Und wenn Erdogan recht hat? / VON MICHAEL MARTENS

MESOP : AUCH FETULLAH GUELEN VERKAUFT NUR ISLAM & KONSPIRATIV  (MUSTAFA  AKYOL)

Selbst Gegner des Präsidenten warnen: So harmlos, wie sie sich gibt, ist die Gül

ATHEN, 19. Juli. Was seine Ansichten zu Recep Tayyip Erdogan betrifft, hat Soli Özel eine für türkische Intellektuelle typische Entwicklung hinter sich: Noch vor einigen Jahren wäre Özel, der Politikwissen-schaft an der Kadir-Has-Universität in Istanbul lehrt und zu den bekanntesten Publizisten der Türkei gehört, durchaus ein-verstanden gewesen, wenn man ihn als Anhänger Erdogans  bezeichnet hätte. Die innenpolitischen Reformen aus Erdogans erster Legislaturperiode als Ministerpräsident, die Offnung der Außenpolitik, das Zugehen auf die Kurden — wie viele andere kritische Geister in der Türkei begrüßte Özel all das. Doch er wirft längst einen distanzierteren, skeptischeren Blick auf den türkischen Führer. Anders als die reflexhaften Erdogan-Gegner, die alles, was der Staatspräsident sagt und tut, nur deshalb ablehnen, weil er es sagt und tut, hat sich Özel dabei aber Augenmaß bewahrt. Und sagt: Nur weil Erdogan behaupte, die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen stecke (auch) hinter dem Putsch vom 15. Juli, müsse das nicht falsch sein.

Die Theorie, der Putsch sei eine Inszenierung Erdogans und seiner “Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung”, der AKP, um danach umso härter zuschlagen zu können, hält Özel jedenfalls für wenig plausibel. „Zwar wirft der Verlauf des Putsches viele Fragen auf — aber zu sagen, die AKP habe sich das selbst angetan, um mit den Säuberungen beginnen zu können, erinnert mich an die Theorie, die Vereinigten Staaten hätten 9/11 organisiert, um Afghanistan angreifen zu können. Das ist nicht überzeugend”, sagt der Politikwissenschaftler. Waren es also doch die „Gülenisten”? Özel wägt ab: „Es ist offensichtlich, dass es viele unzu friedene Grüppchen und Juntas in den Streitkräften gibt. Derzeit wird angenommen, dass die Führung des Putsches in den Händen der Gülenisten lag. Vielleicht war das so, vielleicht nicht”, sagt er und mutmaßt, es könne in der Armee eine größere putschwillige Koalition gegeben haben, von denen einige Mitglieder im letzten Moment abgesprungen seien. Das wäre eine Erklärung für die dilettantische Ausführung des Umsturzversuchs. Gülens Sympathisanten in der Armee könnten sich “zusammengetan ha-ben mit anderen Unzufriedenen”, so Özel. Er nennt den Putsch einen „miss-glückten Präventivschlag” jener Kräfte in der Armee, die befürchten mussten, bei den Anfang August anstehenden Personalentscheidungen oder sogar in einer vorherigen „Welle von Anti-Gülen-Verhaftungen” zu den Opfern zu zählen. Eine Lanze für die „Gülenisten” will Özel jedenfalls nicht brechen: „Das ist eine sehr undurchsichtige Organisation.”

Doch ist die Gülen-Bewegung nicht eigentlich harmlos und gänzlich unpolitisch? Baut sie nicht überall auf der Welt Schulen, an denen nach modernen Lehrplänen unterrichtet wird? Bietet sie nicht Nachhilfekurse für Schüler, setzt sie nicht auf Dialog, Bildung und einen zeit-gemäßen, den Anforderungen der Moder ne entsprechenden Islam? Mustafa Akyol, Kolumnist für die Zeitungen „Hürriyet” und „International New York Times” hat dazu eine eindeutige Antwort formuliert: „Wenn die Gülenisten überall auf der Welt nur Schulen, Wohltätigkeitsvereine und Nichtregierungsorganisationen gegründet hätten, dann gäbe es da kein Problem.” Aber, so Akyol in einem Text zu den Hintergründen des Putschs, es gebe eben auch die „dunkle Seite” der Bewegung, nämlich eine „Geheimorganisation im Staat”, ein Projekt mit dem Ziel, „die bürokratische Kontrolle über den Staat zu erlangen”. Die Behauptung, „die Gülenisten” stünden hinter dem Putsch, sei „keine verrückte Verschwörungstheorie”, sondern »höchst plausibel”, behauptet Akyol, ohne freilich nähere Belege zu nennen. Aykol kritisiert vor allem eine unkritische Verehrung Gülens: „Die Gülen-Bewegung hat Hunderttausende Mitglieder, die alle zu denken scheinen, dass der frühere Imam eine besondere Führung und Weisheit besitzt.” Akyol spricht von messianischer Verehrung und unbe-dingtem Gehorsam: „Es gibt keinen Raum für eine andere Meinung, von Kritik gar nicht zu reden.”

Wie einem geschieht, der auch nur in-direkt Zweifel an der „Bewegung” äußert, davon weiß der amerikanische Journalist Andrew Finkel zu berichten. Er war zwar nie „Gülenist”, dafür aber Ko-lumnist für die Zeitung „Zaman”, die das auf Türkisch und Englisch erscheinende publizistische Flaggschiff der Bewegung war, bis sie vor einigen Monaten von den türkischen Behörden unter fadenscheinigen Vorwänden enteignet und geschlos-sen wurde. Als Finkel 2008 das Angebot erhielt, für „Zaman” zu schreiben, erklärte ihm der Chefredakteur gleich zu Beginn, dass die Zeitung „von der GülenBewegung unterstützt werde und die Gülen-Bewegung unterstütze, was ich zu be-rücksichtigen hätte”, erinnert sich Finkel. Doch die respektablen Namen anderer „Zaman”-Kolumnisten hätten ihn schließlich überzeugt, so Finkel. Außerdem habe doch jede Zeitung der Welt einen Herausgeber oder Besitzer, der die Linien vorgebe.

Doch für Finkel war nach gut drei Jahren der Zusammenarbeit plötzlich Schluss. Der Auslöser dafür war ein Buch des türkischen Journalisten Ahmet Sik mit dem Titel „Die Armee des Imams”. Das Buch löste noch vor seinem Erscheinen einen Skandal aus in der Türkei. Im März 2011, als Siks Werk noch nicht einmal in den Buchhandlungen war, wurde der Autor unter dem Vorwurf verhaftet, er gehöre der Geheimorganisation „Ergenekon” an. In seinem Buch, das die Polizei als Entwurf vom Computer weg konfiszierte, schrieb Sik, dass die Gülen-Bewegung den Staat untergrabe und einen Umsturz des Systems plane. Das Buch hat viele Schwächen, denn für seine Behauptung liefert Sik keine handfesten Anhaltspunkte. Der Hauptteil des Buches war 2011 schon veraltet. Sik zitiert darin aus damals bereits bekannten Dokumenten aus den frühen neunziger Jahren, die Manipulationen der „Gülenisten” bei der Einstellung von Polizisten belegen. Anhänger der Bewegung hatten damals dafür gesorgt, dass Gleichgesinnte in wichtige Abteilungen vordringen konnten. Die Schwäche des Buches ist, dass es zur (an-geblichen oder tatsächlichen) Unterwanderung der türkischen Polizei durch Güle-nisten kaum Belege für die Zeit nach dem Jahr 2000 gibt. Doch schon das Kompilieren und Zitieren alter Akten brachte Sik mehr als ein Jahr Haft unter fadenscheinigen Begründungen ein. „Zaman” unterstützte das seltsame Vorgehen der Justiz gegen den Autor eines nicht erschienenen Buches bedingungslos. Finkel wurde entlassen, als er sich kritisch mit dem Fall Sik befassen wollte. In seinem Text wandte er sich gegen die „aggressive Verfolgung von Menschen, die Bücher schreiben”. Dann folgte der Satz, der Finkels „Zaman”-Karriere beendete: Das Buch möge unsinnig sein, „aber solange wir es nicht gelesen haben, können wir das nicht wissen. Sondern nur die Motive jener bezweifeln, die nicht wollen, dass wir es lesen.”

Im Gespräch mit dieser Zeitung stellte Finkel seinen Fall damals so da: „Ich dachte, es sei eine Verpflichtung der Zeitung, andere Journalisten nicht im Gefängnis sehen zu wollen. Ahmet Sik wurde beschuldigt, ein Buch gegen die Gülen-Bewegung geschrieben zu haben, und als eine Gülen-Zeitung hatten wir die besondere Verpflichtung, unsere Kritiker zu verteidigen. Aber so wurde das in der Zeitung nicht ge-sehen”, sagte Finkel. „Das war der Grund, aus dem ich gefeuert wurde.”

Übrigens gab es einen Teil von Siks Buch, der allgemein als überzeugend geschildert wurde. Sik beschreibt darin, wie „die Bewegung” besonderen Wert darauf legte, ihre Leute in nachrichtendienstliche Abteilungen zu schleusen, die auf das Abhören von Telefongesprächen spezialisiert waren. Fußnote dazu: In den vergangenen Jahren erschütter-ten immer wieder Abhörskandale die Türkei. Erst landeten abgehörte Gespräche (und sogar Videoaufnahmen) von Oppositionspolitikern im Internet, dann auch Tonaufnahmen von Erdogan, seinem damaligen Außenminister Ahmet Davutoglu und anderen Spitzenleuten der AKP.

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