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Nobelpreisreaktionen : Wie Frankreich Annie Ernaux feiert
Niklas Bender FAZ – 8.10.2022 – Frankreich freut sich über den Literaturnobelpreis für Annie Ernaux. Politisch zwiespältige Engagements der Schriftstellerin werden da ausgeblendet.
Der diesjährige Nobelpreis für Literatur zeichnet eine politische Schriftstellerin aus, das steht außer Frage: Annie Ernaux steht klar links und ist überzeugte Feministin. Wie damit umgehen? Die (immer noch) linke französische Tageszeitung „Libération“ hat leichtes Spiel: ganzseitiges Foto auf der Eins, betitelt „L’Événement“ (Das Ereignis: Titel eines Ernaux-Romans); es folgen zwei Doppelseiten mit Porträt, Interview, Kommentar, Meinungen von Kollegen wie Éric Vuillard, Nicolas Mathieu oder Hélène Gestern.
Bei der konservativen Konkurrenz „Le Figaro“ sieht es anders aus: Ernaux macht erst das Heft zu Kultur und Leben auf („Le Figaro et vous“), es folgt eine Doppelseite, die vor allem die Autorin würdigt – weibliche Federn vorneweg. Erwähnt wird, dass Ernaux 2012 den konservativen Schriftsteller Christian Millet, Lektor und Autor bei Gallimard, wegen seines Pamphlets „Literarisches Lob von Anders Breivik“ mit einer Kampagne aus seinem Verlag vertrieben hat, der auch der ihre ist. Irgendwo dazwischen liegen „Le Monde“ mit kleinerem Foto auf dem Titel und einer Doppelseite, „La Croix“, die vor allem Literaturwissenschaftler befragt, oder „Les Dernières Nouvelles d’Alsace“, die Ernaux’ feministischen Positionen einen knappen Artikel einräumen. Außer dem Recht auf Abtreibung verteidigt die Schriftstellerin auch das Recht muslimischer Frauen, sich zu verschleiern.
Aktuell betont Ernaux, dass sie die Proteste in Iran unterstütze, aber einen großen Unterschied sehe: Dort kämpfe man gegen „den absoluten Zwang“, in Frankreich dagegen „um die Freiheit“, den Schleier zu tragen. Schließlich zwinge niemand die Französinnen dazu: eine diskutable Position, gerade aus dem Mund einer genauen Beobachterin subtiler sozialer Zwänge. Dieses Ungefähre, Waghalsige prägt Ernaux’ Engagements: Sie hat die Gelbwesten unterstützt und den linksextremen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon – der am Donnerstag „vor Glück geweint“ hat, wie er twitterte. Problematisch war 2017 ihr Einsatz für Houria Bouteldja, Sprecherin der „Indigènes de la République“ (Eingeborene der Republik) und Autorin des Pamphlets „Les Blancs, les juifs et nous“ (Die Weißen, die Juden und wir; 2016); Rassismus, Homophobie und Antisemitismus sind da nicht weit.
Israel ist denn auch das heißeste Thema: 2018 sprach Ernaux sich gegen eine französisch-israelische Kultursaison aus, 2019 rief sie zum Boykott des Eurovision-Wettbewerbs in Tel-Aviv auf. In Deutschland kocht dieses Thema in jüdischen Zeitungen hoch, bei „Bild“ auch, in Frankreich weniger. Man ist nicht so empfindlich, schließlich gilt: über Nobelpreisträger nur Gutes, zumindest die eigenen. Und im Werk spielt das ja auch alles keine Rolle. Aber Ernaux ist in Debatten sehr präsent, und ihre Positionen sind viel unbequemer, als man rechts des Rheins denken und links des Rheins sagen mag.