WADI DEUTSCHLAND VOR ORT : “VOR ALLEM DIE KINDER HABEN FURCHTBARE ANGST” – IS OPFER BERICHTEN – Photos by Falah Muradkin
Irgendwie überleben: So lautet die Devise der Flüchtlinge im Camp Dohuk
18.08.2014 Von BJÖRN STRITZEL – 15:00 Uhr – Fünf Tage und Nächte mussten sie durch die Gluthitze der irakischen Wüste laufen, auf der Flucht vor den herannahenden ISIS-Milizen. Väter, die ihre Kinder nicht mehr tragen konnten. Alte Menschen, die auf dem Weg verdursteten. Frauen, ohnmächtig vor Hunger und Erschöpfung. Und immer in Todesangst vor den islamistischen Massenmördern. Tagelang hatten sie sich am Berg Sindschar versteckt. Als die Luftschläge der US-Airforce vergangene Woche einen Fluchtkorridor eröffneten, ergriffen sie ihre letzte Chance.
Jetzt haben 5000 jesidische Familien ein improvisiertes Flüchtlingscamp nahe der nordirakischen Stadt Dohuk erreicht. Sie campieren direkt hinter dem großen Mossul- Staudamm, der noch immer heftig umkämpft ist. Erst in der Nacht zu Sonntag eroberten die kurdischen Peschmerga-Kämpfer den Damm durch die Hilfe der US-Airforce zurück.
Für internationale Organisationen ist die Lage dennoch noch zu heikel. Zu nah stehen die ISIS-Milizen. Mit ihren schnellen Vorstößen auf Pick-Ups haben sie
die Peschmerga-Soldaten schon mehrfach überrascht. So trotzen nur einige Ersthelfer aus den Kurdengebieten der Gefahr, bringen Reis und Wasser zu den Flüchtlingen.
Kinder liegen auf dem kargen Boden, Hände greifen gierig in die Reisschüsseln. Für viele ist es die erste Nahrung nach fünf Tagen Flucht.
Einer, der es hierher geschafft hat, ist Husni (32). Vor seiner Flucht arbeitete er als einfacher Arbeiter auf Baustellen.
„Als die Islamisten in der Nähe unseres Dorfes bei Sindschar gesichtet wurden, brach Panik aus. Einige unserer Nachbarn wurden von den ISIS-Terroristen ermordet.“
Er und fünf weitere Männer hätten zu den Waffen gegriffen, aber als die Übermacht der Terror-Milizen klar wurde, flohen sie mit ihren Familien auf den Berg Sindschar.
Dort ernährten sie sich von Blättern, bis sie den Abstieg vom Berg und die Flucht nach Dohuk wagten.
Husnis Mutter Goza: „Die Flucht war grausam. Wir hatten zehn Kinder dabei, vier Jungen und sechs Mädchen, die furchtbare Angst hatten.“ Auf dem Weg wurden sie von
den gefürchteten Islamisten angegriffen. „Sie schossen mit Raketen und Granaten auf unseren Flüchtlingstreck“, erzählt sie. „Dabei wurden viele Menschen verletzt und
getötet.“
Die 25-Jährige Kurzi ist mit Husni und Goza aus dem Gebirge geflohen. Vor allem für die Kranken und Kinder sei es schwer gewesen. „Am Anfang haben wir die Kinder
noch getragen, aber viele von uns waren zu erschöpft, die Kinder mussten irgendwann selbst laufen.“ Bakr (35) aus Sindschar, war bei der Arbeit, als ISIS-Terroristen in
das Dorf einrückten. Fünf seiner Schwestern wurden von den Islamisten entführt, sein Bruder ermordet.
Ein 37-jähriger Mann zeigt die Ausweise seiner beiden Töchter. Shaha (12) und Madena (9) seien von den Islamisten getötet worden, erzählt er. Ein Freund sagt, die beiden
wären entführt worden – aber für den Vater sei es einfacher, sie für tot zu erklären. Zu groß sei die Scham, sie jetzt in den Händen der Milizen zu wissen, sagt er.
IS-Opfer berichten von Flucht in die Berge: Vor allem die Kinder habe… http://www.bild.de/bild-plus/politik/ausland/isis/fluechtlinge-im-nordir…
Vor allem die Frauen gingen jetzt durch die Hölle, weiß Falah Muradkhin, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Wadi e.V. Falah setzt sich mit seiner Organisation für Frauenrechte im Nordirak ein und ist einer der ersten Helfer, die im Camp vor Ort sind: „Ich versuche den vergewaltigten Frauen zu erklären, dass sie nichts dafür können, dass sie Opfer geworden sind, aber es ist
schwer für sie zu verstehen“, sagt er. „Viele Frauen wollen nicht mehr weiterleben, weinen die ganze Zeit.“
Mit ein paar Mitarbeitern hat er Medikamente, Decken, Wasser und Reis zum Camp gebracht: „Die Lage hier ist katastrophal. Es gibt zwar Zelte vom UNHCR, aber kaum Helfer, da wir hier
zu nah an der Front sind.“
Und es mangelt nicht nur an der Verpflegung.
Falah: „Ich habe so viele entkräftete Menschen gesehen, die dringend medizinische Versorgung und richtige Nahrung benötigen. Es gibt im Flüchtlingslager auch keine Betten, die
Menschen schlafen teilweise direkt auf dem Boden.“
Eine Organisation des Lagers gibt es nicht, die Menschen sind auf sich selbst gestellt. Außer Falah und seinen Mitarbeitern ist nur noch die christlichen Hilfsorganisation CPT vor Ort.
Doch für Falah geht es morgen weiter. Denn es gibt noch zwei solcher großen Flüchtlingslager mit tausenden Familien weiter westwärts. Das Schicksal der Jesiden macht Falah fassungslos.
„Sie waren schon immer die ärmsten Menschen in unserer Region, einfache Bauern und Arbeiter, die nur in Frieden leben wollen. Die Brutalität der Islamisten und die
Vertreibung aus ihrer Heimat trifft sie besonders hart.“