Wolfgang Sofsky – Flüchtlingsmoralpolitik

Man muß nicht denken, daß bei der europäischen Flüchtlingsmoralpolitik die kontinentale Vergangenheit samt der üblichen Schuldverschiebungen keine Rolle spielen würde. So hat es dem österreichischen Bundeskanzler Faymann, einem Sozialdemokraten, der über beträchtliche historische Kenntnisse zu verfügen glaubt, gefallen, dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán, einem vielgehaßten Nationalkonservativen, der seinerseits über beträchtliche historische Kenntnisse zu verfügen glaubt, vorzuwerfen, er verhalte sich wie einst die Rassenpolitik der deutschen und, nicht zu vergessen, österreichischen Nazis.

Wer Flüchtlinge in Züge mit unbestimmten Ziel stecke, der wecke Erinnerungen an Deportationszüge, wie sie einst, nachdem Österreich unter tätiger Beihilfe der Einheimischen längst „judenfrei“ war, die ungarischen Pfeilkreuzler, unter tätiger Anleitung des österreichischen Chefs der Holocaustorganisation Adolf Eichmann, in Marsch setzten, um die ungarischen Juden nach Auschwitz zu verfrachten.

Orbán, dem offenbar an einem „muslimfreien“ Ungarn gelegen ist und der gleichzeitig damit überfordert ist, das nicht zuletzt von Deutschland und Österreich durchgepaukte Dublin-Abkommen mit einer Registrierung an der EU-Peripherie durchzusetzen, errichtet derweil ein robustes Grenzabwehrregime und sperrt die Zugänge ab. Er bräuchte nur dafür zu sorgen, daß alle Ankömmlinge sofort in Züge stiegen und in einem Fluchtkorridor umgehend, wunschgemäß ohne Registratur, nach Eisenstadt oder Wien gebracht würden.

So könnten Österreich und Deutschland in bewährter Manier mit vereinten Kräften ihre Willkommenskultur fortentwickeln und sich weiterhin als menschenfreundlichstes Land der Erde feiern, was neben syrischen Kriegsflüchtlingen mittlerweile auch viele junge Männer aus Ägypten, Marokko oder Lybien zu schätzen wissen, deren Akzent von kundigen Dolmetschern leicht erkannt wird, indes die Gastgeber ohne Arabischkenntnisse noch immer glauben, jeder, der keinen Paß habe, stamme aus Aleppo, einer Stadt, die, nebenbei bemerkt, nie von westlichen, geschweige denn deutschreichischen oder habsburgischen Kreuzfahrern, wohl aber von Mongolen erobert und verwüstet worden ist, was wiederum eine ganz andere Geschichte ist.