Wir heiraten euch, dann könnt ihr alle hierbleiben / REYHANLI – VON GÜNER YASEMIN BALCI
MESOP : DAS UMFELD DER SPHÄRE DES NEUESTEN „KOMMUNISMUS IM 21th JAHRHUNDERT“ SCHÖPFT AUS DER KULTUR DES SCHMUGGELS & FRAUENVERKAUFS
16.11.2014, von GÜNER YASEMIN BALCI – FAZ – Smugglers carrying blue jerry cans on horses ride back to Syria along fences after ferrying fuel smuggled into Turkey from over the border in Syria, in Hatay Province
Auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ profitiert vom regen Grenzhandel bei Reyhanli
Kadir A. will sich nicht beklagen. Seit der Krieg in Syrien ausgebrochen ist, laufen die Geschäfte in Reyhanli besser denn je. Die kleine türkische Stadt im Landkreis Hatay, unmittelbar an der Grenze zu Syrien, war schon immer bekannt für den Schmuggel von Waren. In Reyhanli, sagt mir Kadir, muss ein Mann Schmuggler sein, um eine Braut zu bekommen, das sei ein ungeschriebenes Gesetz.
Tee, Oliven, Kaffee, aber auch Alkohol und Zigaretten sind nur einige der Güter, die über die türkisch-syrische Grenze ihren Weg bis in die Tourismushochburgen an der Ägäisküste finden. Auch der vierzigjährige Kadir hat in den vergangenen Jahren sein Gehalt als Kellner mit dem Handel von illegalen Zigaretten und Alkohol aufgebessert. Manchmal, sagt der strenggläubige Muslim, auch mit dem Verkauf von Marihuana. Ein Gewissenskonflikt sei das für ihn nie gewesen, schließlich konsumiere er das Zeug selbst ja nicht.
Mit dieser Haltung ist Kadir in Reyhanli nicht allein. Auch dass nun wohl auch Mitglieder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ vom regen Handel an der türkisch-syrischen Grenze profitieren, ist für ihn und seine Freunde kein Problem. Täglich liefere sein Freund Mustafa für etwa zwanzigtausend Lira, umgerechnet siebentausend Euro, Lebensmittel mit dem Lastwagen nach Syrien. Die Käufer seien aufrichtige Muslime, mehr wisse er nicht, sagt Kadir. Solange das Geld fließt, ist ihm jeder Handelspartner recht.
Unberührt von den Ereignissen
Von seinem Haus kann Kadir hinter einem ockerfarbenen Staubschleier die steppenhafte Landschaft Syriens erkennen. Zu Fuß sind es nur ein paar Minuten bis zur Grenze. Jahrzehntelang lebten die Menschen in Reyhanli nahezu unberührt von den Ereignissen der Geschichte in ihrer eigenen, konservativ islamischen Welt, in der jeder Tag mit dem Ruf des Muezzins zum Gebet beginnt und mit ihm auch wieder endet. Frauen trifft man nur selten allein auf der Straße an, junge Mädchen ohne Kopftuch fast nie. Und wenn dann ein Mann in Pluderhose samt zweier Kinder und einer verschleierten Frau auf einem Mofa an einem vorbeiknattert, erscheint der Kontrast zur weltoffenen Gezi-Bewegung Istanbuls besonders stark. Reyhanli, was auf Türkisch so viel bedeutet wie Paradiesgarten, wirkt auf Besucher eher so, als läge es in Afghanistan.
Kadir sagt, er sei alhamdulillah – Gott sei Dank – Muslim und, wenn es sein müsse, auch bereit, fürs Vaterland zu sterben. Damit spricht er nicht wenigen Türken aus der Seele. In seinem Stammcafé in seinem Dorf treffen sich die Männer jeden Abend unter dem Konterfei Atatürks, das an der Wand hängt. Trotzdem haben hier fast alle Erdogan gewählt. Er sei einer, sagt Kadir, der sich endlich wieder auf die Werte des Islam besinne. Für Kurden haben die Menschen hier nur wenig übrig. Die meisten seien Terroristen, Vaterlandsfeinde, davon ist Kadir überzeugt, nur wenige hätten „Iman“. Iman, das bedeutet, Glauben zu haben, und den hat für Kadir, wer sein Leben nach den Regeln des Islam ausrichtet. Heiraten, so Gott will, Kinder bekommen, ein anständiges Leben führen, gottgefällig sein – das ist das Wichtigste für ihn und Arife, seine verschleierte Frau. Die Terrororganisation IS betrachtet Kadir als Erfindung der Amerikaner, wie überhaupt der ganze Krieg in Syrien und im Irak nur geführt werde, um am Ende der Türkei zu schaden. Dass sei schon immer so gewesen, dass die Türkei von Feinden umzingelt sei.
Der öffentliche Druck auf die Türkei
Es sind diese paradoxen Haltungen, die einem in der Türkei immer wieder begegnen. Bis zum Frühjahr gab es in der Provinz Hatay entlang der Grenze zu Syrien und dem Irak noch viele illegale, dilettantisch gelegte Ölpipelines, die das billige Öl der IS in private Wohnzimmer leiteten. Abgefüllt in Kanistern, fällt es den Grenzbehörden heute tonnenweise in die Hände. Erst seit der öffentliche Druck auf die Türkei größer und die Unterstützung der IS-Schlächter immer offensichtlicher wurde, gab Staatspräsident Erdogan die Anweisung, den Handel mit dem schwarzen Gold zu unterbinden. Die Schmuggler gingen auf die Barrikaden.
Aber nicht alle denken wie Kadir aus Reyhanli. Der Vorwurf, die Türkei habe zumindest tatenlos zugesehen, wie die Mitglieder des „Islamischen Staats“ sich mit dem Verkauf von Öl an Türken bereicherten, erschüttert viele, vor allem liberale Türken. Auch Berichte über IS-Kämpfer, die in türkischen Krankenhäusern behandelt werden, sorgen in der Bevölkerung für Unmut. Die regierungskritische Zeitung „Taraf“ zitierte unlängst aus dem Brief einer Krankenschwester, die in einer Privatklinik im südtürkischen Mersin arbeitet: „Am 7.August wurde der IS-Kommandeur Muhammet Ali R. in Zimmer Nr.323 zur stationären Behandlung eingeliefert. Er hatte seine Leibwächter dabei, die vor seinem Zimmer und draußen vor dem Krankenhaus patrouillierten“, heißt es in dem Brief. Der Kommandeur ist der Krankenschwester zufolge nur einer von vielen IS-Kämpfern, die bis heute in ihrem Krankenhaus behandelt worden seien. „Ich möchte diese Menschen nicht behandeln und bitte darum, die Krankenhäuser daraufhin zu überprüfen.“
Die zweitgrößten Stadt Südostanatoliens
Zwar mag die Türkei nicht der Rechtsstaat sein, den man sich als Deutscher wünscht, mag mancher jetzt einwenden, immerhin aber habe das Land doch bisher die Last von mehr als einer Million syrischer und irakischer Flüchtlinge allein gestemmt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Kurdin Nebahat Akkoc leitet die Frauenrechtsorganisation „Kamer“ in Diyarbakir, der zweitgrößten Stadt Südostanatoliens. Die meisten Einwohner sind Kurden. Auch hier haben viele Flüchtlinge Unterschlupf gefunden, trotzdem gibt es immer noch unzählige Familien, die auf der Straße campieren. Nebahat Akkoc sagt, sie sehe nicht, dass die Regierung sich für diese Menschen verantwortlich fühle, eher versuchten die Einwohner Diyarbakirs zu helfen, so gut es gehe.
Seit den letzten Ausschreitungen, bei denen im ganzen Land PKK-nahe Pro-Kobane-Demonstranten mit IS-Sympathisanten und Polizisten aneinandergerieten und bei denen 37 Menschen ums Leben kamen, fühlt sich Nebahat Akkoc an die neunziger Jahre erinnert. Damals, sagt sie, standen Türken und Kurden ebenfalls kurz vor einem Bürgerkrieg. Die Stimmung in Diyarbakir ist angespannt, das Zögern der türkischen Regierung im Fall Kobane und die Ansage der PKK, die Türkei sei neuerlich eine Kampfzone, ängstigt die Menschen. Viele sollen in den letzten Tagen ihre Häuser nicht verlassen, die Kinder nicht zur Schule geschickt haben. Auf den Straßen stehen Panzer, und an jeder Ecke gibt es Personenkontrollen.
Das harte Vorgehen der Polizei
Erst kürzlich, erzählt Nebahat Akkoc, ist der kurdische Journalist Kadir Bagdu in Adana auf der Straße erschossen worden, bisher gibt es zur Tat keine Spur. Nebahat Akkoc versucht, trotz dieser Umstände ihre Arbeit im Frauenhaus aufrechtzuerhalten. Während sich kurdische Freiheitskämpfer aus Diyarbakir auf den Weg an die syrische Grenze machen, hält sie ihre Türen für verfolgte Frauen offen. Täglich telefoniert sie mit „Kamer“-Ablegern in anderen kurdischen Städten Ostanatoliens, überall herrscht Angst vor einem Aufflammen des Konfliktes zwischen PKK-Kämpfern und der türkischen Armee. Nebahat Akkoc findet es richtig, dass dem Terrorismus, egal aus welchem Lager er kommt, die Stirn geboten wird. Man dürfe jedoch nicht vergessen, dass nicht jeder Kurde PKK-Anhänger sei. Was sie allerdings besorgt, ist das harte Vorgehen der Polizei gegen kurdische Demonstranten und andere Menschen, die im ganzen Land für eine Unterstützung Kobanes auf die Straßen gehen. Bei Ansammlungen von IS-Sympathisanten gab es bisher kein hartes Eingreifen der Beamten, meint sie und bestätigt damit die Beobachtungen unabhängiger Journalisten.
Wer glaubt, die Not der Menschen aus Syrien und dem Irak stoße auf grenzenlose türkische Gastfreundschaft, irrt. Der Menschenrechtsverein „Mazlumder“ hat in einem langen Bericht dokumentiert, wie es vor allem um die Lage der syrischen Frauen und Kinder steht, Schätzungen zufolge sind dies siebzig Prozent der Flüchtlinge. Bei Gesprächen mit den Flüchtlingen kam unter anderem heraus, dass neben Öl, Gold, Waffen und Drogen die Grenzen zu den IS-umkämpften Gebieten noch zum Umschlagplatz für eine andere Ware geworden sind: Menschen.
Wie Sklaven behandelt
Viele Flüchtlinge, die tatsächlich Unterschlupf in den Provinzen und Dörfern rund um die ostanatolischen Ballungsstädte gefunden haben, werden von den Einheimischen erbarmungslos ausgebeutet. Die von „Mazlumder“ befragten Flüchtlinge berichteten von syrischen Erntehelfern, die für umgerechnet fünf Euro vierzehn Stunden arbeiteten, darunter Kinder, die noch weniger verdienten, von Hausangestellten, die wie Sklaven behandelt würden. Zu Diskriminierungen und Gewalt komme es ebenso wie zu sexuellen Übergriffen. Es seien keine Einzelschicksale, die sie dokumentiert habe, sagt Mehtap Toruntay von „Mazlumder“, sondern die Regel. Nur die wenigsten wehrten sich. Schon allein, weil sie sich oft genug illegal und ohne Papiere im Land aufhielten.
Westliche Medien zeigen meist nur die Bilder einiger ausgewählter türkischer Flüchtlingscamps, das wahre Elend, obwohl tausendfach gelebt, bleibt im Verborgenen. Das größte Übel, das dieser schmutzige Krieg mit sich gebracht habe, sagt Mehtap Toruntay, sei die Zwangsprostitution. Vor allem jezidische Kinder und Frauen würden gegen ihren Willen in vielen Städten und Dörfern der Türkei festgehalten und zur Prostitution gezwungen. Manche würden von türkischen und kurdischen Männern gegen ein geringes Brautgeld geheiratet – nach islamischem Recht als Zweit- oder Drittfrau. Einige prostituierten sich auch freiwillig, weil dies oft die einzige Möglichkeit sei, die Familie zu ernähren. Toruntay hat mit vielen Opfern gesprochen und geht davon aus, dass mehrere tausend Frauen in der Türkei auf diese Weise ausgebeutet werden. Ihre Organisation hat ihren Bericht darüber an Regierungsorganisationen weitergereicht. Passiert ist seitdem nichts.
„Wir verheiraten euch, dann könnt ihr legal in der Türkei bleiben“ – mit diesen und ähnlichen Versprechen sollen Menschenhändler in der türkischen Provinz Hatay allein in den letzten Monaten mehr als dreitausend Frauen und Kinder in die Zwangsprostitution gelockt haben; vorneweg die Stadt Reyhanli.
Fragt man den Schmuggler Kadir, was er von diesen Nachrichten aus seiner Heimatgegend hält, erwidert er, dass er dies für ausgeschlossen halte. Türken nutzten die Not der Menschen nicht schamlos aus. Das Gegenteil sei der Fall. Er habe gehört, dass Jesiden und Kurden ihre Töchter freiwillig verkauften. Und das, findet Kadir, sei doch ein ziemlich unsittliches Verhalten.
Güner Yasemin Balci, 1975 in Berlin geboren, ist Autorin türkisch-kurdischer Herkunft. Zuletzt erschien von ihr „Aliyahs Flucht oder die gefährliche Reise in ein neues Leben“ beim Verlag S. Fischer. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/schmuggel-an-der-tuerkisch-syrischen-grenze-13266541.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2