THEO VAN GOGH THEORIE: Antisemitismus auf der documenta: „Es ist verfehlt, das Problem auszulagern“

28.7.2022, Alina Andraczek HNA  Prof. Dr. Aram Ziai, Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Uni Kassel

Im Zusammenhang mit der documenta fifteen wird oft über Postkolonialismus gesprochen. Was ist das eigentlich? Aram Ziai von der Uni Kassel über postkoloniale Studien.

Spätestens seit auf dem Kasseler Friedrichsplatz ein Banner mit antisemitischen Bildmotiven aufgetaucht ist und verspätet abgehängt wurde, wird der documenta fifteen Antisemitismus vorgeworfen. Im Schwerpunkt „100 Tage“ widmen die HNA-Volontäre sich in dieser Woche der Antisemitismus-Debatte um die d15: Erst wurde bekannt, dass mehrere beteiligte Künstler der BDS-Bewegung nahestehen könnten, dann wurde eine Gesprächsreihe über Rassismus, Antisemitismus und Kunstfreiheit abgesagt, und schließlich reagierte die Leitung in den Augen vieler zu spät auf das antisemitische Kunstwerk. Kritiker der Kunstschau sagen jetzt: Dass es auf der documenta fifteen zu Antisemitismus kam, hänge auch mit dem antirassistischen und postkolonialen Ansatz der diesjährigen Kunstschau zusammen.

Oft wird postkolonialen Studien Antisemitismus unterstellt

Aber was bedeutet das eigentlich? Im Interview erklärt Prof. Dr. Aram Ziai, Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien der Uni Kassel, was es mit dem Postkolonialismus auf sich hat und warum dem Ansatz oft Antisemitismus unterstellt wird.

Herr Ziai, was ist die postkoloniale Perspektive auf die Welt?

Postkoloniale Studien beschäftigen sich mit den Nachwirkungen des Kolonialismus, weil sie von der Erkenntnis ausgehen: Auch, wenn die Länder unabhängig sind, gibt es Strukturen des Kolonialismus, die überdauern. Das zeigt sich in der internationalen Arbeitsteilung und im Welthandel, das zeigt sich aber auch im Bereich der Wissensproduktion und der Weltbilder – und manifestiert sich dann in Eurozentrismus oder eben auch in Rassismus.

Glossar: Eurozentrismus

Eurozentrismus meint Wahrnehmungs-, Wertungs- und Verhaltensmuster, nach denen Europa als das „Zentrum“ der Welt eingeordnet wird, Andere auf der Grundlage europäischer Normen bewertet werden und von der Überlegenheit europäischer Normen ausgegangen wird. Eurozentrismus ist historisch eng mit dem Kolonialismus verknüpft. (ala)

Postkoloniale Studien blicken auf Auswirkungen des Kolonialismus

Die postkolonialen Studien haben sich zur Aufgabe gemacht, diese Strukturen zu untersuchen und darauf aufmerksam zu machen, wo bestimmte Weltbilder auch heute noch geprägt sind von einer aus dem Kolonialismus stammenden Einstellung und Sicht auf den Süden.

Es geht also um die Auswirkungen des Kolonialismus. Wie ist dieses Forschungsfeld entstanden?

Es gibt unterschiedliche Sichtweisen, wo die postkolonialen Studien historisch anfangen. Viele verweisen darauf, dass es bereits in den antikolonialen Befreiungskämpfen Theoretiker gab, die sich aus der Perspektive der Kolonialisierten Gedanken über die Kolonialherrschaft gemacht haben und wie man sie zurückdrängen kann. Da wären Leute zu nennen wie Aimé Césaire, Frantz Fanon, W.E.B. Du Bois, oder auch Mohandas Gandhi, die damals schon die Befreiungskämpfe und die antirassistischen Kämpfe begleitet haben.

Der „Orient“: Ein europäisches Stereotyp

Offiziell wird der Beginn der postkolonialen Studien eher später verortet, 1978 mit dem Werk „Orientalismus“. Edward Said wies nach, dass in der Literatur in Westeuropa der „Orient“ immer auf eine ganz ähnliche, stereotype Weise dargestellt wird. Die hat gar nicht so viel mit den Realitäten in den entsprechenden asiatischen Ländern zu tun, sondern mehr mit den europäischen Projektionen darauf. Projektionen, die den Orient darstellen als mysteriös, exotisch, despotisch – auch im Hinblick auf die Behandlung von Frauen. Das hat immer eine Rechtfertigung bereitgestellt, um im Kolonialismus dort zu „intervenieren“.

Sie arbeiten zu Entwicklungspolitik und postkolonialen Studien. Wie funktioniert die „Intervention“ da? Welche Muster beobachten Sie?

Generell gibt es auch da die eurozentrische Grundstruktur, dass man von der Überlegenheit der eigenen Gesellschaft hier in Europa ausgeht. Die manifestiert sich auf unterschiedliche Art und Weise – zum Beispiel auch im aktuellen Konflikt um die documenta, wo bestimmte Annahmen, die nicht überall auf der Welt, sondern eben hier gelten, quasi universalisiert werden. Ob es darum geht, was als Antisemitismus gelten kann und was nicht – da wird nicht darüber diskutiert, dass man vielleicht unterschiedliche Ansichten darüber hat. Sondern da wird ganz klar gesagt: Wir wissen, was Antisemitismus ist, und wir definieren das und das ist eine universelle Definition, die für jeden zu gelten hat.

Streit über Definitionen von Antisemitismus findet überall statt

Gibt es diese universelle Definition nicht?

Selbst in Deutschland sehen wir, dass es unterschiedliche Definitionen gibt, dass es Streit darüber gibt, was als Antisemitismus zählt und was nicht. Es gibt die Definition von Antisemitismus vonseiten der Holocaust Remembrance Alliance und die Jerusalemer Erklärung mit einer anderen Definition. Ich denke, es liegt in der Natur der Sache, dass es nicht immer nur Übereinstimmung und Konsens darüber gibt, wie ein Konzept zu definieren ist. Es hat hier eben noch einmal diese andere Dimension, dass die deutsche Perspektive auf Antisemitismus aus gewichtigen historischen Gründen eine andere ist als beispielsweise die indonesische Perspektive. Und natürlich gibt es dann sowohl in Deutschland als auch in Indonesien noch Varianten, Spielarten und Streit darüber.

Antisemitismus-Definitionen

Die in Deutschland gängige und vom Bundestag anerkannte Definition von Antisemitismus ist die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Sie lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Zur Veranschaulichung nennt die IHRA mehrere Beispiele, wovon einige auch den Staat Israel betreffen, wie zum Beispiel: „Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.“

Demgegenüber steht die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“, die 2020 von internationalen Akademikern erstellt und unterzeichnet wurde. Sie richtet sich gegen die Antisemitismusdefinition der IHRA bzw. unterstellt diese Unklarheit. Die Jerusalemer Erklärung enthält explizit auch Leitlinien zum Nahost-Konflikt – also Beispiele, die antisemitisch sind und solche, die es nicht sind. Zu letzteren zählt laut den Akademikern auch die BDS-Bewegung: „. Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“ Diese Haltung wird kritisiert.

Trotz vieler unterschiedlicher Perspektiven muss man für ein Event wie die documenta auf einen Nenner kommen. Wie kann ein Diskurs darüber funktionieren – ohne wiederum in Eurozentrismus zu verfallen oder von der eigenen Überlegenheit auszugehen? 

Ein offener Dialog darüber, warum man den Vorwurf des Antisemitismus jetzt so sieht, wie man ihn sieht, würde schon reichen. Wenn man einfach einen Schritt zurücktreten würde und sagt: Ich sehe das aus folgenden Gründen so und so. Deswegen ist dieses Kunstwerk antisemitisch und muss abgehängt werden. Und man muss den Leuten zuhören, wenn sie ihre Sichtweise schildern. Dann würde schnell deutlich werden, dass es in diesem Kunstwerk eine eindeutig antisemitische Karikatur gab – dem widerspricht, soweit ich weiß, ja niemand. Aber darum ging es eben gar nicht in diesem Kunstwerk. Sondern um die Aufarbeitung der Diktatur des Suharto-Regimes, die vom Westen unterstützt wurde, von Deutschland, Israel, den USA, und die für 500.000 bis eine Million Todesopfer, vor allem unter Kommunisten, verantwortlich war.

„Man hätte mehr diskutieren und reden sollen“

Es liegt mir fern zu sagen, dass das Kunstwerk unproblematisch ist. Aber über solche Sachen kann man diskutieren und reden, und das habe ich vermisst. Da war nur ein Zeigefinger: Ihr seid antisemitisch. Und das vor dem Hintergrund der Vorwürfe, die die documenta schon von Anfang an begleitet haben und die weit weniger fundiert waren.

Die Vorwürfe, die Anfang des Jahres im Raum standen, hatten eher mit „Personalien“ zu tun. 

Der Ursprung des Vorwurfs war eine gewisse Kontaktschuld: Dieses Kollektiv hat sich in diesem Kulturzentrum getroffen, das ist nach diesem Menschen benannt, der war Antisemit, deswegen ist eine Gruppe, die sich dort trifft, automatisch auch antisemitisch.

Teilweise war da auch ein Generalverdacht gegen palästinensische Künstler. Die documenta hat sich daher auch früh gegen antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus gewährt. Warum werden in derlei Diskursen oft Menschen aus arabischen oder muslimischen Ländern verdächtigt? 

Wir kennen es von konservativer Seite, dass austauschbare Begründungsmuster kommen, warum man mit Menschen aus dem muslimischen Raum nicht so viel zu tun haben will. Gerade Konservative – die immer ein Problem mit Homosexualität hatten, sich traditionell gegen Gleichstellungspolitik sperren – haben sich, als es um die deutsche Staatsbürgerschaft für Menschen auch aus dem arabischen Raum ging, auf einmal zur Verteidigung der Homosexuellen aufgeschwungen und gesagt: Wer deutscher Staatsbürger werden will, der muss beim Einbürgerungstest die Frage: „Wie würdest du damit umgehen, wenn dein Sohn mit einem Freund ankommt?“, auf die und die Weise beantworten.

„Es ist verfehlt, das Problem an eine Gruppe auszulagern“

So funktioniert es auch mit Antisemitismus. Aus feministischer Perspektive ist das Thema auch schon einmal aufgemacht worden. Man sagte, Sexismus sei etwas, was wir im arabischen Raum antreffen – Stichwort Silvesternacht in Köln – und es gab eine Ethnisierung von Sexismus. Natürlich gibt es Sexismus im arabischen Raum, bei muslimischen Einwanderern. Aber da wird das Detail ausgeblendet, dass es das auch hier gibt. Es ist verfehlt, das Problem an eine bestimmte Gruppe von Menschen auszulagern, auch beim Antisemitismus.

Jetzt kommt es zu einer Art Backlash: In Feuilletons wird sowohl das kuratorische Konzept als auch der Ansatz, den Globalen Süden abzubilden, kritisiert. Hätte man das verhindern können?

Das hätte verhindert werden können, wenn man von Anfang an kritischer mit den Antisemitismusvorwürfen des sogenannten „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ umgegangen wäre, was wirklich eine dubiose Quelle ist. Auch hätte man über Antisemitismus reden können, ohne es als das vorherrschende Thema dieser documenta darzustellen. Aber so ist das Thema von konservativer Seite instrumentalisiert worden, um eine documenta in Verruf zu bringen, die genau das zum Programm erhoben hat: Wir wollen gern die Stimmen aus dem Süden einzuladen, um Kunst und Politik und Europa mal aus einer anderen Perspektive zu zeigen.

AfD-Bundestagsfraktion fordert, die Förderung von postkolonialen Studien zu stoppen

Ganz frisch gibt es einen Antrag der AfD-Bundestagsfraktion, die nicht nur fordert, man solle die documenta-Leitung rausschmeißen, sondern gar diese Art von Kunst, diese Art der Auseinandersetzung mit Nord-Süd-Ungleichheiten unterbinden. Und man solle jede Förderung von postkolonialen Studien einstellen und im Gegenteil fördern, dass Leute Stipendien und Forschungsprojekte bekommen, die sich kritisch mit postkolonialen Studien auseinandersetzen. Das ist jetzt der Backlash der Leute, die die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und fortwährenden neokolonialen Strukturen als unangenehm empfinden und abwürgen wollen.

Momentan ist oft der Vorwurf zu hören, postkoloniale Studien seien durchsetzt von Antisemitismus.

Ich denke, dass wir bei Antisemitismus klar unterscheiden müssen, ob wir von Feindschaft gegenüber jüdischen Menschen reden, weil sie jüdische Menschen sind, oder von Feindschaft gegen den Staat Israel. Das ist einfach ein grundlegender Unterschied. Die eigentliche Grenzüberschreitung zum Antisemitismus passiert – um mit Meron Mendel zu sprechen – dort, wo es um jüdische Menschen allgemein geht, wo jüdische Menschen für die Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht werden und dann diffamiert, beschimpft oder angegriffen werden. Das ist ein Punkt, der teilweise in einer sehr weiten Definition verlorengeht, die eben pauschale Kritik an Israel auch als antisemitisch einordnet.

Konflikt: Theoretiker sehen israelische Besatzung als „Kolonialismus“

Postkolonialismus ist also nicht per se antisemitisch?

Ich sehe nicht, dass die postkolonialen Studien in irgendeiner Weise Antisemitismus-affin sind. Natürlich mag es auch da Leute geben, denen man das nachweisen kann. Ich glaube der Grund, warum postkoloniale Studien stark in den Fokus geraten, ist aber ein anderer: Weil sie sich mit antikolonialen Befreiungskämpfen oftmals solidarisieren. Und da wird teilweise eben auch der Kampf der Hamas als solcher gezählt – die natürlich von anderer Seite als terroristische, antisemitische Organisation angesehen wird.

Die Konflikte rühren also daher, dass im Bereich der postkolonialen Studien eine Parteinahme stattfindet gegen Besatzungsregime jedweder Art, gegen koloniale Herrschaft jedweder Art. Da wird von vielen durchaus auch die israelische Besatzung in Palästina dazugezählt. Und das ist, denke ich, die Hauptquelle des Konfliktes – dass dann gesagt wird, ok, wenn man von „Siedlungskolonialismus“ und „Apartheid“ spricht, ist das antisemitisch. Natürlich sind die Überlebenden des Holocaust etwas völlig anderes als die europäischen Eroberer des 16. Jahrhunderts. Das ist auch richtig, aber man muss ja durchaus auch den Widerspruch aushalten: Auch, wenn dieser Staat als Zuflucht für die Überlebenden des Holocaust gegründet wurde, kann man nicht die Augen davor verschließen, dass es in diesem Kontext zu Vertreibungen kam, oder dass es dort eine Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft gibt.

Zur Person

Aram Ziai (49) ist seit Oktober 2014 Leiter des Fachgebiets „Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien“. Bereits seit 2013 ist er als Heisenberg-Stipendiat an der Uni Kassel tätig. Ziai, dessen Vater aus dem Iran stammt, wurde in der Nähe von Aachen geboren. Er studierte Soziologie in Aachen und Dublin und promovierte in Politikwissenschaften in Hamburg. 2003 habilitierte er sich in Kassel mit einer Studie zur globalen Strukturpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Danach folgten berufliche Stationen i