Zum 400. Todestag des Dichters : Warum Shakespeare? / Von Jürgen Kaube

MESOP : SHAKESPEARE ABSCHAFFEN ! / FORDERUNG DER LBGTI COMMUNITY & MIGRATIONSFUNKTIONÄRE IN OXFORD 2016

Was ist der Mensch? Bei Shakespeare gibt es auf diese Frage nicht eine Antwort, sondern Hunderte: Er zeigte nicht „den“ Menschen, sondern Verkörperungen des Menschseins in schier unfassbarer Vielfalt.

Was ist der Mensch? Wer Antworten auf diese philosophische Grundfrage sucht, wendet sich heute den Wissenschaften zu. Ganz hoch im Kurs stehen derzeit solche, die sich mit dem Gehirn und den Nerven befassen. Andere suchen den Menschen in den Genen und in seiner biologischen Kindheit, im Neandertal. Oder sie finden ihn im kalkulierenden Entscheiden, also in seinen Rechenstärken und Rechenschwächen. Psychologen, denen das nicht ausreicht, bringen Emotionen und Unbewusstes ins Spiel. Der Homo sociologicus wiederum soll ein gesprächiger Maskenträger mit Antennen sein. Theologen betonen den Sünder im Menschen, auch wenn sich der schwer erforschen lässt, Betriebswirte sehen das ebenso wohlstandsbedürftige wie kostenempfindliche Wesen. Und so weiter.

Heute vor vierhundert Jahren starb William Shakespeare, der eine ganz andere Antwort auf diese Frage gegeben hat. Er hat, wie es einem Künstler zukommt, den Menschen nicht erklärt, er hat ihn gezeigt, hat ihn auftreten lassen. Als Dramatiker zeigt er den Menschen in seinen Handlungen und in dem, was Linguisten „Sprechakte“ nennen, in Versuchen also, durch Sprechen etwas zu bewirken – allem voran: sich selbst zu fassen. Was Shakespeares Antwort aber von allen anderen unterscheidet und ihnen überlegen macht: Er hat nicht „den“ Menschen gezeigt, sondern eine schier unfassbare Vielfalt von Verkörperungen des Menschseins. Kein Schriftsteller vor und nach ihm hat die Bühne so mit großen Charakteren bevölkert und mit Hunderten von kleinen auch.

All das ist der Mensch

Auf die Frage, was der Mensch sei, lautet Shakespeares Antwort darum: Der Mensch ist Iago, ein intelligenter, eifersüchtiger und ins Missgeschick der anderen verliebter Teufel. Und weil der Mensch Iago ist, ist der Mensch auch Othello, eine große Seele, der es an Witz gegen das Böse und an Widerstand gegen die eigene Naivität fehlt. Der Mensch ist Rosalind, ein Wesen, das frei ist darin, niemandes Glück zu beherrschen. Der Mensch ist Hamlet, ein von Zweifeln geplagter und von Wissen, mehr aber noch von Intelligenz gelähmter Unterlasser. Er ist allerdings auch Macbeth, ein abergläubischer Täter, der keine Phantasie hat, sondern die Phantasie ihn. Außerdem ist der Mensch Viola, ein Rätsel an Anpassungsfähigkeit, das immer in empfänglicher Reserve bleibt. Er ist Falstaff, ein Rhetoriker der mangelnden Selbstbeherrschung. Er ist Antonius, weil er nicht begreift, dass Macht und Lust einander begrenzen. Er ist Beatrice, ein Wesen, in dem alles Fröhliche sich über die Bitterkeit erhebt, dass selbst das Wichtigste viel Lärm um nichts ist.

Was an Shakespeare so erstaunt, ihn zu einem so großen Klugheitswunder macht, dass viele es seinerseits nicht in einer einzigen Person unterbringen können, sind darum nicht nur die einzelnen Werke. Sondern dass, wie Goethe notiert hat, jedem ein anderer Begriff zugrunde liegt: der Irrtum des gemeinschaftlichen Handelns in „Julius Caesar“, die mörderische Unruhe der Ambition in „Macbeth“, das Verzweifeln daran, jemand sein zu müssen, in „Hamlet“.

Die freie Wahl für jedermann

Die Gesellschaft, in der sich seine Figuren bewegen, schleudert ihnen die gegensätzlichsten Erwartungen zu, reizt sie durch widerspruchsvollste Zeichen. Sie können aus Erbschaften kommen, die einer antreten muss, von Hexen und Geistern, aber auch von bösen Untergebenen, einem weiblichen Blick, einem Gegner. Bei Shakespeare ist die Welt eine ständige Aufforderung, etwas aufs Spiel zu setzen. Sie legt den Figuren nahe, etwas zu wollen, was nicht nur ihnen, sondern jedermann unmöglich ist. Zu lieben und zugleich misstrauisch zu sein, in Macht Ruhe zu finden, ganz männlich und ganz weiblich zu leben. Schmeichelei, Bestätigung, Chance, Management sind hier die leitenden Impulse. Die Helden unterliegen also nicht dem Schicksal und behaupten sich durch diese Niederlage, sie halten dem Schicksal nicht ihr Ich entgegen, wie in der antiken Tragödie. Sondern sie sind in Freiheit und aus Freiheit unglücklich wie glücklich, böse wie gut.

Wer wissen will, was uns mit diesem Dichter nach vierhundert Jahren noch verbindet, dem kann man mit Harold Booms antworten: „Ihr fragt: Warum Shakespeare? Gibt es denn noch jemand anderen?“ Dass Böhmen bei ihm am Meer liegt, wird oft zitiert, um unseren Abstand zu seinem Weltwissen zu bezeichnen. Aber wollen wir, die wir in einer Zeit leben, in der an türkischen Küsten holländische Grachten nachgebaut werden und die Leute im Winter Erdbeeren essen, ernsthaft behaupten, Böhmen liege nicht am Meer?

Wollen wir, mit anderen Worten, ernsthaft behaupten, wir erführen von den Hirnforschern, den Volkswirten, den Psycho-, den Bio- und den Soziologen mehr über uns als durch seine Stücke? Wer das bejahte – es sind dieselben Leute, die sich nicht vorstellen können, dass Literatur etwas Nützliches, ja Nützliches ist –, der käme nicht einmal für eine der vielen Narrenrollen in seinen Komödien in Betracht. „He was not of an age, but for all time!“, schrieb sein Zeitgenosse Ben Jonson sieben Jahre nach Shakespeares Tod: Er gehört keiner Epoche, sondern allen. Man muss ihn sich nur aneignen wollen. FAZ 23 April 2016

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