Wollen wir mit dem Quatsch nicht endlich aufhören? / Von Henryk M. Broder
MESOP : PALÄSTINENSER NACHBARN VON MORGEN – MIT ODER OHNE TARNKAPPE
In Europa haben Juden keine Zukunft. Deshalb sollte Israel den Palästinensern zu einem eigenen Staat verhelfen – damit es selbst Ruhe hat. Juden in aller Welt sollten Projekte in Gaza fördern.
Von Henryk M. Broder – 18-8-2014 – DIE WELT – Wenn man alle Initiativen, Pläne und Vorschläge, die jemals zur Lösung der Palästina-Frage ins Leben gerufen, vorgelegt und verhandelt wurden, zusammenrechnen würde, käme man wahrscheinlich auf eine Zahl jenseits von 1001. Mit den dazugehörigen Protokollen könnte man die Mauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten von beiden Seiten tapezieren.
Es sind auch schon alle Optionen durchgespielt worden – die Ein- und die Zwei-Staaten-Option, die jordanische Option, eine Gemeinherrschaft nach dem Modell von Andorra, die Rückkehr der Briten als Kolonialmacht.
Einer der skurrilsten Vorschläge kam ausgerechnet von einem orthodoxen Rabbiner aus der Siedlung Tekoa in der Westbank, die horizontale Lösung: ein palästinensischer und ein israelischer Staat auf demselben Territorium, sozusagen übereinander. Mit zwei Parlamenten, zwei Regierungen, zwei Flaggen und zwei Rechtssystemen, einem für die Israelis und einem für die Palästinenser. Aber mit einem Stromnetz, einer Müllabfuhr und einer StVO für alle.
Nahost-Konflikt animiert Zaungäste zum Mitmachen
Mit der Besetzung Tibets durch China und Nordzyperns durch die Türkei hat sich die Welt längst abgefunden. Kaschmir ist weit weg, die Falklandinseln ebenso. Japan und Russland streiten sich immer wieder um die Südkurilen-Inseln, ohne dass die Welt davon groß Notiz nehmen würde.
Der Nahost-Konflikt aber produziert Schlagzeilen am laufenden Band und animiert Zaungäste zum Mitmachen, von der Evangelischen Akademie in Bad Boll, die einschlägige Tagungen veranstaltet, bis zu den Organen der Vereinten Nationen, die mehr Resolutionen zur Lage im Nahen Osten verabschiedet haben als zu jedem anderen Konflikt in der Welt.
Bis jetzt sind alle Pläne zur Beilegung des Konflikts gescheitert, schlimmer noch, mit jedem Schritt vorwärts ging es zwei Schritte zurück. Israelis und Palästinenser haben sich ineinander verkeilt, wie Eheleute, die sich seit Jahrzehnten um die Modalitäten der Scheidung streiten und deswegen voneinander nicht loskommen. Die Frage, wer was bekommen soll, ist zur Sinnfrage geworden.
Je älter der Konflikt, desto länger dauert er
Dass der Konflikt so lange anhält, kommt vor allem daher, dass er schon so lange dauert. Das klingt absurd, wie “Die Armut kommt von der Poverte”, aber es stimmt. Jeder Kunde, der in der Warteschleife eines Callcenters landet, hat diese Erfahrung schon gemacht.
Je länger er wartet, umso größer seine Bereitschaft, sich noch länger hinhalten zu lassen (“Bitte, haben Sie noch etwas Geduld, wir sind gleich für Sie da …”), denn er hat ja schon viel Zeit geopfert. Also bleibt er in der Leitung, bis ihm eine Stimme den Rat gibt: “Versuchen Sie es später noch einmal.”
Würden die Israelis und die Palästinenser heute zu einer Einigung kommen, müssten sie sich fragen: Warum haben wir es nicht eher geschafft? Warum haben wir so viel Zeit damit vertan, uns zu bekämpfen? Wofür mussten so viele Menschen sterben? War es das wert? Zocker verhalten sich genauso: Je mehr sie verloren haben, umso hemmungsloser spielen sie weiter. Und so könnte das Spiel im Kasino Palästina endlos weitergehen, wenn sich nicht etwas geändert hätte.
Die antisemitischen Exzesse weisen den Weg
Es gibt für Juden keine Zukunft in Europa. In 20, 30 Jahren wird es noch den Zentralrat der Juden in Deutschland und in Frankreich den CRIF (Conseil Représentatif des Institutions Juives de France) geben, also intakte Funktionärsstrukturen, aber keine Juden mehr.
Keine jüdischen Kulturtage, keine Tage der offenen Tür in Synagogen, keinen Arbeitskreis “Christen und Juden” beim Evangelischen Kirchentag. Nur noch jüdische Altersheime und jüdische Friedhöfe. Und ab und zu ein Klezmerkonzert am Rande der Passionsspiele in Oberammergau.
Das ist keine düstere Prophezeiung. Es ist ein ruhiger Blick nach vorn. Die Zukunft ist die Fortsetzung der Gegenwart mit härteren Mitteln. Die antisemitischen Exzesse der letzten Wochen haben sowohl die Juden als auch die ganze Gesellschaft auf dem falschen Fuß erwischt.
Geschichte wiederholt sich nicht, sie variiert
So etwas hätte niemand für möglich gehalten. Auch die Kanzlerin und der Präsident waren aufrichtig erschüttert, derweil die Repräsentanten der Juden einerseits über die mangelnde Solidarität “aus der Bevölkerung” klagten, andererseits zur Besonnenheit mahnten.
“Das Schiff des Judentums in Europa geht nicht unter. Es ist in schwerer See, mag sein, im Moment. Aber die Rettungsboote müssen wir nicht klarmachen. So weit sind wir nicht”, meinte zum Beispiel Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden.
Einig waren sich jüdische wie nicht jüdische Funktionäre in einem Punkt: Ein neues 33 stehe nicht vor der Tür. Derselben Logik folgend, könnte man auch sagen, Nero werde nie wieder Rom anzünden. Und Napoleon keine Gelegenheit bekommen, noch einmal nach Moskau zu reiten. Von Hannibal und seinem langen Marsch über die Alpen ganz zu schweigen.
Und weil sich Geschichte eben nicht wiederholt, sondern voranschreitet, wird es keine Kristallnacht, keine Nürnberger Gesetze und keine getrennten Parkbänke für Arier und Juden geben. Es droht auch kein zweiter Holocaust.
Vielleicht erfindet ja jemand die Tarnkappe
Insofern hat sogar jener Berliner Antisemitismusforscher recht, der angesichts der Morde von Toulouse und Brüssel erklärt hat, er könne darin “keine neue Qualität” des Antisemitismus erkennen. Wenn man Auschwitz zum Maßstab nimmt, sind das natürlich Peanuts. Würde man den Schwarzen Tod zum Maßstab nehmen, der im 14. Jahrhundert 25 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, müsste die Weltgesundheitsorganisation wegen Sars – bis jetzt ein Dutzend Tote – keine Maßnahmen ergreifen.
Auf den Antisemitismus übertragen, bedeutet das: Juden können mit dieser Seuche leben. Sie können der Empfehlung von Charlotte Knobloch folgen, auf das Tragen von Davidsternen und Kippot in der Öffentlichkeit verzichten und sich auch sonst “als Juden nicht erkennbar” machen.
Möglicherweise wird irgendein jüdisches Genie demnächst eine Tarnkappe erfinden und sie patentieren lassen. Diese Erfindung käme dann auch den Jesiden im Irak, den Baha’i im Iran und den Christen in Nigeria zugute.
Aber wollen die Juden das? Wollen sie ihre Kinder in Schulen schicken, die bewacht werden müssen? Wollen sie in Synagogen beten, die zu Festungen ausgebaut wurden? Wollen sie sich ständig dafür entschuldigen, dass sie Juden sind, und darum bitten, nicht mit den bösen Israelis verwechselt zu werden?
Die Jüngeren wollen kein Leben im Getto
Die Älteren werden sich mit einem Restleben als “Schutzjuden” vermutlich abfinden. Die Jüngeren aber, die eine gute Ausbildung bekommen haben, mehrere Sprachen sprechen und in der Welt herumgekommen sind, werden nicht in ein Getto zurückgehen, dem sie eben erst entkommen sind.
Sie werden nicht nur Deutschland, sie werden ganz Europa verlassen, München, Zürich, Paris, Brüssel, London, Wien und sogar so idyllische Orte wie Malmö, wo eine winzige jüdische Gemeinde von einer aggressiven muslimischen Community gemobbt wird.
Junge Juden verlassen schon heute in Scharen die Alte Welt und gehen entweder in die USA oder – nach Israel. Alles, was sie brauchen, um eine neue Existenz zu gründen, passt in einen Laptop.
Israel seinerseits wurde gegründet, um Juden eine Heimstatt und einen sicheren Zufluchtsort im Falle eines Falles zu bieten. Leider haben die Gründerväter nicht vorhergesehen, dass es bei der Rückkehr in das Land von Abraham, Isaak und Jakob Probleme mit den “Eingeborenen” geben würde.
Die Israelis schulden den Palästinensern etwas
Insofern schulden die Juden beziehungsweise die Israelis den Palästinensern etwas, ganz unabhängig von der Frage, ob die Palästinenser jemals einen eigenen Staat bekommen hätten, wenn sie nicht von den Zionisten auf die Idee gebracht worden wären, es ihnen gleichzutun.
Ohne das zionistische Projekt wäre “Palästina” heute ein Teil von Südsyrien und Nordägypten. Der palästinensische Nationalismus ist eine Reaktion auf den jüdischen Nationalismus. Das sehen mittlerweile auch die meisten Israelis ein.
“Die Palästinenser müssen einen eigenen Staat bekommen, damit wir nicht zugrunde gehen. Damit sie uns in Ruhe lassen. Und wir werden keine Ruhe haben, solange sich die Palästinenser nicht selbst regieren”, sagt Noah Klieger, 88, ein Hardcore-Zionist, der noch vor zehn Jahren jede Wette darauf abgeschlossen hätte, dass es nie einen palästinensischen Staat neben Israel geben wird. Freilich, zwischen der Einsicht und ihrer Umsetzung klafft ein Abgrund aus Angst, der mit jeder Rakete, die aus Gaza abgeschossen wird, tiefer und tiefer wird.
Können wir mit dem Quatsch nicht einfach aufhören?
Die Israelis mögen Hightech-Champions sein, sie sind nicht in der Lage, auf die Palästinenser zuzugehen und zu sagen: “Wollen wir mit dem ganzen Quatsch nicht endlich aufhören?” Von den Palästinensern, die in diesem Konflikt die Schwächeren sind, kann man eine solche Geste der Souveränität nicht erwarten.
Als die Palästinenser vor zwei Jahren ankündigten, sie würden bei den Vereinten Nationen den Antrag auf Aufnahme als “Non-Member-State” stellen, fiel die israelische Regierung nicht nur aus allen Wolken, sie drohte der palästinensischen Autonomiebehörde auch mit Abbruch der Beziehungen und Sanktionen.
Es war absehbar, dass die UN-Vollversammlung beschließen würde, Palästina als “Beobachterstaat” zu akzeptieren. Und so geschah es auch, mit einer satten Mehrheit von 138 der 193 UN-Mitglieder. Nur neun Staaten stimmten dagegen, darunter auch Israel.
Es wäre klüger gewesen, wenn die Israelis nicht nur dafür gestimmt, sondern den Palästinensern schon im Vorfeld ihren Beistand angeboten hätten. “Liebe Nachbarn, können wir euch beim Ausfüllen der Papiere helfen? Wir wissen, wie es geht, wir haben das schon einmal gemacht.” Aber auch dazu hätten sie über ihren eigenen Schatten springen müssen.
Jetzt braucht es einen erfahrenen Mediator
Da muss, wie in einer zerrütteten Ehe, aus der beide Partner nicht herauskommen, ein Mediator her. Keine Amateurpsychologen oder Schreibtischstrategen wie Steinmeier oder Kerry, sondern Menschen mit Leidenserfahrung und der Fähigkeit zum Mitgefühl.
Und an dieser Stelle kommen die jüdischen Gemeinden in der Diaspora ins Spiel. Wie wäre es damit: Jede jüdische Gemeinde “adoptiert” einen palästinensischen Kindergarten, eine palästinensische Schule, Hochschule oder eine andere kulturelle oder soziale Einrichtung in der Westbank und in Gaza, versucht, einen Kontakt herzustellen, und lädt dann Palästinenser, die in diesen Einrichtungen arbeiten, also die Multiplikatoren, zu einem Besuch ein: nach Antwerpen, Bielefeld, Kopenhagen, Liverpool, Mailand, Rotterdam, Salzburg, Triest, Uppsala, Warschau, Zagreb usw.
Im Gegenzug besuchen Juden aus diesen Gemeinden die von ihnen adoptierten Einrichtungen. Jüdische Schulen in der Diaspora bieten neben Hebräisch auch Arabisch an. So entsteht nach und nach ein humanes Netzwerk. Der Europäische Jüdische Kongress übernimmt die Koordination. Ein Programm dieser Art würde im Jahr weniger kosten als eine Woche Krieg in Gaza.
Wir sollten unsere Zeit nicht mit Anbiederung vergeuden
Natürlich würden viele Palästinenser, die gerne in verschwörungstheoretischen Zusammenhängen denken, erst einmal ein Komplott vermuten, um sie auseinanderzudividieren. Aber eben nicht alle.
Es gibt Palästinenser, die genau wissen, dass die Sympathien, die sie in Europa genießen, nur die Kehrseite des Hasses auf die Juden sind. Für die Palästinenser, die im Libanon, im Irak und in Syrien massakriert werden, geht niemand auf die Straße.
Wäre es da nicht viel vernünftiger und nachhaltiger, wenn sich die Juden der Palästinenser annähmen, ihnen zu einem eigenen Staat verhelfen würden, statt ihre Zeit damit zu vergeuden, sich immerzu bei den Antisemiten anzubiedern, bei albernen Ritualen wie den “Wochen der Brüderlichkeit” mitzumachen oder sich als “Jew in the box” den Blicken von Voyeuren auszusetzen, die alles über Anne Frank gelesen und alle Filme von Woody Allen geguckt, aber noch nie einen lebenden Juden gesehen haben?
Die Palästinenser sind unsere Nachbarn von morgen
Wir würden damit auch uns selber helfen, in unsere eigene Zukunft investieren. Die Palästinenser sind unsere Feinde von heute und unsere Nachbarn von morgen. Überlassen wir die Trauer und die Fürsorge um die toten Juden den Europäern. Lassen wir sie weitere Holocaust-Mahnmale bauen und Konferenzen über die Frage “Wo war Gott in Auschwitz?” veranstalten. Wenden wir uns dem Leben und den Lebenden zu.
Ich sage nicht, dass mein Plan den Konflikt über Nacht beenden wird. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt funktionieren kann oder ob ich mir etwas vormache. Ich sage nur: Wir sollten es versuchen.
Wenn wir wollen, ist es kein Märchen.