Von Wolfgang Sofsky Michael Walzer: Mitgliedschaft und Nothilfe – Migrationsaufnahme
Von Wolfgang Sofsky
In Michael Walzers „Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality“ von 1983 finden sich bemerkenswerte Passagen über die Aufnahme von Fremden in etablierte Kollektive und Communities und über die Pflichten zur gegenseitigen Hilfe. Beides ist strikt voneinander zu trennen. Der linksliberale Kommunitarist Walzer steht nicht im Verdacht “rechtspopulistischer” Neigungen. Aber er wirft einige Fragen auf, die man jenseits der akuten Erregungen mit der nötigen Klarheit erörtern sollte. Hier einige Passagen:
„Da die Menschen äußerst mobile Wesen sind, versuchen sie in großer Zahl, ihren Wohnort und ihre Mitgliedschaft regulär zu wechseln, indem sie aus einer ungeliebten in eine von ihnen erstrebte Umgebung übersiedeln. Wohlhabende und freie Länder werden, genau wie Elite-Universitäten, von Bewerbern geradezu bestürmt. Welchen Umfang und Charakter sie, diese Länder, behalten oder annehmen, ist ihre eigene Entscheidung. Konkret heißt das, daß wir als Bürger eines solchen Landes folgende Fragen zu beantworten haben: Wem gewähren wir Aufnahme? Soll unser Land ohne irgendwelche Aufnahmebeschränkungen jedem offenstehen? Dürfen oder können wir unter den Bewerbern auswählen? Welches sind die richtigen Kriterien für die Vergabe der Mitgliedschaft?
Der von mir gewählte Plural der Personalpronomina bei der Formulierung der Fragen gibt die Antwort sozusagen bereits vor: wir, die wir bereits Mitglieder sind, nehmen die Auswahl vor, und zwar gemäß unserem Verständnis davon, was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen. Mitgliedschaft als soziales Gut wird begründet durch unser Verständnis von Zugehörigkeit, ihr Wert bemißt sich an unserer Arbeit und unserer Kommunikation; und so sind wir es (wer sonst sollte es sein?), denen die Verantwortung für ihre Vergabe und Verteilung zufällt. An und unter uns selbst verteilen wir sie nicht. Der Grund: wir besitzen sie bereits. Wir vergeben sie an Fremde. Das aber bedeutet, daß die Entscheidung für oder gegen Aufnahme auch von unseren Beziehungen zu jenen Fremden abhängt, und zwar nicht nur von unserem abstrakten Verständnis von diesen Beziehungen, sondern auch von den konkreten Kontakten, Verbindungen und Bündnissen, die wir bereits. eingegangen sind, und von den Einflüssen und Wirkungen, die wir jenseits unserer Grenzen in der Vergangenheit ausgeübt haben. Ich will mich trotzdem erst einmal auf Fremde im genuinen Wortsinn konzentrieren, d.h. auf Männer und Frauen, denen wir sozusagen zum ersten Mal begegnen. Wir wissen nicht, wer sie sind und was sie denken, und erkennen in ihnen doch den Mann und die Frau. Sie sind wie wir, aber sie sind keiner oder keine von uns. Wenn wir über ihre Mitgliedschaft entscheiden, dann müssen wir über sie genauso nachdenken wie über uns.“
Von der Zuerkennung der Mitgliedschaft ist die Pflicht zur Gastfreundschaft, zu Nothilfe und Wohlwollen gegenüber Fremden genau zu unterscheiden. Über die Mitgliedschaft entscheiden nicht die Fremden, sondern die Etablierten. Wer sonst? Bei dieser Gelegenheit stellt sich auch die Frage, wie jene Etablierten sich selbst verstehen wollen, was also ihre “Leitkultur” sein soll. Anderen Nationen kommt nie und nimmer das Recht zu, einer Nation vorzuschreiben, welche und wieviele Fremde sie als Mitglieder aufnehmen sollen. Die sog. Quotenregelung, die in der EU gegenwärtig für Kontroversen sorgt, kann nicht die Mitgliedschaft zur jeweiligen Nation betreffen, sondern allenfalls die akute und befristete Nothilfe.