“Erdogan will seine eigene Diktatur errichten” / Zülfü Livaneli

Zülfü Livaneli ist einer der wichtigsten Schriftsteller der Türkei. Er sieht Premierminister Erdogan am Ende, ist gegen eine EU-Mitgliedschaft und sorgt sich um die Zukunft der Protestbewegung.

Von Iris Alanyali – 20.6.2013 – Wenn Zülfü Livaneli spricht, hört die ganze Türkei ihm zu.

Mit den politischen Verhältnissen des Landes kennt der 67-jährige Schriftsteller sich aus wie kaum ein zweiter. Er begann als linker Verleger und entging 1973 im Gefängnis der Folter, indem er mit einem Grippemedikament einen allergischen Schock bei sich auslöste. Viele seiner mehr als 500 Lieder, die er im schwedischen Exil zu schreiben begann, sind Volkshymnen geworden, “Özgürlük” (Freiheit) wurde zuletzt von den Demonstranten im Gezi-Park gesungen. 2002 wurde er als Mitglied der Atatürk-treuen Republikanischen Volkspartei CHP ins Parlament gewählt, trat wegen des “immer nationalistischeren” Abdriftens 2007 aus der Partei aus und kämpfte als unabhängiger Abgeordneter vor allem gegen den Paragrafen 301 des Strafrechts zur “Beleidigung des Türkentums”. 2007 beschloss er, sich fortan nur noch der Schriftstellerei zu widmen. Während die Auflage von Romanen in der Türkei bei durchschnittlich 2000 Stück liegt, von Erfolg versprechenden Titel auch 10.000 Exemplare gedruckt werden, gehen seine gesellschaftskritischen Bücher inzwischen mit 200.000 Stück an den Start. Sein letzter Roman, “Serenade für Nadja”, hat sich über 250.000 Mal verkauft und ist gerade auf  Deutsch erschienen (336 S., Klett-Cotta, 21,95 Euro). Er erzählt die Geschichte von Maja, die an der Istanbuler Universität den deutschstämmigen Rechtsprofessor Maximilian Wagner aus Amerika betreuen soll, der einst vor den Nazis nach Istanbul floh. Wagner ist für einen Kongress zurück in der Stadt, wo er seine jüdische Ehefrau Nadja verlor, und seine Lebensgeschichte bringt Maja dazu, sich mit den Geheimnissen ihrer eigenen Familie zu beschäftigen.

Die Welt: “In vielen Familien war man stillschweigend übereingekommen”, heißt es in Ihrem Roman, “die nachfolgenden Generationen nicht mit den Schrecken der Vergangenheit zu belasten. So waren wir wie Kinder, die nicht im Hinterhof spielen durften, weil es dort von Schlangen und Skorpionen wimmelte. Die furchtbaren Ereignisse der jüngeren Geschichte waren unser gefährlicher Hinterhof.”

Die Titelfigur von „Serenade für Nadja“ (364 S., Verlag Klett Cotta, 21,95 Euro) kommt zusammen mit Hunderten anderen jüdischen Flüchtlingen auf der „Struma“ um. Die „Struma“ gab es wirklich: Das beschossene Frachtschiff lag 1942 im Bosporus, bis die türkischen Behörden es aufs Schwarze Meer hinausschleppen ließen, wo es von einem russischen U-Boot versenkt wurde.

Zülfü Livaneli: Mit dem Hinterhof meine ich den vorderasiatischen Raum, gewissermaßen den Hinterhof des Osmanischen Reiches. Bei der Staatsgründung wollte man weg davon und wandte sich dem Westen zu. Die gegenwärtige Regierung lässt das Land wieder in den sehr gefährlichen Affären des Vorderen Ostens mitmischen – gegen eine Tradition türkischer Außenpolitik, die übrigens nicht erst mit Atatürk begonnen hat. Schon die osmanischen Sultane strebten eine Verwestlichung an.

Die Welt: Staatsgründer Atatürk hat den Neuanfang mit eiserner Hand durchgesetzt.

Livaneli: Ja, aber jetzt, 90 Jahre später, fangen die Menschen mit den Nachforschungen an: Was passierte mit unserer Geschichte? Wie war das damals mit den Armeniern? Wie war das mit dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei? Was ist mit den unterschiedlichen Religionen in unserem Land? Nach der Gründung der türkischen Republik 1923 sprachen unsere Eltern nie über den Krieg, über die Sorgen und Leiden. Erst vor ein paar Jahren habe ich zum Beispiel von meinen Vater erfahren, dass viele Mitglieder unserer Familie im russisch-türkischen Krieg umgekommen sind. Davon wusste ich nichts!

Die Welt: Die Kinder haben genug von abgeschlossenen Hinterhöfen – sie stürmen sie gerade.

Livaneli: Allerdings – und das zentrale Wort hier ist “genug”. Die Jugend, und nicht nur die Jugend, hat genug von Premierminister Erdogan. Genug davon, wie er in ihre Lebensweise eingreifen will. Der Lebensstil ist von zentraler Bedeutung in der Türkei, weil dort sehr verschiedene Lebensweisen nebeneinander existieren. Und jetzt will Erdogan eine einzige durchsetzen. Er will den jungen Leuten vorschreiben, wie sie leben, was sie trinken und wie viele Kinder sie haben sollen – darum geht es bei diesen Protesten.

Die Welt: Er ist seit 2003 Ministerpräsident. Warum erst jetzt?

Livaneli: Am Anfang herrschte ihm gegenüber eine gewisse Toleranz. Die Leute dachten, okay, er hat einen islamischen Hintergrund, aber er bringt einige Verbesserungen. Er verzeichnete wirtschaftliche Erfolge, er arbeitete am EU-Beitritt. Manche – wie ich selbst – aber wussten, dass das nur eine Fassade war: Er hatte eine islamistische Agenda. Es war nur schwer zu beweisen. Jetzt kapiert es auch der Westen.

Die Welt: Erdogan werden einige demokratische Verbesserungen zugeschrieben…

Livaneli: …ja, weil er die Macht des Militärs beschnitten hat. Das war eine furchtbare Macht, unter der auch ich selbst sehr gelitten habe. Aber Erdogan nutzte diesen unschuldigen Wunsch nach mehr Demokratie, um seine eigene Diktatur anstelle der des Militärs zu errichten. Er sagt: ,Die Mehrheit hat mich gewählt, deshalb kann ich jetzt machen was ich will’– das ist keine Demokratie, das ist eine Mehrheitsdiktatur.

Die Welt: Ende des Monats sollten die EU-Beitrittsverhandlungen weitergehen. Es gibt Stimmen, die sagen, dass die Türkei die EU jetzt mehr denn je braucht. Was sagen Sie?

Livaneli: Als Erdogan 2005 von der Aufnahme der offiziellen Beitrittsverhandlungen zurückkehrte, wurde er gefeiert, als sei die Türkei quasi schon Mitglied. Die einfachen Leute dachten wirklich, ,nächstes Jahr schicke ich meinen Sohn nach Europa, um einen Job zu finden.’ Ich sage schon immer: Es ist wichtiger, Teil der europäischen Zivilgesellschaft zu sein, als Teil der EU. Im 21. Jahrhundert will ich kein Land sehen, das sich auf religiöse Werte beruft statt auf universelle Menschenrechte. Die Türkei ist ein riesiges Land, mit besonderen Beziehungen zum Nahen Osten. Wir brauchen so etwas wie eine privilegierte Partnerschaft, keine volle Mitgliedschaft.

Die Welt: Wie wird der Aufruhr enden?

Livaneli: Das ist schwer zu sagen. Die Demonstranten haben einen schweren Fehler begangen: Als Erdogan anbot, ein Referendum über die Zukunft des Gezi-Parks entscheiden zu lassen, hat er seit elf Jahren zum ersten Mal bei etwas eingelenkt! Die Demonstranten hätten ein großes Fest feiern und dann ihre Zelte abbrechen müssen. Dann wären sie als strahlende Sieger dagestanden. Jetzt haben sie in den Augen mancher ihre Legitimation verloren.

Die Welt: Hat nicht vielmehr Erdogan jegliches Ansehen eingebüßt?

Livaneli: Sicher, die ganze Welt sieht, dass er sein Land nicht im Griff hat. Er hat das wichtigste Element seiner Macht verloren: Die Unterstützung des Westens. Acht Stunden Live-Übertragung vom Taksim-Platz auf CNN haben eine Bedeutung. Vor fünf Jahren noch hätte man abgewunken, ach, da demonstrieren ein paar kemalistische Vertreter der Elite.

Die Welt: Und wie geht es weiter?

Livaneli: Ich weiß es nicht. Ich habe große Angst, dass es zu gefährlichen Unruhen kommt. Der Boden dafür ist bereitet, und Provokateure gibt es immer. Jetzt muss dringend jemand kommen, der das ,Benzin’, das da ausgelaufen ist, aufwischt, damit kein Streichholz es entzünden kann. Erdogan als Premierminister müsste schlichtend wirken, stattdessen polarisiert er die Leute. Es ist unglaublich, was er da tut.

Die Welt: Sie warnen schon lange vor der extremen Polarisierung des Landes.

Livaneli: Wenn Sie jemanden mit dem Flugzeug erst nach Izmir bringen, dann nach Konya und schließlich nach Diyarbakir, wird er nicht glauben, dass es sich um ein und dasselbe Land handelt. Die Kleidung unterscheidet sich, die Bräuche, die Schulen, alles. Und die Teile hassen sich. Der Hass, den die westlich orientierten Schichten an der Ägäis gegenüber den Anatoliern entgegenbringen, ist unfassbar. Die Kurden sagen, dass sie zu den Mitbegründern der Republik gehören, und wollen einen entsprechenden Platz im Establishment. Und die Religiösen sagen, lass uns unter dem Schirm des Islam zusammenkommen.

Die Welt: Was ist die Lösung angesichts der gegenwärtigen Proteste?

Livaneli: Auf Seiten der Gegner gibt es keine organisierte Bewegung, keine Partei, keinen Anführer, nur die sozialen Medien. Meiner Meinung nach können nur die Wahlen im nächsten Jahr der Protestbewegung eine Zukunft geben: Sie muss dafür sorgen, dass die AKP die Kommunalwahlen in Istanbul und Ankara verliert und einen Gegenkandidaten für Erdogan bei der Wahl des Staatspräsidenten etablieren.

Die Welt: Aber Erdogan ist seit Atatürk der charismatischste Machtinhaber, den die Türkei je hatte. Wer erinnert sich schon noch an die Ministerpräsidenten Yilmaz, Ecevit oder Frau Tansu Ciller? Hat die Opposition eine Figur, die es mit ihm aufnehmen kann?

Livaneli: Ich bin fest davon überzeugt, dass man sich in ein paar Jahren an Erdogan genau so wenig erinnern wird. Seine Macht war groß, und jetzt ist sie am Schwinden. Er wird nicht der nächste Staatspräsident, da bin ich mir ganz sicher. Das ist eine Frage der Balance – auch das Militär ist drei Jahre nach dem Putsch 1980 abgetreten –, nach extremer Polarisierung wollen die Menschen zurück zur Normalität. Das muss die Protestbewegung ausnutzen, sie muss sich auf die Wahlen vorbereiten, sich organisieren, Oppositionskandidaten finden, für eine hohe Wahlbeteiligung sorgen – und gewinnen. Das ist durchaus möglich! Erdogan hat durch sein Verhalten viele in Gegnerschaft vereint, die sonst unterschiedliche Ziele vertreten.

Die Welt: Die Titelfigur von “Serenade für Nadja” kommt zusammen mit Hunderten anderen jüdischen Flüchtlingen auf der “Struma” um. Das beschossene Frachtschiff lag 1942 im Bosporus, bis die türkischen Behörden es aufs Schwarze Meer hinausschleppen ließ, wo es von einem russischen U-Boot versenkt wurde. Nadjas schmerzgeplagter Witwer sagt im Buch einmal, Istanbul sei wie eine untreue Geliebte: “Sie betrügt einen ständig, und doch hört man nicht auf, sie zu lieben.”

Livaneli: Das ist mein Verhältnis zur Türkei. Sie hat mich ständig verraten. Sie hat mich, meine Familie und Familie gequält. Ich habe über 50 gute Freunde verloren, die aus politischen Gründen ermordet wurden. Aber was soll ich machen – ich liebe dieses Land. Ich bezeichne mich als Kosmopoliten – aber ich brauche meine Sprache, meine Wurzeln.

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