Warum #MeToo ein großangelegter Übergriff auf die Residuen bürgerlicher Zivilisation ist

MESOP CULTUR : WE LOVE BAHAMAS ! / A MUST READ !  / REDAKTION: BAHAMAS

Asexuelle Belästigung

Some Girls Are Big­ger Than Others.
The Smiths

I.

Die sich als Re­ak­ti­on auf den „Wein­stein-Skan­dal“ aus­ge­ben­de, vom Time Ma­ga­zi­ne gleich­sam als Ru­del­sub­jekt zur „Per­son des Jah­res 2017“ ge­kür­te und als Auf­schrei dis­kri­mi­nier­ter Frau­en ab­sichts­voll miss­ver­stan­de­ne Op­fer­schutz­kam­pa­gne #MeToo war von An­fang an ein hem­mungs­lo­ser An­griff auf das zi­vi­li­sier­te Zu­sam­men­le­ben in den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten. Dabei konn­te die pseud­ofe­mi­nis­ti­sche Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung auf eine lange eta­blier­te Es­ka­la­ti­ons­lo­gik set­zen, die sich stets in zwei Schrit­ten voll­zieht und selbst ein Mo­ment des Zer­falls­pro­zes­ses bür­ger­li­cher Ver­ge­sell­schaf­tung dar­stellt.

Zu­erst wer­den mit­tels einer me­di­al in­sze­nier­ten Par­al­lel- und Selbst­jus­tiz mut­maß­li­che Täter als Se­xu­al­ver­bre­cher zum Ab­schuss frei­ge­ge­ben und so­zi­al hin­ge­rich­tet, d.h. ge­sell­schaft­lich ge­äch­tet und zu Vo­gel­frei­en er­klärt. (1) Das mag dann in­di­vi­du­ell be­son­ders tra­gisch sein, wenn wie im Fall Ka­chel­mann Men­schen ins Fa­den­kreuz einer Hetz­meu­te ge­ra­ten sind, deren Un­schuld im ge­richt­li­chen Nach­gang zwei­fels­frei fest­ge­stellt wird. Eine Ge­fähr­dung der ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung ent­steht da­ge­gen erst und ge­ra­de in dem Fall, wo ein Lynch­mob sein Straf­be­dürf­nis zu­fäl­lig an einem aus­a­giert, der sich im Nach­hin­ein tat­säch­lich als schul­dig er­weist. Denn hier wird den wirk­li­chen Op­fern se­xu­el­ler Ge­walt vor­ge­führt, dass es mög­lich ist, dem Pei­ni­ger er­heb­lich zu scha­den, ohne sich dafür den Pro­ze­du­ren bür­ger­li­cher Ver­fah­ren un­ter­wer­fen zu müs­sen, deren Aus­gang häu­fig offen ist – Pro­ze­du­ren, die ein tat­säch­li­ches Opfer als De­mü­ti­gung er­fah­ren muss, weil sie un­um­gäng­lich al­lein das Sub­jekt an­spre­chen, das sich in Folge der Tat oft ge­ra­de nicht mehr un­pro­ble­ma­tisch als Sub­jekt er­fah­ren kann. Es wird nicht nur bis zum Ur­teils­spruch als le­dig­lich mut­maß­li­ches Opfer be­han­delt, son­dern hat als Zeuge – wenn auch in ei­ge­ner Sache – zu agie­ren und sich damit einer Über­prü­fung der Glaub­wür­dig­keit zu un­ter­zie­hen, die nicht erst der Ver­tei­di­ger des An­ge­klag­ten vor­nimmt, son­dern be­reits der Staats­an­walt und mit ihm Po­li­zis­ten, Ärzte, Gut­ach­ter. An­ders als in Zi­vil­pro­zes­sen hat das Opfer in einem Straf­pro­zess im Un­ter­schied zum An­ge­klag­ten meist kei­nen ei­ge­nen Rechts­bei­stand, der sich vor­be­halt­los für seine Be­lan­ge ein­setzt, weil die Er­mitt­lun­gen der Staats­an­walt­schaft zur un­par­tei­ischen Klä­rung des Sach­ver­halts bei­zu­tra­gen haben. Dass bei Ver­fah­ren wegen Se­xu­al­straf­ta­ten dem Opfer in der Bun­des­re­pu­blik schon seit 1997 ein Op­fer­an­walt zu­steht, be­deu­tet in­so­fern be­reits eine Auf­wei­chung die­ser in Hin­blick auf die­sel­be Per­son zu­gleich sub­jekt­freund­li­chen und ge­wis­ser­ma­ßen op­fer­feind­li­chen Ver­fah­rens­pra­xis. Selbst­er­nann­te Op­fer­schüt­zer, die den Op­fer­sta­tus ihrer Schütz­lin­ge gegen die Rück­ge­win­nung der Sub­jekt­form ze­men­tie­ren wol­len, sehen über diese Zu­sam­men­hän­ge gerne hin­weg, um die bür­ger­li­che Rechts­ord­nung als „männ­li­che“ und Aus­druck einer rape cul­tu­re dif­fa­mie­ren zu kön­nen. (2)

Empörungspolitische Verschlankung des Rechts

In einem zwei­ten Schritt re­agiert der Rechts­staat auf die In­fra­ge­stel­lung sei­nes Ge­walt­mo­no­pols und die Un­emp­fäng­lich­keit eines wach­sen­den Be­völ­ke­rungs­teils für le­ga­le ju­ris­ti­sche Ver­fah­ren kei­nes­wegs of­fen­siv. Weder greift er zum Mit­tel der Auf­klä­rung, etwa durch Ein­füh­rung eines für alle Un­ter­ta­nen ob­li­ga­to­ri­schen Nach­hil­fe­un­ter­richts in Sa­chen Staats­bür­ger­kun­de, noch zu dem der Re­pres­si­on, bei­spiels­wei­se mit­tels Durch­set­zung eines zwei­jäh­ri­gen Schreib­ver­bots für Jour­na­lis­ten, die nach­weis­lich an Ruf­mord­kam­pa­gnen be­tei­ligt waren, oder zu einer Er­hö­hung der Scha­dens­er­satz­be­trä­ge bei Ver­let­zung von Per­sön­lich­keits­rech­ten um ein Maß, das ge­eig­net ist, ent­spre­chen­de Zei­tungs­ver­la­ge in die In­sol­venz zu trei­ben. Statt­des­sen geht der Staat in De­ckung und ant­wor­tet mit so­ge­nann­ten Re­for­men des Se­xu­al­straf­rechts, die bes­ten­falls als po­pu­lis­ti­sche Zu­ge­ständ­nis­se ohne gra­vie­ren­de Fol­gen für die Rechts­pra­xis blei­ben, schlimms­ten­falls aber dar­auf hin­aus­lau­fen, das bür­ger­li­che Recht sub­stan­ti­ell aus­zu­höh­len. Die Fol­gen die­ses Rück­zugs des Rechts ma­ni­fes­tie­ren sich in drei Ten­den­zen: ers­tens in einer suk­zes­si­ven Be­schnei­dung der Rech­te des An­ge­klag­ten (3), zwei­tens in einer Her­ab­sen­kung des­sen, was hin­sicht­lich der Ar­ti­ku­la­ti­on eines ge­gen­läu­fi­gen Wil­lens den Sub­jek­ten vor einer Tat, die sie erst zu Op­fern macht, zu­zu­trau­en bzw. zu­zu­ge­ste­hen ist (4), und drit­tens in der Aus­wei­tung se­xu­al­straf­recht­li­cher Re­le­vanz auf vor­ma­li­ge Ba­ga­tell­de­lik­te gegen die zu schüt­zen­de se­xu­el­le Selbst­be­stim­mung. (5) Letz­te­res führt zum Be­deu­tungs­ver­lust von In­di­zi­en, Be­wei­sen sowie Ge­ständ­nis­sen – wer will schon das Stig­ma eines Se­xu­al­ver­bre­chers tra­gen? – und damit zu Aus­sa­ge-ge­gen-Aus­sa­ge-Pro­zes­sen, wel­che wie­der­um die Glaub­wür­dig­keit von Zeu­gen wei­ter in den Mit­tel­punkt rü­cken und die Op­fer­schüt­zer in ihrer Vor­stel­lung einer om­ni­prä­sen­ten rape cul­tu­re be­stär­ken, gegen die mit­tels der nächs­ten Kam­pa­gne vor­zu­ge­hen ist. Re­sul­tat die­ser Es­ka­la­ti­ons­lo­gik ist nicht nur eine all­ge­mei­ne Rechts­un­si­cher­heit, son­dern auch die Über­re­gle­men­tie­rung so­wohl des le­ga­len Se­xu­a­lakts als auch der An­bah­nung se­xu­el­ler Be­zie­hun­gen ins­be­son­de­re zwi­schen den Ge­schlech­tern. Man hat es also mit einer ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung zu tun, an der die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Bür­ger und Bür­ge­rin­nen, die zeit­le­bens weder zu Tä­tern noch zu Op­fern von Se­xu­al­ver­bre­chen wer­den, kein In­ter­es­se haben dürf­te.

Von ihren Vor­läu­fern un­ter­schei­det sich die Op­fer­schutz­kam­pa­gne #MeToo durch ihre in­ter­na­tio­na­le Re­zep­ti­on, die al­ler­orts brei­te Be­tei­li­gung, das es­ka­lie­ren­de In­ein­an­der­grei­fen von Bou­le­vard, Pres­se sowie so­zia­len Me­di­en, in des­sen Zuge et­li­che auch nicht-pro­mi­nen­te Män­ner er­folg­reich de­nun­ziert wur­den, und nicht zu­letzt durch den to­ta­li­tär-fa­schis­to­iden Ge­halt: Nicht nur wer­den selbst zu­rück­hal­tend for­mu­lier­te Ein­wän­de dem ge­hass­ten Feind zu­ge­schla­gen, wenn etwa eine zor­nes­blei­che Ca­ro­li­ne de Haas #Me­Too-Kri­ti­ke­rin­nen als „Pä­do­phi­lie und Ver­ge­wal­ti­gung gut­hei­ßen­de Rück­fall­tä­te­rin­nen“ (fr.de, 12.1.2018) ver­leum­det. Indem noch die In­ter­ven­tio­nen derer, die sich tat­säch­lich mutig einer me­dia­len Über­macht ent­ge­gen­stel­len, der von Be­ginn an durch und durch ver­rot­te­ten Sache un­be­irr­bar einen ra­tio­na­len bzw. fe­mi­nis­ti­schen Kern zu­ge­ste­hen, las­sen sie sich als kri­ti­sche Be­gleit­mu­sik der ei­gent­lich vor­zu­füh­ren­den „De­bat­te“ ein­ge­mein­den.

Ab­ge­se­hen von der an­ge­sichts me­dia­ler Schau­pro­zes­se stets an­ge­brach­ten Klage über das Aus­set­zen von zi­vi­li­sa­to­ri­schen Stan­dards wie Un­schulds­ver­mu­tung, Sach­lich­keit, Dis­tanz etc. liegt #Me­Too-Kri­tik in zwei Va­ri­an­ten vor, wel­che die­sel­be Schwä­che tei­len. Die einen wer­fen der netz­fe­mi­nis­ti­schen Ak­ti­on vor, den Un­ter­schied zwi­schen Pein­lich­kei­ten und Ver­bre­chen zu ver­wi­schen, indem miss­glück­te Bag­ger­ver­su­che und Ver­ge­wal­ti­gun­gen zu einer fins­te­ren Ge­walt­to­ta­li­tät zu­sam­men­tre­ten, und damit die tat­säch­li­chen Opfer se­xu­el­ler Ge­walt zu ver­höh­nen. Zu Be­ginn der Kam­pa­gne, als ihr ein­schlä­gi­ger Er­folg nicht ab­zu­se­hen war, wurde diese Kri­tik noch selbst­be­wusst vor­ge­tra­gen. Etwa von der Schau­spie­le­rin Nina Proll, die auf den Punkt brach­te, was viele Frau­en spon­tan ge­dacht haben mögen, die der Gen­der­fe­mi­nis­mus noch nicht ver­blö­det hat:

Ich würde mich prin­zi­pi­ell schä­men, eine ver­ba­le Ent­glei­sung mit einem straf­recht­li­chen De­likt gleich­zu­set­zen. Und bei #MeToo läuft alles in der­sel­ben Ka­te­go­rie. Ein Griff aufs Knie vor 20 Jah­ren wird gleich­ge­setzt mit schwe­ren, lang­fris­ti­gen Über­grif­fen. Damit tun Frau­en sich kei­nen Ge­fal­len, denn ir­gend­wann kommt der Punkt, wo das in­fla­tio­när wird und es eben nie­mand mehr ernst nimmt. (pro­fil.​at, 9.11.2017)

Im De­zem­ber dann, nach zwei­mo­na­ti­gem Wüten von #MeToo, nahm der Ton die­ses Ein­spruchs schon etwas Fle­hen­des an. Auf Dein Blog für Fe­mi­nis­mus ver­öf­fent­li­chen die links­ra­di­ka­len Stö­ren­frie­das, die bis­her nicht als An­hän­ge­rin­nen einer Kri­tik am an­tis­e­xis­ti­schen De­fi­ni­ti­ons­macht­kon­zept auf­ge­fal­len sind, einen Bei­trag von Mira Sigel unter dem Titel Hört auf, Ver­ge­wal­ti­gung mit schlech­tem Sex gleich­zu­set­zen!. Darin heißt es:

Mäch­ti­ge Wel­len von So­li­da­ri­tät und Mit­ge­fühl wog­ten durch die so­zia­len Netz­wer­ke. Der Reihe nach be­kann­ten sich unter mei­nen Kon­tak­ten auf Face­book, Twit­ter und sonst wo Frau­en dazu, Opfer se­xu­el­ler Ge­walt ge­wor­den zu sein. Oder, warte mal – war es nicht doch an­ders? Ja, viele be­rich­te­ten wirk­lich von se­xu­el­ler Ge­walt und ich kann nur er­ah­nen, wie viel Mut sie das ge­kos­tet hat. Dann frag­te ich mich – warum machst du das nicht auch? Ich konn­te nicht. Ich sprach mit an­de­ren und es stell­te sich her­aus, dass es ihnen ähn­lich ging. In den ge­pos­te­ten Bei­trä­gen ging es näm­lich zu gro­ßen Tei­len um un­er­wünsch­te Be­rüh­run­gen, se­xu­el­le Be­läs­ti­gung, psy­chi­sche Ge­walt, es ging aber auch oft um Se­xis­mus und ge­schei­ter­te Be­zie­hun­gen und One-Night-Stands. Als ginge ein Virus um, schrieb eine nach der an­de­ren von ihrem per­sön­li­chen #metoo Er­leb­nis und alle be­kun­de­ten ein­an­der flei­ßig An­teil­nah­me. ‚Mein Freund war immer ge­mein zu mir. #metoo‘. ‚Er nann­te mich Schlam­pe beim Sex. #metoo‘. Be­trof­fe­ne se­xu­el­ler Ge­walt zu sein, wurde in den letz­ten Wo­chen und Mo­na­ten tren­dy, en vogue und chic. Alle ver­si­cher­ten ein­an­der, dass die je­weils an­de­re ihre ‚Hel­din‘ sei und hoben sich wech­sel­sei­tig auf ein Po­dest. […] ‚Es gibt kei­nen An­spruch auf Sex‘ ist so ein Credo un­se­rer Be­we­gung. Das be­deu­tet auch, es gibt kei­nen An­spruch auf guten Sex. Auch nicht für uns Frau­en. So zu tun, als sei des­halb jeder Mann ein Ver­ge­wal­ti­ger und jeder Sex, der un­se­ren Er­war­tun­gen nicht ent­spricht, Ver­ge­wal­ti­gung, be­stä­tigt auf ab­sur­de Weise die Zerr­bil­der, die An­ti­fe­mi­nis­ten über Fe­mi­nis­tin­nen ver­brei­ten. Bitte, hört damit auf! (6)

Geschützter Verkehr

Die zwei­te Kri­tik-Va­ri­an­te wurde am pro­mi­nen­tes­ten von hun­dert Fran­zö­sin­nen ver­tre­ten, die der #Me­Too-Kam­pa­gne in einem An­fang die­ses Jah­res in Le Monde er­schie­ne­nen of­fe­nen Brief be­schei­nig­ten, eine „pu­ri­ta­ni­sche Säu­be­rungs­wel­le“ zu sein. Zu den Un­ter­zeich­ne­rin­nen zäh­len Ca­the­ri­ne De­neuve, die mit ihren Fil­men, in denen es auch um die un­er­füll­te Lust bür­ger­li­cher Frau­en geht, mehr zur Frau­en­eman­zi­pa­ti­on bei­ge­tra­gen hat als alle stu­den­tisch-klein­bür­ger­lich ver­bies­ter­ten Gen­der­grup­pen zu­sam­men, und die Skan­dalau­to­rin Ca­the­ri­ne Mil­let, deren Werk heute Schwie­rig­kei­ten hätte, einen Ver­le­ger zu fin­den. Die Kri­ti­ke­rin­nen von #MeToo in Frank­reich, wo das Ganze un­ver­hoh­len „Ba­lan­ce ton porc“, also „Stell dein Schwein an den Pran­ger“, heißt, hoben we­ni­ger auf die re­la­ti­vie­ren­de Op­fer­ver­höh­nung als auf die Be­dro­hung se­xu­el­ler Lust ins­ge­samt ab. In die­sem Sinne for­der­ten sie ex­pli­zit das Recht ein, „an­de­re zu be­hel­li­gen“, und damit ge­ra­de einen rei­fen Um­gang mit der Zu­mu­tung, sich auf Ver­mitt­lung ein­zu­las­sen, und die­sen auch von an­de­ren zu ver­lan­gen. (welt.​de, 9.1.2018) Ca­the­ri­ne Mil­let ver­tei­dig­te zum Schre­cken aller sex­kri­ti­schen Ver­zichts­pre­di­ger sogar die of­fen­si­ve An­nä­he­rung: „Um eine se­xu­el­le oder sogar nur eine ro­man­ti­sche Be­zie­hung mit einem an­de­ren ein­zu­ge­hen, muss einer of­fen­siv sein, sonst pas­siert nichts. Da kann es schon mal sein, dass man sich un­ge­schickt oder plump ver­hält. Ist das so ent­setz­lich?“ (faz.​net, 14.1.2018)

Damit ver­wahr­te sie sich da­ge­gen, dass das Spie­le­ri­sche und Ver­füh­re­ri­sche, das da­zu­ge­hört, wenn zwei Men­schen sich nä­her­kom­men, deren Ver­bin­dung nicht auf ein Ar­ran­ge­ment durch ein Gen­der­tri­bu­nal oder gleich auf die is­la­mi­sche Sippe zu­rück­geht, als Vor­stu­fe der Ver­ge­wal­ti­gung ver­hetzt wird. Dass es zur ero­ti­schen oder ro­man­ti­schen Be­zie­hung kommt, setzt vor­aus, dass sich zwei Er­wach­se­ne frei von pa­ra­no­ider Angst mit­ein­an­der ins Be­neh­men set­zen, es er­for­dert – bes­ten­falls − lei­den­schaft­li­ches Flir­ten. Lust und Liebe ent­ste­hen dort, wo Frem­des so wenig ab­ge­wehrt wird wie die Mög­lich­keit, eine Über­schrei­tung zu er­le­ben. Dazu ge­hört auf bei­den Sei­ten die Be­reit­schaft zum Ri­si­ko, ent­täuscht zu wer­den, sowie ein ge­wis­ses Maß an Ge­ne­ro­si­tät, das auch Ver­rückt­hei­ten und Pro­vo­ka­tio­nen ver­zei­hen kann, so lange klar ist, dass das, was läuft, auch je­der­zeit be­en­det wer­den kann. Die als Fe­mi­nis­mus ge­tarn­te Mo­bil­ma­chung für Sitt­lich­keit stellt Ko­ket­te­rie und Ver­füh­rung da­ge­gen unter Ge­ne­ral­ver­dacht. Das be­arg­wöhn­te he­te­ro­se­xu­el­le Ver­lan­gen soll nicht mehr die pri­va­te Sache von Ein­zel­nen sein, son­dern gemäß einer po­li­tisch kor­rek­ten Ver­fah­rens­an­wei­sung ab­lau­fen, deren Re­gel­kon­for­mi­tät der gen­der­po­li­tisch auf­ge­motz­te Staat über­wacht.

Dem­ge­gen­über an zi­vi­li­sa­to­ri­sche Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten zu er­in­nern, war nötig an­ge­sichts der Eta­blie­rung von Zu­stän­den, vor denen Ka­tha­ri­na Rutsch­ky vor 25 Jah­ren warn­te, ohne wahr­schein­lich wirk­lich an die Mög­lich­keit ihrer Durch­set­zung ge­glaubt zu haben. So wit­zel­te sie in einer Po­le­mik gegen den links­li­be­ra­len Pu­ri­ta­nis­mus, dass der Hang, alles Se­xu­el­le mit dem „Pest­hauch des Per­ver­sen und Mons­trö­sen“ zu um­wöl­ken, wo­mög­lich der­einst dazu führe, dass nur noch „,ge­schütz­ter Ver­kehr‘ nach schrift­li­cher Ver­ein­ba­rung vor Zeu­gen mit ge­ord­ne­ten Glied­ma­ßen“ mög­lich sei. (7) Und eben diese Dys­to­pie klingt heute lei­der gar nicht mehr ab­we­gig. Nach den neu­es­ten Vor­stö­ßen zur Se­xu­al­straf­rechts­re­form in Schwe­den, die sich als di­rek­te Re­ak­ti­on auf #MeToo aus­ge­ben, soll bald der­je­ni­ge, der den Ge­schlechts­akt voll­zie­hen will, zuvor um Er­laub­nis fra­gen müs­sen, sich also ein ak­ti­ves Ein­ver­ständ­nis vom Part­ner ab­ho­len, da pas­si­ves Dul­den nicht mehr als „Ja“ gilt. Bei Ver­säum­nis droht eine Ver­ur­tei­lung wegen Ver­ge­wal­ti­gung. Offen ist noch, ob die ver­ba­le Kom­mu­ni­ka­ti­on vor jeder Be­rüh­rung und jedem Stel­lungs­wech­sel zu wie­der­ho­len ist; am si­chers­ten wäre so oder so ein pro­to­koll­füh­ren­der Zeuge vom lo­ka­len Awa­ren­ess-Team im Staats­auf­trag.

Eine Ge­sell­schaft also, in der die Ein­zel­nen sich nicht mehr in der Lage sehen, zu er­ken­nen, ob ein Kuss oder eine Be­rüh­rung er­wi­dert wird, weil sie zu ver­ängs­tigt, zu miss­trau­isch und schlicht­weg psy­chisch zu ver­krüp­pelt sind, um noch Sex mit­ein­an­der zu haben, ist eine gar nicht un­rea­lis­ti­sche Op­ti­on, für die es nicht nur in Schwe­den be­reits An­zei­chen gibt. Zu mei­nen, dass das „den Män­nern“ nur recht ge­sche­he, igno­riert die Be­dürf­nis­se he­te­ro­se­xu­el­ler Frau­en, deren Vor­stel­lun­gen von Sinn­lich­keit einem ver­trags­fi­xier­ten Bü­ro­kra­tis­mus eben­falls zu­wi­der­lau­fen dürf­ten. Darum heißt es im Ein­spruch der Fran­zö­sin­nen: „Als Frau­en er­ken­nen wir uns nicht in die­sem Fe­mi­nis­mus, der über die An­pran­ge­rung von Macht­miss­brauch hin­aus das Ge­sicht eines Has­ses auf Män­ner und die Se­xua­li­tät an­nimmt.“

Sakralisierung des (Frauen-)Körpers

Der den Kri­ti­ken ge­mein­sa­me Tenor be­steht also darin, #MeToo vor­zu­hal­ten, übers Ziel hin­aus­zu­schie­ßen, d.h. ein be­rech­tig­tes fe­mi­nis­ti­sches An­lie­gen der­art über­zo­gen zu haben, dass die Kon­se­quen­zen ne­ga­tiv aufs An­lie­gen selbst zu­rück­schla­gen. Noch in der men­schen­freund­li­chen und am ei­ge­nen In­ter­es­se ori­en­tier­ten Zu­rück­wei­sung der als Ge­walt­prä­ven­ti­on mas­kier­ten Se­xu­al­feind­schaft gegen Män­ner, die prin­zi­pi­ell schon bei der be­reits er­wähn­ten Rutsch­ky zu fin­den war – „In einer selt­sa­men Um­keh­rung sol­len in die­ser Welt­sicht Män­ner so unter Ku­ra­tel ge­stellt wer­den, wie im Islam die Frau­en“ –, wird der Män­ner­hass als Indiz dafür ge­nom­men, wei­ter­hin eine ir­gend­wie frau­en­eman­zi­pie­ren­de Ab­sicht un­ter­stel­len zu kön­nen.

Eine der­art am Mo­dell der kom­mu­ni­ka­ti­ven Ra­tio­na­li­tät ori­en­tier­te Kri­tik prallt aber nicht nur an einem kon­for­mis­tisch-dif­fe­ren­zier­ten #Me­Too-Selbst­ver­ständ­nis ab, wie es von einer Ex­per­tin des Missy Ma­ga­zins – Ste­fa­nie Lo­haus – ver­kör­pert wird:

Na­tür­lich muss un­ter­schie­den wer­den zwi­schen einer Straf­tat nach dem Ge­setz­buch, die ja auch eine Straf­tat ist, weil die Aus­wir­kun­gen auf das Opfer schon noch ganz an­de­re sind als im Falle eines dum­men Spru­ches so­zu­sa­gen. Gleich­zei­tig sind aber so­wohl dumme Sprü­che und Be­läs­ti­gun­gen als auch se­xua­li­sier­te Ge­walt Teil des­sen, was man, aus dem ame­ri­ka­ni­schen Sprach­raum kom­mend, Rape Cul­tu­re nennt, Ver­ge­wal­ti­gungs­kul­tur. […] Es ist Teil des­sel­ben Pro­blems in un­ter­schied­li­chen Aus­ma­ßen. (8)

Schlim­mer noch: Mit einer, die „Straf­ta­ten“ kennt, die nicht im „Ge­setz­buch ste­hen“ – mögen viele den­ken –, ließe sich viel­leicht zu­min­dest ein Kon­sens dar­über er­zie­len, dass „Ver­ge­wal­ti­gungs­kul­tur“ der fal­sche Ober­be­griff ist, um Dis­pa­ra­tes unter ihm zu sub­su­mie­ren. Ei­nig­te man sich statt­des­sen auf „se­xu­el­le Über­grif­fig­keit“ oder „Se­xis­mus“, um dar­un­ter dann ver­schie­de­ne For­men und Aus­ma­ße eines gegen Frau­en ge­rich­te­ten se­xu­el­len Macht­miss­brauchs zu un­ter­schei­den, denen vom dum­men Spruch bis zur Ver­ge­wal­ti­gung mit der je an­ge­mes­se­nen Em­pö­rungs­in­ten­si­tät und mo­ra­li­schen wie ju­ris­ti­schen Sank­ti­ons­for­de­rung zu be­geg­nen wäre, herrsch­te doch schnell wie­der ei­ni­ger­ma­ßen Ord­nung im fe­mi­nis­ti­schen Durch­ein­an­der, und es könn­te ra­tio­nal dar­über ge­strit­ten wer­den, wie weit­ge­hend miss­glück­te und pe­ne­tran­te An­ma­chen vom pau­scha­len Se­xis­mus-Ver­dikt aus­zu­neh­men wären.

Denn genau diese Denke steht für den ei­gent­li­chen Skan­dal. Sie über­sieht oder teilt einen an­ti­fe­mi­nis­ti­schen, an­ti­bür­ger­li­chen, ja an­ti­zi­vi­li­sa­to­ri­schen Pa­ra­dig­men­wech­sel, der sich schlei­chend längst voll­zo­gen hat. Das zu schüt­zen­de Rechts­gut ist näm­lich gar nicht mehr die se­xu­el­le Selbst­be­stim­mung samt bür­ger­li­cher Sub­jekt­form, wes­halb jede Un­ter­stel­lung von Wi­der­sprü­chen zwi­schen Zweck und Mit­tel in der post­fe­mi­nis­ti­schen Hetz­kam­pa­gne sinn­los ge­wor­den ist. Die heut­zu­ta­ge als ver­al­tet gel­ten­den Se­xu­al­straf­rechts­mo­del­le fuß­ten auf der qua­li­ta­ti­ven Un­ter­schei­dung zwi­schen er­heb­li­chen und daher straf­wür­di­gen Ver­let­zun­gen des se­xu­el­len Selbst­be­stim­mungs­rechts und Ba­ga­tell­ver­ge­hen, wobei die „se­xu­el­le Hand­lung“ kon­text­be­zo­gen be­wer­tet wurde. Un­ter­stellt war, dass sich Frau­en als bür­ger­li­che Sub­jek­te eines un­er­wünsch­ten Bu­sen­grabschers in einer Knei­pe etwa mit­tels einer Ohr­fei­ge und/oder unter Zu­hil­fe­nah­me an­de­rer Staats­bür­ger er­weh­ren kön­nen, und dass die Prä­ven­ti­on solch un­ge­bühr­li­chen und oft aso­zia­len Ver­hal­tens eher eine Frage der Er­zie­hung als der straf­recht­li­chen Ver­fol­gung und Mar­kie­rung des Übel­tä­ters als Se­xu­al­ver­bre­cher zu sein hat.

Dem­ge­gen­über waren die auf der Köl­ner Dom­plat­te ver­üb­ten Taten vom ag­gres­si­ven Be­tat­schen zur Ver­ge­wal­ti­gung ein­ge­bet­tet in einen Ge­walt an­dro­hen­den oder an­wen­den­den Ge­samt­ab­lauf und stell­ten sich als ge­walt­ge­stütz­ter An­griff auf die bür­ger­li­che Öf­fent­lich­keit dar, so dass sie ohne Rechts­re­for­men um­fas­send hät­ten ver­folgt wer­den kön­nen. Doch da die an­tis­e­xis­ti­schen Op­fer­schüt­zer sich im Hass auf jene Öf­fent­lich­keit mit den Exe­ku­to­ren is­la­mi­schen Frau­en­has­ses einig sind, war ihnen diese Di­men­si­on der Köl­ner Er­eig­nis­se von vorn­her­ein völ­lig egal. Statt­des­sen wur­den die Über­grif­fe der Sil­ves­ter­nacht zum Alibi für eine Straf­rechts­re­form ge­nom­men, die die Al­li­anz von an­tis­e­xis­ti­schem und is­la­mi­schem Be­rüh­rungs­ver­bot ko­di­fi­ziert hat. Vor den ju­ris­ti­schen Nach­jus­tie­run­gen in Deutsch­land wur­den se­xu­el­le Be­läs­ti­gun­gen au­ßer­halb des Se­xu­al­straf­rechts ge­ge­be­nen­falls als Be­lei­di­gung ver­han­delt und muss­ten eine ge­wis­se Schwe­re auf­wei­sen, um straf­recht­lich re­le­vant zu wer­den. Seit den ak­tu­el­len Re­for­men ist se­xu­el­le Be­läs­ti­gung als un­er­wünsch­te, se­xu­ell kon­no­tier­te Be­rüh­rung eine dem se­xu­el­len Über­griff bzw. der se­xu­el­len Nö­ti­gung vor­ge­la­ger­te Se­xu­al­straf­tat.

Das Pa­ra­dig­ma, das sol­chen Ver­schär­fun­gen des Se­xu­al­straf­rechts zu­grun­de­liegt und sich in­zwi­schen bis in ideo­lo­gie­kri­ti­sche Krei­se durch­zu­set­zen scheint, kommt der is­la­mi­schen Se­xu­al­mo­ral vor allem darin ent­ge­gen, dass es eine – den Frau­en im ers­ten Mo­ment viel­leicht schmei­cheln­de – Sa­kra­li­sie­rung ihrer Kör­per vor­nimmt. „Se­xu­el­le Über­grif­fig­keit“ bzw. „Se­xis­mus“ wird in der Logik einer Ent­wei­hung, Schän­dung des Hei­li­gen ge­dacht. Man be­treibt den­sel­ben Fre­vel, ob man den ma­te­ri­el­len Kult­ge­gen­stand nur be­rührt oder durch Auf-den-Bo­den-Wer­fen zer­bricht. Es wird nur noch quan­ti­ta­tiv und kon­text­un­ab­hän­gig nach der Schwe­re der Über­tre­tung un­ter­schie­den. In die­sem Sinne er­nied­ri­gen sich sä­ku­la­re Ju­ris­ten zu Pries­tern einer ar­chai­schen Kult­ge­mein­schaft, wel­che die Ver­ge­hen am der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ent­ho­ben ge­dach­ten Frau­en­kör­per samt Sank­tio­nen sor­tie­ren und die Aus­nah­men vom Be­rüh­rungs­ver­bot fest­le­gen. War einst wäh­rend des ein­ver­nehm­li­chen Se­xu­a­lakts die Fä­hig­keit der Be­tei­lig­ten ge­fragt, Sub­jekt­form, Ver­ant­wor­tung und Kon­troll­wahn ab­zu­strei­fen, sich also im an­de­ren zu ver­lie­ren, hin­zu­ge­ben, eben auch fremd­be­stim­men zu las­sen: vom Part­ner wie auch von der ei­ge­nen Lust, steht die Lust nun selbst unter der sou­ve­rä­nen Re­gle­men­tie­rung von haram und halal.

Die von sol­chem Op­fer­schutz be­trie­be­ne Aus­bür­ge­rung der Frau durch ihre Sa­kra­li­sie­rung ist eine dop­pel­te: Am nicht-ge­schän­de­ten, un­be­rühr­ten Sub­jekt in­ter­es­siert nur noch das po­ten­ti­el­le Opfer, die zur Be­stä­ti­gung des Sitt­lich­keits­wahns ge­ra­de­zu her­bei­ge­wünsch­te Schän­dung, wäh­rend das tat­säch­li­che Opfer se­xu­el­ler Ge­walt voll­kom­men un­em­pa­thisch gegen alle Ver­su­che ab­ge­schot­tet wird, Sub­jek­ti­vi­tät zu­rück­zu­er­lan­gen, um den Op­fer­sta­tus zu ver­ewi­gen, und es so als Ver­hei­lig­tes in einer Mi­schung aus Über­i­den­ti­fi­ka­ti­on und Op­fer­neid vor den Kar­ren der ei­ge­nen Kam­pa­gnen zu span­nen. Statt sich also wie De­neuve auf öf­fent­li­chen Druck hin bei den tat­säch­li­chen Op­fern se­xu­el­ler Ge­walt dafür zu ent­schul­di­gen, dass der von ihr un­ter­zeich­ne­te of­fe­ne Brief deren Ge­füh­le ver­letzt habe, hätte eine selbst­be­wuss­te, von Em­pa­thie mit den Op­fern ge­tra­ge­ne Ant­wort ganz an­ders lau­ten müs­sen: Opfer, die sich von dem Brief ver­letzt wäh­nen, stel­len damit unter Be­weis, be­reits in die Fänge von Op­fer­schüt­zern ge­ra­ten zu sein, aus denen sie zu be­frei­en obers­te Pflicht des Fe­mi­nis­mus sein müss­te.

Krieg der Generationen

Of­fen­kun­dig er­scheint es vie­len Frau­en und auch Män­nern at­trak­tiv, das se­xu­el­le Selbst­be­stim­mungs­recht und die bür­ger­li­che Sub­jekt­form zu Guns­ten einer ar­chai­schen Sa­kra­li­sie­rung des Frau­en­kör­pers preis­zu­ge­ben und Sub­jek­ti­vi­tät wie Kon­trol­le statt­des­sen aus­ge­rech­net da zu be­an­spru­chen, wo ihre mo­ment­haf­te Sus­pen­die­rung Be­din­gung von Glück wäre. Die Vor­aus­set­zung die­ses Wan­dels ist ein Ge­ne­ra­tio­nen­krieg, der durch gra­vie­ren­de Ein­brü­che in der Ent­wick­lung der nach­bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ver­mit­telt ist, wor­auf zu re­flek­tie­ren wäre, sol­len die in­fla­tio­nä­ren Kla­gen über „se­xu­el­le Be­läs­ti­gun­gen“ und „Macht­miss­brauch“ im Zu­sam­men­hang von #MeToo an­ge­mes­sen ent­zif­fert wer­den.

Zum einen hat der Nie­der­gang des Pa­tri­ar­chats, die Kon­sti­tu­ie­rung der „va­ter­lo­sen Ge­sell­schaft“, schon früh­zei­tig Fra­gen auf­ge­wor­fen, die sich mit der Auf­lö­sung der klas­si­schen Klein­fa­mi­lie noch zu­spitz­ten: Wer über­nimmt ei­gent­lich die sym­bo­li­sche Po­si­ti­on der für die ge­lun­ge­ne In­di­vi­dua­ti­on und Sub­jek­ti­vie­rung er­for­der­li­chen vä­ter­li­chen In­stanz? Was be­deu­tet es für die Aus­tra­gung ödi­pa­ler Kon­flik­te, wenn be­din­gungs­lo­se, tra­di­tio­nell der Mut­ter über­ant­wor­te­te Liebe und vä­ter­li­che Au­to­ri­tät in­ner­fa­mi­li­är not­wen­dig un­zu­läng­lich von einer Per­son (al­lein­er­zie­hen­de Müt­ter oder Väter) ver­kör­pert wer­den oder Gren­zen set­zen­de Au­to­ri­tä­ten von vorn­her­ein ten­den­zi­ell nur au­ßer­halb der Fa­mi­lie (Kin­der­gärt­ner und Leh­rer bei­der­lei Ge­schlechts) an­zu­tref­fen sind? Und was folgt für die So­zia­li­sa­ti­on von Töch­tern wie Söh­nen dar­aus, dass kein nar­ziss­tisch ge­kränk­ter Vater die um­klam­mern­de Mut­ter-Kind-Sym­bio­se mehr sub­stan­ti­ell stört?

Zum an­de­ren ge­hö­ren zum his­to­ri­schen Sieg des Ka­pi­ta­lis­mus über den Re­al­so­zia­lis­mus mit dem Ende der So­wjet­uni­on zwei für jeden spür­ba­re Kon­se­quen­zen: Im ideo­lo­gi­schen Kampf gegen einen Feind ge­wis­ser­ma­ßen im Wes­ten, zu­min­dest dem An­spruch nach in der Zi­vi­li­sa­ti­on, sah sich die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft noch dazu ge­zwun­gen, ein re­la­tiv kla­res Ver­ständ­nis des­sen her­aus­zu­bil­den und wach­zu­hal­ten, was ei­gent­lich das Bür­ger­li­che der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft aus­macht. Mit dem Tri­umph über den Osten ver­all­ge­mei­ner­te sich ein von Fran­cis Fu­ku­ya­mas Ende der Ge­schich­te ein­ge­fan­ge­ner Ge­schichts­op­ti­mis­mus, der jede Selbst­be­spie­ge­lung so über­flüs­sig zu ma­chen schien, dass die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft in dem Mo­ment, da ihr in­ner- und au­ßer­ter­ri­to­ri­al ein Feind au­ßer­halb der Zi­vi­li­sa­ti­on den Krieg er­klärt – not­dürf­tig er­fasst von Hun­ting­tons Clash of Ci­vi­liza­t­i­ons –, weder zu mer­ken scheint, dass über­haupt ein auf ihr Wesen zie­len­der Krieg im Gange ist, noch weiß, was in die­sem ver­tei­di­gens­wert wäre, wes­halb sie sich – bes­ten­falls – aufs Mi­ni­mum von Ter­ror­ab­wehr und Schutz des Le­bens der Staats­bür­ger be­schränkt. Eine zwei­te Folge die­ses Sie­ges ist, dass die ent­fes­sel­te Öko­no­mie immer bru­ta­ler wird und den am Kon­kur­renz­kampf aller gegen alle Be­tei­lig­ten für wach­sen­de Ver­hal­tens­zu­mu­tun­gen immer we­ni­ger Sinn­vol­les oder Schö­nes zu bie­ten hat. Das an­stren­gen­de Un­glück ohne Aus­sicht auf Bes­se­rung stei­gert nicht nur den Hass auf den Kon­kur­ren­ten zum Miss­trau­en gegen den Mit­men­schen als sol­chen, son­dern macht es immer frag­wür­di­ger, sein öko­no­mi­sches Schick­sal in der schon immer pre­kä­ren, weil wi­der­sprüch­li­chen Sub­jekt­form wei­ter­hin selbst zu ver­ant­wor­ten, wo man sich nicht ganz zu Un­recht als Opfer von Pro­zes­sen sieht, denen man ohn­mäch­tig aus­ge­lie­fert ist. Wäh­rend also das Un­be­ha­gen der Ein­zel­nen an der bür­ger­li­chen Ver­ge­sell­schaf­tung wächst, scheint den of­fi­zi­el­len In­sti­tu­tio­nen in Sa­chen Ei­gen­wer­bung nichts mehr ein­zu­fal­len.

Dass #MeToo als mas­sen­hys­te­rischs­te Op­fer­schutz­kam­pa­gne der jün­ge­ren Ge­schich­te vor allem ein Krieg der Ge­ne­ra­tio­nen bzw. bru­tals­te, noch ein­sei­ti­ge und un­er­wi­der­te Kampf­an­sa­ge der Jun­gen an die Alten ist, dem ist die Frank­fur­ter Rund­schau in einer Fest­stel­lung näher ge­kom­men, als in­ten­diert war:

Der #Me­Too-Auf­schrei kam über­wie­gend von jun­gen Frau­en unter vier­zig, die schärfs­ten Kri­ti­ke­rin­nen, wie die Spie­gel-Re­por­te­rin Gi­se­la Fried­rich­sen, waren etwas älter. Auch an­de­re ag­gres­si­ve Stim­men kamen von Frau­en, die vor drei­ßig, vier­zig Jah­ren ihr Be­rufs­le­ben be­gan­nen. Das war eine Zeit, in der es über­le­bens­wich­tig war, die Per­spek­ti­ve von Män­nern zu ver­in­ner­li­chen.“ (fr.de, 10.12.2017)

Pauschale Unterwerfungsverweigerung

Ab­ge­se­hen davon, dass Frau­en, die „vor drei­ßig, vier­zig Jah­ren“, also in der Zeit der Zwei­ten Frau­en­be­we­gung, er­werbs­tä­tig wur­den, ge­ra­de nicht von der selbst­ver­ständ­li­chen Ver­in­ner­li­chung pa­tri­ar­cha­ler Ver­hal­tens­mus­ter ge­zeich­net sind, wirft die Au­to­rin Sa­bi­ne Ren­ne­f­anz aus­ge­rech­net jenen „alten“ Frau­en, die im Ver­bund mit li­be­ra­len Män­nern all das er­kämpft haben, was „junge“ Frau­en heute selbst­ver­ständ­lich ge­nie­ßen – oder bes­ser ge­sagt: immer öfter zer­stö­ren wol­len –, vor, mit dem Pa­tri­ar­chat zu kol­la­bo­rie­ren. Diese In­fa­mie ist mög­lich, weil der „alte“ Fe­mi­nis­mus noch un­ter­schie­den hat zwi­schen einer Un­ter­wer­fung, die Frau­en als Frau­en meint und daher als Herr­schaft ab­zu­schaf­fen ist, und einer Un­ter­wer­fung, die die Vor­aus­set­zung ge­lin­gen­der In­di­vi­dua­ti­on, Sub­jek­ti­vie­rung, ja von Kul­tur, also von Mensch­wer­dung über­haupt dar­stellt. Darum war der Kampf gegen das Pa­tri­ar­chat immer dif­fi­zil, in­so­fern der pa­tri­ar­cha­le Vater beide Mo­men­te exe­ku­tier­te, die in der für die Ich- und Über­ich­bil­dung not­wen­di­gen „Ver­in­ner­li­chung“ in­ein­an­der über­ge­hen konn­ten. Hin­ter dem Kol­la­bo­ra­ti­ons­vor­wurf gegen die „Alten“ und der Über­zeu­gung, das (nicht mehr exis­ten­te) Pa­tri­ar­chat kon­se­quen­ter zu be­kämp­fen als diese, ver­birgt sich daher nichts an­de­res als der sich als Em­power­ment ca­mou­flie­ren­de nar­ziss­tisch-in­fan­ti­le An­griff auf den zi­vi­li­sie­ren­den As­pekt der im Sub­jekt­be­griff ge­setz­ten Not­wen­dig­keit der An­er­ken­nung des Rea­li­täts­prin­zips.

In alles an­de­re als ideo­lo­gie­kri­ti­scher Ab­sicht ist die­ses Pro­gramm von Heidi Klum for­mu­liert wor­den. Als ehe­ma­li­ges Model, das vor allem durch die Pro­fes­si­on auf­ge­fal­len ist, junge Frau­en mit­tels des un­mo­ra­li­schen An­ge­bots einer viel­leicht mög­li­chen Kar­rie­re in ein Cas­ting-For­mat zu lo­cken, in dem es vor allem darum geht, dass voy­eu­ris­ti­sche Frau­en vor dem Fern­se­her ex­hi­bi­tio­nis­ti­schen Frau­en im Fern­se­her dabei zu­schau­en, was diese be­reit sind, sich selbst und den Kon­kur­ren­tin­nen an­zu­tun, war sie eine der ers­ten, die nach ihrer Mei­nung zum „Wein­stein-Skan­dal“ be­fragt wurde. Auch sie äu­ßer­te, ein Ver­hal­ten wie das von Wein­stein sei weder in Hol­ly­wood noch an­ders­wo ein Ein­zel­fall, und fügte hinzu:

Es wäre si­cher schwer, eine Frau zu fin­den – mich ein­ge­schlos­sen –, die sich noch nie ein­ge­schüch­tert oder be­droht ge­fühlt hat von einem Mann, der seine Macht, Po­si­ti­on oder kör­per­li­che Sta­tur aus­nutzt.“ (Spie­gel on­line, 13.10.2017)

In State­ments wie die­sen wird nicht nur unter „se­xis­ti­sche Er­leb­nis­se“ oder „se­xu­el­le Über­grif­fig­keit“ ver­bucht, was jede ernst­haf­te Dis­kus­si­on von­ein­an­der zu tren­nen hätte: plum­pe An­ma­che, wie­der­hol­te plum­pe An­ma­che, se­xu­el­le Be­läs­ti­gung und Nö­ti­gung bis zu Ver­ge­wal­ti­gung. Man will viel­mehr „Opfer“ einer Er­fah­rung sein, ohne die Bür­ger­lich­keit, Zi­vi­li­siert­heit und Eman­zi­pa­ti­on gar nicht zu den­ken ist: Sich schon mal von einem Mann, der seine Macht, Po­si­ti­on oder kör­per­li­che Sta­tur aus­nutzt, ein­ge­schüch­tert oder be­droht ge­fühlt zu haben, dass kennt jeder Schü­ler vom Leh­rer und jedes Kind vom Vater bzw. von denen, die in der nach­pa­tri­ar­cha­len Ge­sell­schaft mehr schlecht als recht sei­nen Platz ein­ge­nom­men haben, näm­lich von Müt­tern und Päd­ago­gen bei­der­lei Ge­schlechts. Heidi Klum hat damit un­ge­wollt tref­fend aus­ge­spro­chen, dass der Kum­mer­kas­ten, der sich #MeToo nennt, al­lein vom Un­be­ha­gen an der Zi­vi­li­sa­ti­on zu­sam­men­ge­hal­ten wird, be­stückt mit Kla­gen von in­fan­ti­len Wut­bür­ge­rin­nen, denen jede Stö­rung ihres Nar­ziss­mus, jede For­de­rung nach An­pas­sung und Rück­sicht­nah­me als Be­läs­ti­gung gilt und die mit ihrem See­len­strip­tease in fort­ge­schrit­te­nem Le­bens­e­kel seit Mo­na­ten der Ver­nunft auf die Pelle rü­cken.

II.

Dass dafür von allen Sei­ten Ap­plaus kommt, hängt auch damit zu­sam­men, dass das fort­wäh­ren­de Reden dar­über, was man ge­ra­de denkt und fühlt, Hoch­kon­junk­tur hat. Die Be­reit­schaft, einem grö­ße­ren Pu­bli­kum in­ti­me De­tails aus­zu­brei­ten und Ein­bli­cke in die Ba­na­li­tät und Trost­lo­sig­keit des ei­ge­nen All­tags zu ge­wäh­ren, über­rascht nicht an­ge­sichts einer Com­mu­ni­ty, in der sich jeder mit sei­nen Fri­ends und Fans für einen Me­di­en­star im Klei­nen hält und sich alle ge­gen­sei­tig darin be­stär­ken, dass es von mensch­heits­ge­schicht­li­cher Re­le­vanz sei, wo man ge­ra­de her­um­turnt, was es heute zum Früh­stück gab und wer bei wem zu wel­cher Sache aus wel­chen Grün­den auch immer sein „I too“ hin­ter­lässt. Set­zen die ech­ten Stars dann einen Op­fer­trend, ma­chen eben alle mit – und es heißt „Metoo“.

Peinlich, aber authentisch

Die Frank­fur­ter Rund­schau ent­deck­te in der all­ge­mei­nen Aus­pack- und Auf­deck­stim­mung nicht nur ganz viel Mut zum ge­fühls­be­ton­ten Drauf­los­plau­dern, son­dern at­tes­tier­te aus­ge­rech­net deut­schen Frau­en offen kon­traf­ak­tisch eine über­gro­ße Scheu vor lar­mo­yan­tem Ge­schwätz: „Ein Grund, warum die De­bat­te hier­zu­lan­de so be­hä­big läuft, ist viel­leicht, dass es eine große Angst gibt, als Opfer zu er­schei­nen. An­ders als in den USA gilt je­mand, der über sich und seine ne­ga­ti­ven Er­fah­run­gen redet, schnell als schwach. Dass das Drü­ber-Re­den, das Sich-Öff­nen ein Akt der Selbst­er­mäch­ti­gung sein kann, wird we­ni­ger ge­se­hen.“ (10.12.2017) Darum for­der­te man bei der Taz gleich eine Kul­tur­re­vo­lu­ti­on für Deutsch­land: „Un­se­re Ge­sell­schaft hält nicht viel Platz be­reit, um über Ver­wun­dung und Hilf­lo­sig­keit zu spre­chen. Was wir brau­chen, ist eine Kul­tur des Ver­trau­ens.“ (16.10.2017) Bei deren Aus­bau dürfe auch die deut­sche Wirt­schaft nicht feh­len, die aus na­he­lie­gen­den Grün­den kein Pro­blem mit mie­ses­ter Be­zah­lung in Be­rei­chen hat, in denen über­wie­gend Frau­en ma­lo­chen, aber fa­mi­liä­res Be­triebs­kli­ma als leis­tungs­stei­gern­de Kom­po­nen­te zu schät­zen weiß. Ent­spre­chend lau­te­te die Emp­feh­lung im Han­dels­blatt: „Bis­lang duckt sich die deut­sche Wirt­schaft bei dem Thema weit­ge­hend weg. Dabei würde mehr #Me­Too-De­bat­te sie auch öko­no­misch vor­an­brin­gen. Damit das ge­lingt, brau­chen Fir­men eine Kul­tur der Of­fen­heit.“ (21.12.2017) Dabei ist es nicht son­der­lich ori­gi­nell, die öf­fent­li­chen Trai­nings­ein­hei­ten in Sa­chen Em­power­ment und Selbst­re­fle­xi­on im Zuge von #MeToo als Prak­ti­ka dienst­bar zu ma­chen. Längst ge­hö­ren der stra­te­gi­sche Ein­satz von Emo­tio­nen sowie das Drü­ber-Re­den und Sich-Öff­nen zu den Schlüs­sel­qua­li­fi­ka­tio­nen in der post­mo­der­nen Ar­beits­welt.

Das po­li­tisch kor­rek­te Dar­bie­ten der in­ti­men Plei­ten und per­sön­li­chen Pech­sträh­nen in der Liebe wie im Leben war indes noch nie ein Aus­druck von zu­ge­las­se­ner Schwä­che und Re­fle­xi­ons­fä­hig­keit. Viel­mehr ist die Kon­fron­ta­ti­on an­de­rer mit den ei­ge­nen Ge­heim­nis­sen und Nöten immer schon an­ma­ßend, pein­lich und über­grif­fig ge­we­sen. Die häss­li­che Ma­rot­te des­je­ni­gen, der sich sei­ner Um­welt ge­gen­über dau­ernd scham­los öff­net, fiel in der Ver­gan­gen­heit quan­ti­ta­tiv kaum ins Ge­wicht, weil das Ge­spür der al­ler­meis­ten dafür, wann und wo man bes­ser die Klap­pe hält, noch in­takt war. Auch exis­tier­te die Mög­lich­keit, sich der gan­zen Welt mit­zu­tei­len, vor dem In­ter­net und ins­be­son­de­re vor dem Sie­ges­zug der so­zia­len Netz­wer­ke schlicht­weg nicht. So­lan­ge man die Pri­vat­sphä­re als eine Er­run­gen­schaft schätz­te, die einem auch Ruhe vor an­de­ren ver­sprach, ging die An­er­ken­nung des Pri­va­ten mit Hemm­schwel­len ein­her, die ohne wei­te­res zu über­win­den gar nicht im In­ter­es­se der Ein­zel­nen lag. Es scheint, als habe #MeToo sol­che ru­di­men­tä­ren Selbst­schutz­me­cha­nis­men voll­ends außer Kraft ge­setzt.

So zum Bei­spiel – als in jeder Hin­sicht pars pro toto – bei Ve­ro­ni­ka Kra­cher, einer Au­to­rin, die als po­si­tiv dis­kri­mi­nier­te, d.h. chro­nisch be­ein­träch­tig­te west­li­che Frau jeden Mist bei lin­ken Zeit­schrif­ten ab­la­den darf, die aus gen­der­po­li­ti­schen Image­grün­den we­nigs­tens hin und wie­der mal eine Au­to­rin (Kon­kret) oder min­des­tens so viele Au­to­rin­nen wie Au­to­ren (Jung­le World) im In­halts­ver­zeich­nis auf­füh­ren wol­len. Da die sol­cher­art Ho­fier­te aber die Tat­sa­che, dass auch linke Re­dak­tio­nen ge­le­gent­lich Un­zu­rech­nungs­fä­hi­ges ab­leh­nen, als Zu­mu­tung, letzt­lich als Zen­sur und Ver­fäl­schung des au­then­ti­schen Ge­dan­kens er­lebt, muss be­glei­tend zur halb­pro­fes­sio­nel­len jour­na­lis­ti­schen Tä­tig­keit ein öf­fent­li­cher Face­book-Auf­tritt her, um der Ge­mein­de einen von äu­ßer­li­chen Ein­flüs­sen un­ver­stell­ten Blick in den Orkus des ei­ge­nen In­ne­ren zu er­öff­nen. So kom­men Ela­bo­ra­te zum Vor­schein, die nicht schön, aber auf­schluss­reich sind, weil die als Selbst­re­fle­xi­on sich miss­ver­ste­hen­de Pa­ra­noia für den Netz­werk­fe­mi­nis­mus re­prä­sen­ta­tiv ist. Am 6.1.2018 schrieb Kra­cher auf Face­book etwas, das voll­stän­dig zi­tiert wer­den muss, um nicht den Ver­dacht zu näh­ren, in et­wai­gen Aus­las­sun­gen käme eine Ra­tio­na­li­tät zum Zuge, um die die Au­to­rin der Poin­te wil­len be­tro­gen würde:

Es sind die klei­nen Dinge, an denen ich die To­ta­li­tät des­sen er­fah­re was es heißt das an­de­re Ge­schlecht zu sein. Mans­plai­ning, das dem­je­ni­gen, der mir von oben herab jene Ba­na­li­tä­ten, die ich schon weiß, gar nicht erst als sol­ches auf­fällt. An­ge­starrt wer­den, was dem Star­rer nicht ein­mal un­an­ge­nehm ist, wenn man wü­tend zu­rück­guckt, weil das ist ja sein gutes recht. Mehr Re­pro­duk­ti­ons­ar­beit zu ma­chen als die Mit­be­woh­ner, weil das Wi­schen über den Herd, das Wa­schen der Hand­tü­cher, Teil mei­ner So­zia­li­sa­ti­on war und derer nicht. Dass sie da­durch zu in­di­rek­ten Nutz­nie­ßern pa­tri­ar­cha­ler Struk­tu­ren wer­den, fällt auch ihnen nicht auf. Emo­tio­na­le Ar­beit in Freund­schaf­ten leis­ten weil man kann doch so gut zu­hö­ren. Re­gu­lie­rend auf die im­pul­si­ven Aus­brü­che des Part­ners ein­wir­ken weil man ist als Frau ja so be­herrscht. Gleich­zei­tig vom sel­ben Part­ner pa­tho­lo­gi­siert wer­den, weil er als ra­tio­na­ler Mann in der Lage ist, mir psy­chisch fra­gi­len Ding zu er­klä­ren wie meine Psy­che denn so funk­tio­niert. Im Club wie zu­fäl­lig be­rührt wer­den, wenn man ohne männ­li­che Be­glei­tung da ist, immer und immer wie­der. Am Ar­beits­platz er­klä­ren müs­sen, warum man nicht über chau­vi­nis­ti­sche Witze lacht. Auf Twit­ter und Face­book se­xis­tisch be­lei­digt wer­den, ein­fach weil man kein Mann ist und eine Po­si­ti­on zu ir­gend­ei­nem Thema hat. (Und ich spre­che hier aus der ver­dammt pri­vi­le­gier­ten Po­si­ti­on einer wei­ßen, bür­ger­li­chen Frau; an­de­ren Frau­en macht man ihre An­ders­ar­tig­keit von der männ­li­chen Norm Tag für Tag durch Schlä­ge, Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Zwangs­pro­sti­tu­ti­on klar.) Es ist wie mit Mü­cken­sti­chen: einer stört viel­leicht ein wenig, aber naja, man kommt damit klar. Aber man ist die ganze Zeit von einem Schwarm sum­men­der, pie­sa­cken­der, ste­chen­der Mü­cken um­ringt, und es hört nicht auf. Und man weiß, dass es auch nicht auf­hö­ren wird. Und all jenen Mü­cken-Män­nern ist es, weil das Nutz­nie­ßen die­ser Struk­tu­ren zwei­te Natur ge­wor­den ist, nicht ein­mal be­wusst. Das An­spre­chen der Tat­sa­che, dass es so wie es ist nicht blei­ben muss, wird ent­we­der be­lä­chelt oder ge­nervt, em­pört ab­ge­tan. Aus dem Ver­hal­ten die­ser Män­ner spricht durch­aus das zwang­haft un­ter­drück­te Wis­sen, dass das, was sie ma­chen, näm­lich: KON­SE­QUENT FRAU­EN AB­WER­TEN UM SICH SEL­BER AUF­ZU­WER­TEN nicht rich­tig ist. Dass sie damit sys­te­ma­tisch an­de­ren Men­schen weh tun. Aber an­statt sich dies ein­zu­ge­ste­hen und mit der Last leben zu müs­sen, bis­her ein Schwein ge­we­sen zu sein und die enor­me Ar­beit auf­brin­gen, das zu än­dern, freut man sich doch lie­ber wei­ter­hin, Teil der Ge­win­ner (auch wenn es ein Pyr­rhus­sieg ist, auch Mann-Sein ist eine per­ma­nen­te Zu­rich­tung der ei­ge­nen Per­son) die­ses Sys­tems zu sein. Und des­halb macht man wei­ter, be­stä­tigt von der Pim­mel-Peer­group, von der Kul­tur­in­dus­trie, von den his­to­risch so ge­wach­se­nen Ver­hält­nis­sen.

Sie wis­sen nicht, was sie tun; und sie wol­len es nicht wis­sen. Und wir, die vor dem Bild he­ge­mo­nia­ler Männ­lich­keit ver­sa­gen, müs­sen er­tra­gen dass diese Zu­rich­tun­gen an uns ex­er­ziert wer­den. Es gibt Tage, an denen kann ich nicht mehr. An denen hat ein Trop­fen das Fass zum Über­lau­fen ge­bracht. An denen ich kurz vor‘m Zu­sam­men­bruch bin, weil ich die Last, kein Mann zu sein, nicht mehr zu tra­gen ver­mag. An denen selbst ich nicht mehr mei­nem ei­ge­nen An­spruch an Ruhe und Ra­tio­na­li­tät ge­recht wer­den kann und je­man­den an­schnau­ze, was mir dar­auf­hin wie­der­um zum Vor­wurf ge­macht wird, weil jeder ein­zel­ne Se­xist es ver­dient, nett be­han­delt zu wer­den. Es ist ihnen näm­lich nicht klar, dass die Bli­cke, Kom­men­ta­re, das An­fas­sen, die Über­grif­fe die struk­tu­rel­le Be­nach­tei­li­gung, all das, keine Ein­zel­fäl­le sind. Son­dern Aus­druck eines Sys­tems. Und die­ses Sys­tem muss be­en­det wer­den, und sei es ein­fach nur aus dem Grund, dass ich nicht mehr von ir­gend­wel­chen Trot­teln im In­ter­net dumm an­ge­bab­belt wer­den will.

Es ist zum Heu­len: Pech bei der Aus­wahl der Mit­be­woh­ner, die zu blöd zum Put­zen sind, ver­grif­fen bei der Part­ner­wahl, und dann will einen auch noch fast die Hälf­te der Mensch­heit ent­we­der be­lei­di­gen oder ab­schlep­pen. Im Jam­mer­ton geht or­di­nä­re An­ge­be­rei mit An­starr-An­ek­do­ten, die sich ob­ses­siv um se­xu­el­les Be­gehrt­wer­den dre­hen, über in eine Selbst­vik­ti­mi­sie­rung, gegen die mit einer Aso­zia­li­tät auf­ge­muckt wird, die nicht ein­mal davor zu­rück­schreckt, Mit­be­woh­ner und Part­ner wie selbst­ver­ständ­lich einer Ge­sin­nungs­meu­te vor­zu­füh­ren, statt mit ihnen zu klä­ren, was falsch läuft. Wenn die heiß­be­gehr­te Ve­ro­ni­ka im In­ter­net nicht dumm an­ge­bab­belt wer­den will, klappt sie nicht etwa ein­fach das Note­book zu, son­dern be­steht dar­auf, dass im Sinne ihres Ex­klu­siv­rechts auf dum­mes Bab­beln gleich ein gan­zes Sys­tem ab­ge­schafft wer­den muss, wel­ches sie mit­hil­fe ir­gend­wann ver­schluck­ter und müh­sam wie­der her­aus­ge­brach­ter Bro­cken pseu­domar­xis­ti­schen Jar­gons („To­ta­li­tät“, „Re­pro­duk­ti­ons­ar­beit“, „Kul­tur­in­dus­trie“) als schwer ka­pi­ta­lis­tisch nicht auf den Be­griff, aber auf die Phra­se bringt. Durch die Last, kein Mann zu sein, fällt ihr die in Voll­zeit be­trie­be­ne ak­ti­ve Selbstideo­lo­gi­sie­rung frei­lich schwe­rer als einst dem Gru­ben­ar­bei­ter sein Zwölf-Stun­den-Tag, was wie­der­um als Le­gi­ti­ma­ti­on dafür dient, nicht nur alle Mit­be­woh­ner, Lieb­ha­ber und Ne­ben­men­schen gleich­falls dem kern­deut­schen Be­fehl „Ar­beit, Ar­beit, Ar­beit“ aus­zu­set­zen, son­dern zu­gleich sich selbst wie ein trot­zi­ges Klein­kind auf­zu­füh­ren: nichts kön­nen, aber bo­ckig rum­mot­zen.

Männer als Ungeziefer

Was die Jung­le World-Au­to­rin zum Ge­gen­stand ihrer ver­öf­fent­lich­ten Selbst­er­kun­dung macht, sind nicht die Nöte eines Men­schen, der sich im fal­schen Kör­per emp­fin­det und über die Chan­cen einer Ge­schlechts­um­wand­lung zwecks Min­de­rung des Leids sin­niert. Sie zielt mit­tels straf­lust­be­setz­ter An­kla­gen aus dem Re­per­toire des au­to­ri­tä­ren Syn­droms auf eine Feind­be­stim­mung, die al­ler­dings recht krude aus­fällt. Zu­nächst sind es Män­ner als Män­ner, die Ve­ro­ni­ka Kra­cher ihr Da­sein als Frau ver­lei­den, wobei nicht ganz klar wird, ob die Män­ner bloß Nutz­nie­ßer von pa­tri­ar­cha­len Struk­tu­ren sind oder diese ver­kör­pern oder gar selbst ihre ei­gent­li­chen Opfer dar­stel­len, da ja auch das Mann-Sein eine per­ma­nen­te Zu­rich­tung der ei­ge­nen Per­son sei. Er­schwe­rend kommt in­mit­ten die­ses leid­vol­len Wirr­warrs hinzu, dass das Spre­chen aus der „ver­dammt pri­vi­le­gier­ten Po­si­ti­on einer wei­ßen, bür­ger­li­chen Frau“ eine zu­sätz­li­che Be­las­tung des in­ter­sek­tio­nal de­for­mier­ten Ge­wis­sens be­wirkt: Soll man die nicht-pri­vi­le­gier­ten Frau­en beim Kampf um die­sel­ben Pri­vi­le­gi­en un­ter­stüt­zen und sich damit neue Kon­kur­ren­tin­nen auf dem Ar­beits­markt ein­han­deln, oder doch lie­ber in wei­ßer Be­sitz­stands­wah­rung und Op­fer­neid auf eine Pri­vi­le­gi­en­kri­tik ma­chen, die so tut, als sei man in Wirk­lich­keit die Leid­tra­gen­de eines viel sub­ti­le­ren Pa­tri­ar­chats?

Ve­ro­ni­ka Kra­cher hat also, so­weit sie sich von Rea­li­tät und Em­pi­rie noch an­spre­chen lässt, einen Wi­der­spruch zu ver­ar­bei­ten: Ir­gend­wie ahnt sie, dass die Durch­set­zung der Pri­vi­le­gi­en einer wei­ßen bür­ger­li­chen Frau, von denen sie pro­fi­tiert, un­mög­lich ge­we­sen wäre, ohne die em­pi­ri­schen Män­ner und das vor­herr­schen­de Bild von Männ­lich­keit zu ver­än­dern. Das Kli­schee des har­ten Man­nes, der sich die Frau­en nimmt, so­bald er es braucht, ent­spricht der Rea­li­tät der Dienst­leis­tungs­men­schen in kei­ner Weise mehr. Mit Ma­cho-Sprü­chen, pro­vin­zi­el­lem Da­ne­ben­be­neh­men oder se­xu­el­ler Auf­dring­lich­keit steigt man be­ruf­lich nicht auf, son­dern macht sich zum Affen oder schießt sich ins Ab­seits. Von Bau­ar­bei­tern, die hüb­schen Är­schen hin­ter­her­pfei­fen, oder von schlei­mi­gen Stelz­bö­cken grenzt der durch­schnitts­deut­sche Mann von heute sich selbst­be­wusst ab. Rei­ßen be­ruf­lich ge­stress­te Bü­ro­men­schen, die wegen no­to­ri­scher Schaf­fens­kri­se kurz vorm Burn-out ste­hen, mal eine Zote, hat das etwas Be­mit­lei­dens­wer­tes, wäh­rend das Aus­maß des Er­folgs von Gen­der­main­strea­m­ing sich daran er­mes­sen lässt, dass Texte von Ve­ro­ni­ka Kra­cher über­haupt ir­gend­wo ge­druckt wer­den. Wenn daher er­wach­se­ne, selbst­be­wuss­te und eman­zi­pier­te Frau­en heute ein grund­sätz­li­ches Pro­blem mit Män­nern haben, dann be­steht die­ses eher darin, dass viele Män­ner die An­for­de­run­gen an ihre Mensch­wer­dung als Ver­ab­schie­dung von Vi­ri­li­tät miss­ver­ste­hen:

Wir müs­sen uns auch von die­sem My­thos des mäch­ti­gen Man­nes ver­ab­schie­den. Kein Mann ist so mäch­tig, dass er über Leben und Tod einer Kar­rie­re oder Exis­tenz ent­schei­den kann. Es gibt – Gott sei Dank – Ge­set­ze, straf­recht­li­che Ver­fol­gung bei Be­läs­ti­gung. Keine Frau muss bei uns ir­gend­ei­ne Form von Grap­sche­rei oder se­xu­el­ler Be­läs­ti­gung er­tra­gen. Und wer das den­noch be­haup­tet, lügt. Wir leben in Eu­ro­pa. Im Ge­gen­satz zu af­gha­ni­schen oder afri­ka­ni­schen Frau­en, die na­tür­lich ge­schützt wer­den müs­sen, haben wir alle Frei­hei­ten und Mög­lich­kei­ten, uns zur Wehr zu set­zen und Män­ner in die Schran­ken zu wei­sen. […] Das Gros der Män­ner weiß gar nicht mehr, wie es sich Frau­en ge­gen­über ver­hal­ten soll. Das männ­li­che Ge­schlecht ist ge­schwächt. Es gibt keine Kerle mehr.“ (Nina Proll, pro­fil.​at, 9.11.2017)

Jeder weiß, dass ge­ra­de „der ver­un­si­cher­te Mann“ gern als selbst­mit­lei­di­ger Wasch­lap­pen auf­trumpft. Rechts wähnt er sich – in Män­ner- und Vä­ter­be­we­gun­gen – als Opfer eines „Fe­mi­nats“. Links un­ter­wirft er sich den Ideo­lo­gi­en fe­mi­nis­ti­scher Platz­kü­he in der Hoff­nung, durch selbst­ent­wür­di­gen­des Schlei­men doch noch zum Zuge zu kom­men, was dann so er­bärm­lich klingt wie hier:

Dies ist die drit­te Ver­si­on eines Tex­tes über Se­xis­mus, den ich, als wei­ßer Mann im Alter von 33 Jah­ren, zu schrei­ben ver­su­che. Ich habe drei Mal neu an­ge­setzt, weil mich jedes Mal der Zwei­fel über­kam, ob ich mir das Recht her­aus­neh­men darf, mich in die De­bat­te ein­zu­mi­schen. Erst dach­te ich ‚ja‘, dann wie­der ‚nein‘, und jetzt denke ich: ‚viel­leicht‘. Die­ser Text ist das Pro­to­koll eines Selbst­zwei­fels, eines in­tel­lek­tu­el­len Zau­derns, das am Ende doch eine Art Po­si­ti­on sein könn­te. (9)

Genau so tönt die heute he­ge­mo­nia­le Rhe­to­rik kri­ti­scher Selbst­re­fle­xi­on: her­um­stot­tern, ab­wie­geln, dif­fe­ren­zie­ren und zau­dern, bis jeder un­re­gle­men­tier­te geis­ti­ge Im­puls von der Angst vor der ei­ge­nen Cou­ra­ge er­stickt wor­den ist, sich ge­ra­de dabei aber so rich­tig wohl und oben­auf füh­len kön­nen. Män­ner, in denen es so denkt und redet, haben es red­lich ver­dient, dass man sie mit Hohn und Spott über­zieht. Auch dass sie – ins­be­son­de­re in Ge­stalt alter, wei­ßer, un­at­trak­ti­ver Män­ner – heute die ein­zi­ge ge­sell­schaft­li­che Grup­pe bil­den, der ge­gen­über jede Ge­häs­sig­keit und Men­schen­ver­ach­tung er­laubt ist, macht sie nicht zu be­jam­merns­wer­ten Op­fern. Aber wie kommt man von die­ser Rea­li­tät, die auch Kra­cher in ihrem „selbst­kri­ti­schen“ Bezug auf Pri­vi­le­gi­en nicht voll­stän­dig aus­blen­det, dazu, an der To­ta­li­tät eines Pa­tri­ar­chats zu ver­zwei­feln oder in der Jung­le World (2018/04) – in einem ex­pli­zit gegen die In­ter­ven­ti­on De­neu­ves u.a. ge­rich­te­ten Bei­trag – gar die „om­ni­prä­sen­te Be­dro­hung von Frau­en durch Män­ner“ zu kon­sta­tie­ren?

Weil sie vor dem­sel­ben Pro­blem steht wie der An­ti­se­mit, näm­lich vor ra­tio­na­len Selbst­wi­der­sprü­chen, setzt Kra­cher auf die Ver­söh­nung des sich lo­gisch Aus­schlie­ßen­den in einem pho­bi­schen Bild, be­dient sie sich in­stinkt­si­cher aus dem un­be­wuss­ten Bil­der­schatz der pa­thi­schen Pro­jek­ti­on und kommt auf den „Schwarm sum­men­der, pie­sa­cken­der, ste­chen­der Mü­cken“, oder kurz: aufs blut­sau­gen­de Un­ge­zie­fer. Der Jude er­scheint dem An­ti­se­mi­ten als nutz­nie­ßen­der Her­ren­mensch und läs­ti­ger Un­ter­mensch zu­gleich. Der klei­ne­re Or­ga­nis­mus (Jude) stellt für den grö­ße­ren (Volks­kör­per) ge­ra­de im Mi­kro­bi­schen die Ge­fahr einer Zer­set­zung von innen und des In­ne­ren dar. So heiß und lei­den­schaft­lich der An­ti­se­mit das In­sekt (Bak­te­ri­en und Viren) fürch­tet, so kalt und nüch­tern macht er sich einem Kam­mer­jä­ger gleich an die Ver­nich­tung. Für Kra­cher sind nun Män­ner bis in den ei­ge­nen Be­kann­ten­kreis in­klu­si­ve Le­bens­part­ner hin­ein eben­so ei­ner­seits bloß läs­ti­ges, lä­cher­li­ches, un­nüt­zes Ge­schmeiß, das ge­fass­te Ver­ach­tung ver­dient, an­de­rer­seits aber so mäch­tig, dass sie Ve­ro­ni­ka über eine Kas­ka­de von Mü­cken­sti­chen immer wie­der jede Le­bens­tüch­tig­keit als Frau aus­zu­sau­gen ver­mö­gen.

Ist der Zu­gang zur Welt ein pho­bi­scher und hat er seine Be­stä­ti­gung im pas­sen­den Bild erst ge­fun­den, dann sind Reste von Ra­tio­na­li­tät und Rea­li­täts­be­zug keine po­ten­ti­el­len Aus­we­ge mehr, son­dern Ver­stär­ker. So wird das Ein­ge­hen des Part­ners auf die Psy­che der Au­to­rin in einem Text als Aus­druck se­xis­ti­scher Män­ner­herr­schaft bloß­ge­stellt, der in sei­ner gan­zen lo­gi­schen Struk­tur und Dik­ti­on auf ma­ni­fes­te De­fek­te schlie­ßen lässt. Die „Frau­en­krank­heit“ Hys­te­rie mag in Ver­lauf, Dia­gno­se und Be­hand­lung di­rek­te Folge pa­tri­ar­cha­ler Herr­schaft ge­we­sen sein. Dass Ve­ro­ni­ka Kra­chers of­fen­kun­di­ge Ver­stö­rung eben­so als wi­der­stän­di­ges Sym­ptom in einer gna­den­los frau­en­un­ter­drü­cken­den Män­ner­welt zu fas­sen wäre, wird durch Frau­en wie Nina Proll und Ca­the­ri­ne De­neuve dop­pelt de­men­tiert, näm­lich nicht erst durch deren State­ments zu #MeToo, son­dern schon durch ihre Bio­gra­phi­en, die wie die­je­ni­gen zahl­lo­ser an­de­rer Frau­en be­le­gen, dass einer weib­li­chen So­zia­li­sa­ti­on zu se­xu­ell selbst­be­stimm­ten Bür­ge­rin­nen heut­zu­ta­ge keine Macht von Mü­cken­män­nern ent­ge­gen­steht. Der­art der Po­li­ti­sie­rung per­sön­li­chen Un­glücks und der Lüge über­führt, kön­nen die #Me­Too-Kam­mer­jä­ge­rin­nen und ihre Küm­mer­t­an­ten Frau­en wie De­neuve, Mil­let und Proll nur als Ver­rä­te­rin­nen und Mit­tä­te­rin­nen wahr­neh­men und mit Res­sen­ti­ments über­zie­hen.

Halluzinierte Spießrutenläufe

In einem zu­erst in Libéra­ti­on ver­öf­fent­lich­ten Ar­ti­kel wand­te sich Leïla Sli­ma­ni, eine fran­zö­sisch-ma­rok­ka­ni­sche Schrift­stel­le­rin, gegen das Recht, an­de­re zu be­hel­li­gen, das die fran­zö­si­schen #Me­Too-Kri­ti­ke­rin­nen ver­tei­digt hat­ten. (10) Die­ser Text hat bis in ideo­lo­gie­kri­ti­sche Krei­se hin­ein Zu­spruch er­fah­ren, weil er als dif­fe­ren­zier­te, gol­de­ne Mitte zwi­schen #Me­Too-Hys­te­ri­ke­rin­nen vom Schla­ge Kra­chers und Ver­harm­lo­se­rin­nen von Pa­tri­ar­chat und All­tags­se­xis­mus auf­ge­fasst wurde, wäh­rend er in Wahr­heit bloß die üb­li­che Mi­schung aus Rea­li­täts­ver­keh­rung, pro­jek­ti­ver Pa­tho­lo­gie und Lust am Dif­fa­mie­ren aus­stellt.

Leïla Sli­ma­ni be­ginnt ihre Aus­füh­run­gen damit, für sich selbst und als Frau Rech­te und Frei­hei­ten be­zo­gen aufs Leben in der Öf­fent­lich­keit ein­zu­for­dern, die in der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft längst von nie­man­dem mehr sub­stan­ti­ell in Frage ge­stellt wer­den – wie etwa die freie Part­ner­wahl, das Recht, sei­nen Auf­ent­halts­ort auch in der Nacht sel­ber zu be­stim­men, und dabei so auf­rei­zend her­um­zu­lau­fen, wie es einem passt. Frei­hei­ten also, die vor allem für die is­la­mi­schen Ge­sell­schaf­ten des Ori­ents und is­la­misch so­zia­li­sier­te Män­ner­hor­den im Wes­ten ein rotes Tuch sind. Das führt aber ge­ra­de nicht zur For­de­rung an die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft, mehr zum Schutz der Frau­en in der Öf­fent­lich­keit vor is­la­mi­schen Jung­män­nern zu un­ter­neh­men, das heißt der Ideo­lo­gie des Islam mi­gra­ti­ons- und in­te­gra­ti­ons­po­li­tisch den Kampf an­zu­sa­gen, statt das Se­xu­al­straf­recht kon­form mit der is­la­mi­schen Se­xu­al­mo­ral zu ver­schär­fen. Im Ge­gen­teil wird der Islam gar nicht er­wähnt und so getan, als wären es die al­lein von ihm zu ver­ant­wor­ten­den Zu­stän­de, wel­che De­neuve und Co. be­ab­sich­tig­ten zu recht­fer­ti­gen. So heißt es am per­fi­den Ende des Ar­ti­kels:

Ich bin kein Opfer. Doch Mil­lio­nen von Frau­en sind es. Das ist eine Tat­sa­che und kein mo­ra­li­sches Ur­teil oder eine Pau­scha­li­sie­rung. Und ich spüre in mir selbst die Angst all der Frau­en, die mit ge­senk­tem Kopf durch die Stra­ßen Tau­sen­der Städ­te die­ser Welt gehen. Die man ver­folgt, be­drängt, ver­ge­wal­tigt, be­lei­digt und im öf­fent­li­chen Raum wie Ein­dring­lin­ge be­han­delt. In mir hallt der Schrei all jener Frau­en wider, die sich ver­krie­chen, die sich schä­men, die man ver­stößt und aus dem Haus jagt, weil sie ent­ehrt [!] wur­den. Die man unter lan­gen schwar­zen Schlei­ern ver­steckt, weil ihre Kör­per an­geb­lich dazu auf­for­dern, sie zu be­läs­ti­gen. Sor­gen sich die Frau­en in den Stra­ßen von Kairo, Neu-De­lhi, Lima, Mos­sul, Kin­sha­sa oder Ca­sa­blan­ca etwa um das Aus­ster­ben der Ver­füh­rung, der Ga­lan­te­rie? Haben sie selbst denn das Recht, zu ver­füh­ren, zu wäh­len, auf­dring­lich zu sein?

Der ein­zi­ge Zu­sam­men­hang zwi­schen dem hier Kri­ti­sier­ten und einem west­li­chen All­tags­se­xis­mus be­steht darin, dass die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft Mi­gran­tin­nen und au­to­chtho­ne Frau­en dem Islam und sei­nen Exe­ku­to­ren ge­gen­über, deren Ehr­be­griff Sli­ma­ni aus­drück­lich über­nimmt, sys­te­ma­tisch im Stich lässt. Indem die kon­kre­ten Täter aber nicht beim Namen ge­nannt, son­dern mit­hil­fe eines all­ge­mein-abs­trak­ten Män­ner­po­pan­zes zum Ver­schwin­den ge­bracht wer­den, wird Tä­ter­schutz be­trie­ben. Dabei reicht es der Au­to­rin in ihrem an­ti­west­li­chen Res­sen­ti­ment nicht aus, zu kon­sta­tie­ren, dass Frau­en auch im Wes­ten mal hier, mal dort, dann und wann in ihrem Leben mit männ­li­cher Un­ver­schämt­heit und Auf­dring­lich­keit kon­fron­tiert wer­den, gegen die es prä­ven­tiv-er­zie­he­ri­sche und im kon­kre­ten Fall zu­recht­wei­sen­de Maß­nah­men zu er­grei­fen gilt. Es muss aus Grün­den der Dra­ma­tur­gie ein rund um die Uhr statt­fin­den­der Spieß­ru­ten­lauf für alle Frau­en sein, in des­sen Be­schrei­bung sich ty­pi­sche Bil­der des auch im Wes­ten ge­gen­wär­ti­gen Islam mit er­fun­de­nen oder ana­chro­nis­tisch ge­wor­de­nen des Wes­tens mi­schen:

Den Typen, der um acht Uhr mor­gens auf mei­nen Man­tel eja­ku­liert. Den Chef, der mir zu ver­ste­hen gibt, was für meine Be­för­de­rung hilf­reich wäre. Den Pro­fes­sor, der sich für ein Prak­ti­kum einen run­ter­ho­len lässt. Den Kerl, der mich im Vor­bei­ge­hen fragt, ob ich fi­cken will und mich dann als Schlam­pe be­schimpft.

Allgegenwärtige Bedrohung

Auch hier dient das Bei­spiel des lüs­ter­nen Pro­fes­sors, diese unter lin­ken Stu­den­ten ver­brei­te­te La­ger­feu­er­sto­ry, wo­nach es sehr gute Leis­tungs­be­wer­tun­gen nur nach freu­dig ab­sol­vier­tem Hand- oder Blo­wjob gibt, nur dazu, der Ab­scheu vor se­xu­el­len Be­zie­hun­gen zwi­schen äl­te­ren Män­nern und jun­gen Frau­en frei­en Lauf zu las­sen. In Wirk­lich­keit lässt der zeit­ge­nös­si­sche Pro­fes­sor bei Zwie­ge­sprä­chen mit Stu­den­tin­nen aus Selbst­schutz­grün­den immer häu­fi­ger die Tür sei­nes Büros offen. Und Stu­den­tin­nen, die aus links­fe­mi­nis­ti­schen Grün­den gar kein ge­stei­ger­tes In­ter­es­se am Er­werb der Fä­hig­keit hegen, Män­ner, sei es se­xu­ell oder gar in­tel­lek­tu­ell, zu be­frie­di­gen, wis­sen auch nichts mehr von der Macht, die sol­che Fä­hig­keit über Män­ner ver­lei­hen kann, wes­halb das ver­gan­ge­ne Bild eines wech­sel­sei­ti­gen Machtge­brauchs nur als ein­sei­tig männ­li­cher Machtmiss­brauch re­zi­piert und gleich mit­dif­fa­miert bzw. aus­ge­schlos­sen wird, dass es für Schü­le­rin­nen und Stu­den­tin­nen durch­aus gute Grün­de geben kann, sich in Leh­rer und Pro­fes­so­ren jen­seits der Kar­rie­re­pla­nung auch mal zu ver­lie­ben.

Das Ge­ze­ter über einen All­tags­se­xis­mus, der Frau­en eine be­stän­di­ge Flucht vor Mü­cken­sti­chen und Eja­ku­la­ten auf­zwingt, gip­felt in der Ein­for­de­rung von Frei­heits­rech­ten, deren ubi­qui­tä­re Ver­let­zung in den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten zuvor erst hal­lu­zi­niert wer­den muss:

Ich for­de­re die Frei­heit, dass man weder meine Hal­tung noch meine Klei­dung, mei­nen Gang, die Form mei­nes Hin­terns oder die Größe mei­ner Brüs­te kom­men­tiert. Ich be­an­spru­che mein Recht, in Ruhe ge­las­sen zu wer­den, al­lein sein zu dür­fen, mich ohne Angst fort­be­we­gen zu kön­nen. Ich will nicht nur eine in­ne­re Frei­heit. Ich will die Frei­heit, drau­ßen zu leben, in der Öf­fent­lich­keit, in einer Welt, die auch ein biss­chen mir ge­hört.

Man möch­te Leu­ten, die in der Öf­fent­lich­keit un­kom­men­tiert blei­ben wol­len, weil sie jeden Kom­men­tar als An­griff auf ihre als Selbst­be­stim­mung miss­ver­stan­de­ne Bor­niert­heit deu­ten, na­he­le­gen, ein­fach zu Hause zu blei­ben und eine wei­te­re Net­flix-Se­rie an­zu­schmei­ßen. Dann aber täte man so, als wären die Frau­en und Män­ner einer neuen Ge­ne­ra­ti­on nicht längst dabei, das, was die bür­ger­li­che Öf­fent­lich­keit aus­macht, näm­lich die Fä­hig­keit, an der le­ben­di­gen Ge­sell­schaft Frem­der Ge­fal­len zu fin­den, aufs Bäu­er­lichs­te nie­der­zu­tram­peln. Auch Kra­cher fällt als em­pi­ri­scher Beleg für die „om­ni­prä­sen­te Be­dro­hung von Frau­en durch Män­ner“ nur ein ana­chro­nis­ti­sches Bei­spiel ein:

Eine all­täg­li­che Si­tua­ti­on in einer Stra­ßen­bahn: Eine Frau liest, ein jun­ger Mann ver­sucht, sie in ein Ge­spräch über das Buch zu ver­wi­ckeln. Er fragt ir­gend­wann nach der Te­le­fon­num­mer, sie schlägt höf­lich aus. Der junge Mann ak­zep­tiert das, ohne Auf­he­bens davon zu ma­chen. Sie plau­dern noch ein wenig, bis er aus­steigt und sich freund­lich ver­ab­schie­det. Wo ist die Poin­te? Dass eine sol­che Be­geg­nung die Aus­nah­me dar­stellt. Denn in der Regel wird bei der Frage nach der Te­le­fon­num­mer ein ‚Nein‘ als Ant­wort nicht ak­zep­tiert. Das ver­ken­nen Ca­the­ri­ne Mil­let und ihre Ko­au­to­rin­nen, wenn sie Frau­en raten, doch ein­fach ‚Nein‘ zu sagen. Ge­kränk­ter männ­li­cher Nar­ziss­mus kann eine de­struk­ti­ve Kraft sein, die Ge­walt gegen Frau­en, die sich ihm ver­wei­gern, ist der trau­ri­ge Be­weis. (Jung­le World, s.o.)

Dass sich eine Frau und ein Mann über­haupt in einer Stra­ßen­bahn über ein Buch un­ter­hal­ten, ist im Deutsch­land des 21. Jahr­hun­derts etwa so „all­täg­lich“ wie die Be­geg­nung mit Mars­men­schen, wes­halb Leute, für die Bü­cher Fremd­kör­per sind, bei einem sol­chen Ge­spräch dann auch so­fort den Ver­dacht hegen, da wolle der böse Kerl die arg­lo­se Frau wohl in ir­gend­was „ver­wi­ckeln“. Eine sol­che Si­tua­ti­on als all­täg­lich zu be­haup­ten, setzt un­ab­hän­gig von Ver­lauf und Aus­gang des Ge­sprächs Zei­ten vor­aus, die passé sind, da in Stra­ßen­bah­nen und an­de­ren Orten der Öf­fent­lich­keit in­zwi­schen nur noch nar­ziss­ti­sche Kör­per­pan­zer ein­an­der den Platz be­strei­ten und sich vom Mit­men­schen als Mit­men­schen be­läs­tigt wäh­nen.

Heilige Kühe

„Mein Kör­per ge­hört mir“ – diese Pa­ro­le mag in be­schränk­ten po­li­ti­schen Kon­tex­ten einen Sinn ge­habt haben, im Kampf ums Recht auf Ab­trei­bung oder für die freie Part­ner­wahl etwa, war ver­ab­so­lu­tiert aber schon immer falsch und wird durch die Ver­all­ge­mei­ne­rung für alle Ge­schlech­ter nicht rich­ti­ger. Als ver­ge­sell­schaf­te­te Natur (Leib) ge­hört der in­di­vi­du­el­le Kör­per von vorn­her­ein nicht sei­nem Be­sit­zer. Der Kör­per muss essen und aufs Klo, wird krank und stirbt, ohne dass der Ein­zel­ne diese Pro­zes­se sei­nem Wil­len un­ter­wer­fen könn­te. Der Kör­per muss in Tei­lung mit an­de­ren meist ohne Lust­ge­winn ar­bei­ten, weil nur so Ge­sell­schaft funk­tio­niert und nur durch Ver­ge­sell­schaf­tung von Tie­ren un­ter­schie­de­ne Men­schen als Men­schen exis­tie­ren, der Kör­per also nur dem In­di­vi­du­um als In­di­vi­du­um ge­hö­ren kann, wenn er auch der Ge­sell­schaft, den Mit­men­schen, ge­hört. In herr­schaft­li­chen Ge­sell­schaf­ten pro­zes­siert die­ses Ver­hält­nis als un­ver­söhn­tes. Im Un­ter­schied zur Skla­ve­rei zwingt das Ka­pi­tal den Ein­zel­nen aber dazu, den ei­ge­nen Kör­per als von sich selbst ab­spalt­ba­re Ware zu ver­mie­ten, ein­zu­tau­schen, zu ver­kau­fen, also ge­wis­ser­ma­ßen zu Pro­sti­tu­ti­on ohne Sex.

Dabei war der Kör­per wäh­rend der In­dus­tria­li­sie­rung noch als Kör­per ge­fragt, die An­wen­dung des Ar­beits­kraft­ver­mö­gens eine emi­nent kör­per­li­che. Davon kann nicht mehr die Rede sein, seit Dienst­leis­tun­gen ge­gen­über un­mit­tel­ba­rer Wa­ren­pro­duk­ti­on do­mi­nie­ren und beide Sek­to­ren unter dem Zei­chen von zu­nächst post­for­dis­ti­scher Au­to­ma­ti­sie­rung und dann Di­gi­ta­li­sie­rung ste­hen, womit eine zu­neh­mend ent­kör­per­lich­te Ar­beits­welt ge­schaf­fen wird. Die an sich er­freu­li­che Ver­wand­lung har­ter Ma­lo­cher in Bü­ro-Är­sche, die Mas­ku­lis­ten als Aus­druck von Ver­weich­li­chung ab­leh­nen, be­deu­tet eine Ent­wer­tung des Kör­pers, die – über die Eman­zi­pa­ti­ons­pro­zes­se von Frau­en ver­mit­telt – ge­schlecht­li­che Ei­gen­schaf­ten ten­den­zi­ell ni­vel­liert. Die abs­trak­te Gleich­heit der zum Ver­kauf ihrer Ar­beits­kraft ge­zwun­ge­nen Sub­jek­te, von deren in­di­vi­du­el­len Be­son­der­hei­ten im Äqui­va­len­ten­tausch ab­stra­hiert wird, schlägt sich nie­der in den herr­schen­den Sub­jekt­i­dea­len. Vom „kom­pe­ten­ten Säug­ling“ über den „Ar­beits­kraft­un­ter­neh­mer“ bis zum „ak­ti­ven Rent­ner“: Ent­schei­dend sind Ei­gen­schaf­ten, die zur per­ma­nen­ten Fle­xi­bi­li­tät und Mo­bi­li­tät be­fä­hi­gen, das Ge­schlecht zählt nicht dazu. Viel­mehr wird den un­ters Ka­pi­tal Sub­su­mier­ten jede Sinn­lich­keit als po­ten­ti­el­ler Stör­fak­tor aus­ge­trie­ben.

Die kon­for­mis­ti­sche Re­vol­te der in immer schär­fe­rem Kon­kur­renz­kampf ge­gen­ein­an­der ge­dräng­ten Ar­beits­kraft­be­häl­ter, nicht für ein Sur­p­lus, son­dern nur noch darum, das Le­bens­mi­ni­mum ohne staat­li­che Ali­men­tie­rung zu be­strei­ten, scheint nun ge­schlech­ter­über­grei­fend darin zu be­ste­hen, sich als die hei­li­gen Kühe In­di­ens auf­zu­spie­len. Den dese­xua­li­sie­ren­den Im­pe­ra­tiv am ei­ge­nen Kör­per voll­stre­ckend, wird des­sen Be­deu­tungs­ver­lust in sei­ner Ver­hei­li­gung und Rebar­ba­ri­sie­rung kom­pen­siert. Es sind die­sel­ben ar­chai­schen Traum­bil­der, ob der ei­ge­ne Kör­per „künst­lich“, also via Fit­ness­stu­dio, Jog­ging und Tä­to­wie­run­gen, sei­ner tri­ba­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit an­ge­äh­nelt wird, oder ob man sich bis zur To­tal­ver­wahr­lo­sung gehen lässt, sich ergo „der Natur“ über­ant­wor­tet. In bei­den Fäl­len ver­langt der Kör­per­be­sit­zer Re­spekt und be­haup­tet in Zei­ten wach­sen­der Ent­frem­dung und vor­aus­ei­len­der Selbst­er­nied­ri­gung eine Un­be­rühr­bar­keit, an der nur wahr ist, dass sich der Kör­per­pan­zer von nichts und nie­man­dem mehr be­rüh­ren las­sen will. Ja, wer nur wagt, ihn an­zu­se­hen, be­treibt Got­tes­läs­te­rung gegen die grö­ßen­wahn­sin­ni­ge Mo­na­de. Weil diese aber in Wirk­lich­keit gar nicht gläu­big, son­dern hy­brid-athe­is­tisch ist, er­hebt sie den Kör­per als Pro­dukt und Zeug­nis voll­stän­di­ger Selbst­zu­rich­tung zum Fe­tisch der zwei­ten Natur, statt in ihm, wie der Ka­tho­li­zis­mus, der den Leib ge­ra­de als immer schon sün­di­gen hei­lig­s­pricht, groß­zü­gig ver­zei­hend die erste Natur zu er­in­nern. Das „Was guckst du!“ des is­la­mi­schen Jung­man­nes und der fe­mi­nis­tisch da­her­kom­men­de Wunsch, die Be­trach­tun­gen und Be­wer­tun­gen von weib­li­chen Kör­pern zu ver­ban­nen, glei­chen sich in solch sä­ku­la­rer Selbst­ver­hei­li­gung und kom­men aus einem Un­be­ha­gen an der Dia­lek­tik der Zi­vi­li­sa­ti­on, das sich als un­be­grif­fe­nes gegen die An­for­de­rung von Ver­ge­sell­schaf­tung über­haupt kehrt.

Darum stellt die neue Ge­ne­ra­ti­on von in per­ma­nen­ter Re­vol­te Le­ben­den eine dys­to­pi­sche Zu­kunft vor, in der das sanf­te Be­rüh­ren von und Wi­schen über ir­gend­wel­che Touch­screens nur noch eine schwa­che Er­in­ne­rung daran sein wird, dass es ein­mal Zärt­lich­keit als di­rek­ten kör­per­li­chen Kon­takt zwi­schen den Ge­schlech­tern ge­ge­ben hat. Darum ist der Vor­wurf des An­star­rens em­ble­ma­tisch für Ver­tre­ter einer Ge­ne­ra­ti­on, für die das stun­den­lan­ge Star­ren auf Dis­plays die be­vor­zug­te bis ein­zi­ge Form des Se­hens ist, wäh­rend jeder zwi­schen­mensch­li­che Blick­kon­takt als Be­lei­di­gung auf­ge­fasst wird, so­fern er jene Mil­li­se­kun­den über­schrei­tet, die er­for­der­lich sind, um die di­gi­ta­len Por­traits mög­li­cher Se­xu­al­part­ner auf Tin­der oder neuer Fri­ends auf Face­book hin­sicht­lich ihrer Brauch­bar­keit fürs ei­ge­ne Net­wor­king aus­zu­wer­ten. Darum wer­den Rech­te und Frei­hei­ten ein­ge­klagt in einer Öf­fent­lich­keit, die ge­ra­de von den ver­pan­zer­ten Kör­per­ma­schi­nen all­täg­lich zer­stört wird. Was ein­mal Ort des Se­hens und Ge­se­hen­wer­dens war, haben diese ihrem gren­zen­lo­sen Nar­ziss­mus gemäß in ihren so pri­va­ten wie kol­lek­ti­ven Tram­pel­pfad ver­wan­delt, der gerne ein roter Tep­pich samt al­ler­dings bloß stil­ler Be­wun­de­rer sein darf. Auf den Weg ins Café ma­chen sie sich mit Stöp­seln im oder über­di­men­sio­na­len Kopf­hö­rern am Ohr und Smart­pho­ne in der Hand, von dem sie den Blick nur aus­nahms­wei­se ab­wen­den, um Leute an­zu­pö­beln, die es wagen, sich von ihnen an­rem­peln zu las­sen. Da­nach stamp­fen sie in die U-Bahn oder Stra­ßen­bahn, nicht um Bü­cher zu lesen oder sich über diese mit Un­be­kann­ten zu un­ter­hal­ten, son­dern um an­alpha­be­ti­sche Er­leb­nis­be­rich­te auf Face­book zu pos­ten oder Mit­fah­rer mit ihren für je­der­mann hör­ba­ren Te­le­fo­na­ten zu be­läs­ti­gen. Dabei glau­ben sie sich an­ge­starrt, nicht von ih­res­glei­chen, son­dern von Men­schen alten Schla­ges, die in den meis­ten Fäl­len ent­we­der, wie bei Ver­kehrs­un­fäl­len, fas­zi­niert hin­se­hen müs­sen, ohne es ei­gent­lich zu wol­len, oder mit ech­ter An­teil­nah­me hin­ter der stumpf­sin­ni­gen Be­trieb­sam­keit ver­ge­bens nach einem Rest von Leben su­chen. An­ge­kom­men im Café, holen sie ihre Note­books raus, um ihr Ho­me­of­fice fort­zu­set­zen und mit gleich­ge­sinn­ten Fre­e­lan­cern aus einem ge­sel­li­gen Ort ein Groß­raum­bü­ro zu ma­chen. Nicht nur ver­mi­schen sie Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit, sie ok­ku­pie­ren gleich einer Be­sat­zungs­macht die Öf­fent­lich­keit und Frei­zeit an­de­rer mit ihrer pri­va­ten Ar­beit und hal­lu­zi­nie­ren jeden Wi­der­stand gegen ihren dese­xua­li­sie­ren­den Über­griff als zwi­schen­mensch­li­che, wo­mög­lich se­xu­el­le Be­läs­ti­gung.

Warum also soll­te eine Ge­ne­ra­ti­on, die über­haupt nicht weiß, was die Alten mei­nen, wenn sie vom Flir­ten spre­chen, weil sie diese Pra­xis weder kennt noch ver­misst, emp­fäng­lich sein für die War­nung, diese nicht mit se­xu­el­len Über­grif­fen gleich­zu­set­zen? Und stellt die be­schleu­nig­te ka­pi­ta­lis­ti­sche Ent­wick­lung nicht oh­ne­hin jeden Tag er­neut bloß unter Be­weis, dass es von die­sen Alten rein gar nichts mehr zu ler­nen gibt, was für die Be­wäl­ti­gung des All­tags wie der Ar­beit re­le­vant sein könn­te? Darum gilt der Hass nicht nur den alten, wei­ßen Män­nern, son­dern eben­so sol­chen Frau­en, die zu kon­ser­va­tiv sind, und das heißt: ein zu gutes Ge­dächt­nis haben, um mit der Ver­gan­gen­heit Ta­bu­la rasa zu ma­chen. Eine Ideo­lo­gie­kri­tik, die an der Ver­söh­nung von In­di­vi­du­um und Ge­sell­schaft, Mann und Frau, Mensch­heit und Natur fest­hält, ver­rie­te also sich selbst, wenn sie dem vor Men­schen- und Selbst­ver­ach­tung strot­zen­den #Me­Too-Wahn nur eine ein­zi­ge Kon­zes­si­on mach­te.

David Schnei­der und Tho­mas Maul (Ba­ha­mas 78/2018)

Anmerkungen:
  1. In vor­staat­li­chen Ge­sell­schaf­ten ohne zen­tra­le Po­li­zei­ge­walt ver­häng­te man als Stra­fe über den De­lin­quen­ten die Äch­tung, was be­deu­te­te, ihn „vo­gel­frei“ der will­kür­li­chen Straf­be­hand­lung aller Bür­ger aus­zu­set­zen. Er­eig­nis­se, die die­ser Logik fol­gen, wer­den heut­zu­ta­ge bei­läu­fig er­wähnt: „Chil­ton, die sich im Jahr 2004 nach 17 Ehe­jah­ren von Wein­stein ge­trennt hatte, hatte ihre An­wäl­te ein­ge­schal­tet, da sie um künf­ti­ge Über­wei­sun­gen für die drei ge­mein­sa­men Töch­ter fürch­te­te. Da Wein­stein in den ver­gan­ge­nen Jah­ren aber immer pünkt­lich für Remy, Emma und Ruth zahl­te, sah das Ge­richt kei­nen Grund für Chil­tons Mil­lio­nen­for­de­rung. Wein­stein, der in Ari­zo­na seine an­geb­li­che Sex-Sucht be­han­deln lässt, muss­te aber auch ein­ste­cken: Bei einem Re­stau­rant­be­such in Scotts­da­le wurde er am Diens­tag von einem be­trun­ke­nen Gast be­schimpft und ins Ge­sicht ge­schla­gen. Auf eine Straf­an­zei­ge soll er ver­zich­tet haben.“ (faz.​net, 11.1.2018)
  2. Eng aus­ge­legt, macht der Be­griff rape cul­tu­re durch­aus Sinn, um so­zia­le Mi­lieus oder ganze Ge­sell­schaf­ten zu cha­rak­te­ri­sie­ren, in denen Ver­ge­wal­ti­gun­gen und an­de­re For­men se­xu­el­ler Ge­walt ins­be­son­de­re gegen Frau­en ver­brei­tet sind und weit­ge­hend to­le­riert oder mit Ver­weis auf weib­li­ches Fehl­ver­hal­ten ent­schul­digt wer­den, wie es in ar­chai­schen „Scham­kul­tu­ren“ der Fall war und vom Islam auch im Wes­ten zu­neh­mend ag­gres­siv durch­ge­setzt wird. Gegen die post­pa­tri­ar­cha­le bür­ger­li­che Ge­sell­schaft und ihre Rechts­pra­xis ge­wen­det, wird der Be­griff zum gegen recht­li­che Ver­mitt­lung ge­rich­te­ten Pro­pa­gan­da­wort.
  3. So setz­te die Oba­ma-Re­gie­rung mit der It’s on Us-Kam­pa­gne neben einem ob­li­ga­to­ri­schen Trai­nings­pro­gramm an Uni­ver­si­tä­ten auch eine Än­de­rung in der Be­weis­füh­rung durch. Nach einer Ver­fü­gung des De­part­ment of Edu­ca­ti­on muss es in einem Cam­pus-Ver­fah­ren nur noch zu 50,1 Pro­zent wahr­schein­lich sein, dass ein se­xu­el­ler Über­griff statt­ge­fun­den hat, um je­man­den schul­dig zu spre­chen, was die Un­schulds­ver­mu­tung na­he­zu ab­schafft. (nzz.​ch, 9.2.2015)
  4. Kri­mi­na­li­siert das deut­sche Se­xu­al­straf­recht se­xu­el­le Hand­lun­gen Er­wach­se­ner erst, so­bald diese „gegen den er­kenn­ba­ren Wil­len“ (§ 177 StGB) von Per­so­nen her­ge­stellt wer­den, und setzt dies – so­fern si­tua­tiv mög­lich – eben die er­kenn­ba­re Ar­ti­ku­la­ti­on eines „Nein“ vor­aus, so lässt die jüngs­te schwe­di­sche Re­form die Straf­bar­keit be­reits bei Ab­we­sen­heit eines ar­ti­ku­lier­ten „Ja“ be­gin­nen, knüpft damit le­ga­li­sie­ren­des Ein­ver­neh­men ab dem 1. Juli 2018 an die sich vor der Hand­lung beim Part­ner ein­zu­ho­len­de Zu­stim­mung. (Vgl.: Augs­bur­ger All­ge­mei­ne, 20.12.2017)
  5. In Deutsch­land ist se­xu­el­le Be­läs­ti­gung – so ver­stan­den: „Wer eine an­de­re Per­son in se­xu­ell be­stimm­ter Weise kör­per­lich be­rührt und da­durch be­läs­tigt“ (§ 184i StGB) – erst seit kur­zem eine „Straf­tat gegen die se­xu­el­le Selbst­be­stim­mung“, also ein vom Se­xu­al­straf­recht er­fass­ter ei­ge­ner Tat­be­stand.
  6. https://​die​stoe​renf​ried​as.​de/​hoert-​auf-​ver​gewa​ltig​ung-​mit-​schlechtem-​sex-​gle​ichz​uset​zen/
  7. Ka­tha­ri­na Rutsch­ky: Er­reg­te Auf­klä­rung, Ham­burg 1992, 107.
  8. www.​deu​tsch​land​funk.​de/​all​taeg​lich​er-​sexismus-​dumme-​sprueche-​sind-​teil-​einer.​694.​de.​html?​dram:​article_​id=398804
  9. ebd.
  10. www.​spiegel.​de/​kultur/​literatur/​sexismus-​und-​metoo-​leila-​slimani-​antwortet-​catherine-​deneuve-​a-​1187600.​html

www.mesop.de