„EUROPA HAT KEINE ZUKUNFT – NUR DIE TÜRKEI“ – Neo-Osmanische Omnipotenz-Phantasien
Erdogan-Berater sieht gottlosen Westen als Verlierer
Boris Kalnoky – DIE WELT 16.10.2012 – Die westlichen Länder seien unfähig, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, sagt Ibrahim Kalin, Vertrauter des türkischen Premiers. Die neue Weltordnung werde ohne sie gestaltet.
Vor etwa zwei Wochen erwähnte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in einer Grundsatzrede zur Zukunft seines Landes kein Mal dessen EU-Integration. Europa selbst erwähnte er dreimal, als Hort des Rassismus, wo man Türken aus Bosheit keine Visa gibt.
Statt von einer europäischen Zukunft sprach Erdogan von einer blühenden Zukunft der muslimischen Länder, wenn sie nur dem türkischen Vorbild nachstreben. Dass das kein verbaler Ausrutscher war, sondern strategischer Gedanke, wurde nun auf dem “Istanbuler Weltforum” deutlich, eine riesige Debattenveranstaltung zum Thema “Gerechtigkeit”, organisiert von Erdogans Ministerpräsidentenamt.
Aufruf zur Umgestaltung der Weltordnung
Die Welt, so gab Erdogan selbst in seiner Eröffnungsrede den Ton vor, sei ungerecht, weil sie von den alten Großmächten zu Unrecht dominiert werde. “Die ganze Welt ist den fünf permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates ausgeliefert”, donnerte er. “Was sie sagen, passiert.” Und rief zu einer gerechten Umgestaltung der Weltordnung auf. Hintergrund seiner Klage war natürlich die Blockade eines Eingreifens der Vereinten Nationen in Syrien durch Russland und China. Aber Erdogan fordert aus viel grundsätzlicheren Gründen eine “gerechtere Welt” – und das bedeutet für ihn eine weniger westliche Welt. Wie diese Zukunftsvision aussieht, wurde auf dem Weltforum in einer Rede des engen Erdogan-Beraters und Unterstaatssekretärs im Ministerpräsidentenamt, Ibrahim Kalin, deutlich. Sein bescheidener Rang sollte nicht über die Bedeutung seiner Rede hinwegtäuschen – sie war mit Sicherheit vom Ministerpräsidentenamt, das er vertrat, autorisiert.
“Europa hat keine Zukunft”
Die Rede enthielt eine lange Analyse, warum die Türkei sich von Europa abwendet. Um es auf den kürzesten Nenner zu bringen: Die Türkei tue das, weil Europa keine Zukunft habe. Die Welt gehe auf eine postwestliche Ordnung zu. “Die auf den Westen zentrierte politische und wirtschaftliche Ordnung ist nicht mehr fähig, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen”, sagte Kalin vor Zuhörern vorwiegend aus muslimischen Ländern, aber auch aus Europa und den USA. Das sei der Fall, weil diese Ordnung auf militärischer Überlegenheit westlicher Nationalstaaten beruhte, “um die Ressourcen der Welt zu kontrollieren”. Das schaffe aber ein Legitimitätsproblem, da der Westen sich gern demokratisch gebe – aber nur daheim. Außenpolitisch sei er imperialistisch, ganz besonders die USA.
Vergleich mit Entmachtung des Militärs
Auf Dauer sei das nicht aufrecht zu erhalten, sagte der Erdogan-Berater, weil eine neue, von globaler öffentlicher Meinung getriebene “polyzentrische” Weltordnung entstehe. Die Welt sei auf der Suche nach einer “postwestlichen” politischen Ordnung, in der der Westen keine Deutungshoheit mehr habe in der Demokratie- und Menschenrechtsdebatte. Zu dieser neuen Ordnung gehöre auch eine Reform der UN, die “gerechter und inklusiver” sein müssten. Ausdrücklich verglich er den kommenden Machtverlust des westlichen “Zentrums” gegenüber der bisherigen “Peripherie” mit der Entmachtung des Militärs in der Türkei – auch da habe die als rückständig geltende muslimische “Peripherie” das Ruder übernommen, weil das säkulare “Zentrum” die Herausforderungen der neuen Epoche nicht erkannt habe.
Schwere Vorwürfe auch gegen Deutschland
Kalin nannte den Arabischen Frühling einen Meilenstein auf dem Weg zu einer “postwestlichen Welt”, die kosmopolitischer und egalitärer sein werde. Die Reaktion im Westen sei wachsende Islamophobie, sagte Kalin.
Dann zählte er auf: die französische Kopftuchdebatte, der Massenmord des Anders Breivik, “die seelenlose Multikulti-Debatte in Deutschland”, die dänischen Mohammed-Karikaturen, der jüngste Anti-Mohammed-Film aus den USA, das Schweizer Votum gegen Minarette, die Regensburger Rede des Papstes, diskriminierende Einwanderungsgesetze.
All dies zeige, wie sehr der Westen das “Hass-Verbrechen” Islamophobie verkenne. Insofern sei es wichtig zu erkennen, dass die globale “Suche nach einer postwestlichen Ordnung” auch die Suche nach einer “postsäkularen” Ordnung sei.
Islamkritik als Zeichen der Unterdrückung
Es war nicht ganz klar, was Kalin genau damit meinte, schien aber zu bedeuten, dass die Gottlosigkeit des säkularen Westens zu Hass und zu Verbrechen, also zu globalem Legitimitätsverlust führe – oder, wie er sagte, die “aufklärerische Hybris” habe den Westen “blind gemacht” für den Rest der Welt.
“Extremisten in Paris, Tel Aviv und Washington” missverstünden den Konflikt zwischen Islam und dem Westen als einen zwischen Moderne und Tradition, und forcierten die “Moderne” – damit seien sie nicht besser als muslimische Extremisten, die ganz auf “Tradition” setzten. In Wahrheit gehe es um eine Abwägung und pragmatische Vermischung von Moderne und Tradition. Islamkritik, so Kalin, sei heute ein Symptom repressiver Regime. Europa behandele seine Muslime schlecht und weigere sich, für seine muslimischen Minderheiten eine Kultur der Koexistenz zu schaffen.
Debatte geht an Europa vorbei
Das sei einer der Gründe, warum das europäische Modell keinen Modellcharakter in der arabischen Welt haben könne, und von der globalen gesellschaftlichen Transformation überholt werde. Kalin zufolge geht die globale Debatte über eine neue Weltordnung “an Europa vorbei”, weil die Übersäkularisierung des Westens und dessen koloniale Vergangenheit den Rest des Planeten abschreckten. Die eurozentrische Kritik am Islam mache es für Europa unmöglich, als globaler Akteur relevant zu bleiben, sagte Kalin. In diesem Sinne sei Europas Ablehnung der türkischen EU-Mitgliedschaft ein schwerer strategischer Fehler.
Schlüsselposition für die Türkei
Was den Platz der Türkei in der neuen Welt betreffe, so sagte Kalin: “In einer Welt, die sich vom eurozentrischen Modell entferne, hat die Türkei begonnen, Geschichte nicht mehr eurozentrisch zu lesen, sondern andere Möglichkeiten zu erkennen.” Ihr komme eine “Schlüsselposition” zu bei der Schaffung einer neuen, gerechteren Weltordnung.
Es war eine Rede, die in weiten Teilen von den Gedanken des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu inspiriert schien, und die “wertorientierte” Politik der Türkei in Kontrast stellte zur “Hegemonialpolitik” eines Westens ohne wahre Werte.
Es war eine Rede, die sicher auch Einblick gab in die Gedankenwelt des Ministerpräsidentenamtes unter Erdogan.