiden, als erst verdeckte, dann immer deutlichere Drohung, sind die Hauptgeschmacksverstärker in den Rezepten der Neurechten. Wo „links“ heute nur heißt: fromme Sprüche klopfen und ansonsten Freihandelsabkommen, Vorfahrt für die weltweit Stärksten und Mildtätigkeit für den Rest, gibt es eine Verantwortung dieser Linken für den Anstieg des rechten Lärmpegels. Man überhöre nicht, dass Götz Kubitschek auf einer Veranstaltung nach der berühmten Kölner Silvesternacht erklärt hat, er mache sich um die Deutschen Sorgen, weil die Frauen vom Bahnhofsvorplatz nicht, wie das in anderen Ländern geschehen wäre, schlagkräftig von einheimischen Männern verteidigt worden seien. Man überlese nicht, dass Nick Land geschrieben hat, das Interessante an Zombiefilmen sei, wie darin die ästhetische Auseinandersetzung darüber stattfinde, welche Wesen in Menschengestalt man töten dürfe und welche nicht. Wo viele fürchten, es werde ihnen bald schlechter gehen, obwohl die Menschheit technisch gesehen so produktiv ist wie noch nie, gibt es nur zwei Möglichkeiten: das Chancengefälle auf dem höchsten Niveau ausgleichen oder aber andere wegsortieren und runtertreten, auf deren Kosten man den eigenen Standard halten oder verbessern will.

Rosa Luxemburg hat vor rund hundert Jahren gewarnt, die Menschen würden, wenn sie Chancen nicht nutzten, die ihnen der erreichte Stand ihres Erzeugungsvermögens eröffne, diese Produktivkräfte als Zerstörungsmächte in fürchterlichen Rangkämpfen kennenlernen. Das Jahrhundert, das seither verging, sollte als Bekräftigung dieser Warnung genügen.

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