THEO VAN GOGH WATCH: DIE LETZTEN TAGE VON EUROPA- Bildungsnotstand offenbar : Frankreich fällt durchs Abi / Der neue Bildungs-Minister Pap Ndiaye will die Klimakatastrophe in die Lehrpläne einbeziehen.

Kommentar Jürg Altwegg  FAZ  -7.7.2022-Weil französische Abiturienten das Prüfungsthema zu schwer fanden, hetzen sie im Internet gegen die Schriftstellerin Sylvie Germain. Siehe da: Die Noten werden angehoben.

„Es wird schwierig, das Abitur nicht zu bestehen“,

 

feixte eine Kommentatorin vor der Verkündung der Resultate. „Le bac“ ist ein französisches Ritual. 709.399 Kandidaten sind dieses Jahr zu den Schlussprüfungen in Frankreich angetreten. Eingeführt wurde „le bac“ von Napoleon. Als die Sozialisten 1981 mit Mitterrand an die Macht kamen, machten sie daraus eine Utopie: Achtzig Prozent eines jeden Jahrgangs sollten zu Abiturienten werden. Dem „Abi für alle“ blieben sie treu – wie auch alle bürgerlichen Regierungen seither. Doch über die Jahrzehnte wurde das emanzipatorische Bildungsideal zum Symbol der Realitätsverweigerung. Frankreich klammerte sich an das Ideal der Gleichheit und wusste nur zu genau, dass die Chancengleichheit nicht funktioniert. Selektion ist verpönt und wird umso entschiedener praktiziert.

Linke bevorzugen Privatschulen

Auch Linke schicken ihre Kinder in die (katholischen) Privatschulen, die Mitterrand schließen wollte. Mit unlauteren Machenschaften bringen Eltern ihre Kinder in Schulen in Vierteln ohne Einwanderung unter. Die Wahl des richtigen Etablissements ist eine hohe Kunst, und nur Insider haben den Durchblick. Längst schaffen mehr als 85 Prozent eines Jahrgangs das französische Abitur. Der Preis der Utopie sind Abstriche bei den Anforderungen. Dass man sie nicht wahrhaben will, ist zur Lebenslüge der französischen Bildungspolitik geworden. Nur 535 Kandidaten haben dieses Jahr das klassische Abitur „Latein“ und 237 „Griechisch“ gewählt. Die Programme und Prüfungen überfordern die Kandidaten.

Ihr Frust entlud sich jetzt in einer beispiellosen Hetze gegen die Schriftstellerin Sylvie Germain. Ein Zitat von ihr war Gegenstand des „commentaire littéraire“. Einfache Worte wurden von den Gymnasiasten nicht verstanden. Aufgrund der Hasskommentare sah sich Sylvie Germain gezwungen, den Namen von ihrem Briefkasten zu entfernen.

„Wie sage ich es meinen Eltern?“

Zur Beschwichtigung des Netzaufstands wurden die von den Lehrern erteilten Noten von den Beamten des Ministeriums erhöht. Dennoch geht die Erfolgsquote zurück – um fast fünf Prozentpunkte. Nur 86 Prozent der Kandidaten waren erfolgreich. „Wie sage ich es meinen Eltern?“ ist das Thema der Boulevardpresse. Die Qualitätszeitungen befassen sich derweil mit den katastrophalen Französischkenntnissen der jungen Franzosen und dem „digitalen Jargon“ ihrer Aufsätze. Der neue Minister Pap Ndiaye will die Klimakatastrophe in die Lehrpläne einbeziehen. Die Bildungskatastrophe kann er damit nicht bewältigen. Frankreich wird wohl auch im nächsten Hitzesommer seine Reifeprüfung nicht bestehen.