THEO VAN GOGH : THE TOTAL end of the  affair ! DAS GLOBALE LUMPENPROLETRIAT!

Achim Szepanski –  DIE SURPLUS BEVÖLKERUNG  – 28-8-24

2024-08-27

Die Surplus-Bevölkerung

Während die Akkumulation des Kapitals zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Verschiebung der arbeitenden Bevölkerung von der Landwirtschaft in die Industrie mit sich brachte, kam es am Ende des 20. Jahrhunderts zumindest in den kapitalistischen Kernländern zum Transfer des Kapitals aus den industriellen Produktionsbereichen in die Finanz-, Dienstleistungs- und Informationssektoren und zog damit eine Deindustrialisierung nach sich.

An dieser Stelle sollte man sich wieder auf das Marx`sche Gesetz der kapitalistischen Akkumulation besinnen, welches besagt, dass sich mit zunehmender Kapitalakkumulation sowohl eine industrielle Reservearmee, die in Relation zur offiziellen Lohnarbeit steht, als auch eine Surplus-Bevölkerung außerhalb der offiziellen Arbeitsmärkte entwickelt, wobei die erste Bevölkerungsgruppe schon lange sozial vom Staat subventioniert wird, während die Surplus-Bevölkerung mit Sklavenarbeiten, Teilzeitjobs und Tätigkeiten im informellen Sektor irgendwie ihre Reproduktion zu sichern versucht.

Die wichtige Membran ist hier die zwischen der industriellen Reservearmee (als Teil des offiziellen Arbeitsmarktes) und der Surplus-Bevölkerung, welche sich außerhalb des offiziellen Arbeitsmarktes befindet und weltweit, aber vor allem im globalen Süden, in informationelle, halblegale oder illegale Ökonomien abgedrängt wird. Bereits Marx bringt die Begriffe der relativen und der absoluten Surplus-Bevölkerung ins Spiel. Einerseits spricht er von der industriellen Reservearmee als einem zyklischen Phänomen, insofern sie je nach Entwicklungsgrad der Kapitalakkumulation in die Produktion einfließt oder aus ihr herausfällt (relativ). Marx glaubt zudem aber auch an eine langfristige Tendenz, die zu einem überproportionalen Wachstum der industriellen Reservearmee gegenüber der gesamten Arbeitsbevölkerung führt. Wenn nun diese Reservearmee langfristig stark anwächst, muss ein Teil von ihr schließlich infolge der technischen Entwicklung der Produktion ganz aus dem Lohnarbeitsverhältnis herausfallen und vom offiziellen Arbeitsmarkt verschwinden, kann also überhaupt nicht mehr als variables Kapital verwendet werden (absolut). Diese Entwicklung müsste anhand der technologischen Entwicklungen auf der Ebene des Weltmarkts auch empirisch untersucht werden.

Das globale Proletariat umfasst heute, neben der lohnabhängigen, tarifrechtlich noch abgesicherten Arbeiterklasse mit relativ hohen Löhnen (Stammbelegschaften) in den westlichen Ländern, auch das Prekariat sowie eine über eine Milliarde zählende Surplus-Bevölkerung, der jeder Zugang zu den offiziellen Arbeitsmärkten untersagt bleibt und die sich in informellen und nicht-kapitalistischen Ökonomien reproduzieren muss oder in Slums dahin vegetiert, das heißt, als akkumulierte Leichenhaftigkeit existiert.[1] Es sind diese total Enteigneten, die Massen von Arbeitslosen, die Tagelöhner und die unter protoindustriellen Bedingungen vernutzten asiatischen und afrikanischen Wanderarbeiter, das postkoloniale Heer von Sklaven, die Alten und Kranken, aber auch die überflüssigen Jugendlichen, die von einem Bildungssystem, das sich vor allem auf die alltägliche Evaluation von jedem durch jeden konzentriert, für Jobs ausgebildet werden, die es in Zukunft gar nicht geben wird – alles in allem das globale Lumpenproletariat, das außerhalb des offiziellen Arbeitssystems steht.

Die Surplus-Bevölkerung vegetiert heute vor allem im globalen Süden auf dem schmalen Grat zwischen Überleben und totaler Liquidierung. Der buddhistische Ökonom Karl Heinz Brodbeck schreibt zum globalen Süden: »Es besteht wohl ein teleologischer, aber kein faktischer Unterschied zwischen dem, was einerseits an den globalen Marktschranken an Hunger, Tod und Elend erzeugt wird und andererseits in den Lagern von Hitler, Stalin, Mao, sowie den Einzäunungen und Camps des US-Imperiums und seiner Satelliten. Gewiss, in den Lagern herrscht nackte und beabsichtigte Gewalt, gelenkt von der Intention, zu foltern und gezielt zu töten. Die Opfer der Märkte werden wohl nicht beabsichtigt, aber sie werden präzise und wörtlich, in Kauf genommen. Der Wahnsinn beider Handlungsweisen, der Herstellung von Opfern oder ihre Inkaufnahme, besitzt gleichwohl eine gemeinsame Form: Die Durchsetzung einer Abstraktion ohne Rücksicht auf die Mittel, gelenkt vom dummen Stolz eines herrschenden Nichtwissens. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich mehr und mehr auch eine instrumentelle Konvergenz zwischen totalitärer Gewalt und der abstrakten Herrschaft des Geldes herausbildet und die Differenz zwischen dem Elend in den Slums und dem Terror in den modernen Folterkammern nivelliert wird« (Brodbeck 2012: 1232-1233).

Nick Dyer-Witheford untersucht in seinem Buch Cyber-Proletariat detailliert die Zusammensetzung des globalen Proletariats (in seiner Beziehung zur Kybernetik), das er ein »facettenreiches Multiversum« nennt, das sich aus jenen Schichten zusammensetzt, die ihre Arbeitskraft noch an das Kapital verkaufen oder vermieten können, um die Reproduktion zu sichern, einer industriellen Reservearmee ohne Arbeit, die vom Wohlfahrtsstaat gestützt wird, und einer Surplus-Bevölkerung, die sich aufteilt in jene, die in den informellen Sektoren der Subsistenzwirtschaft arbeiten, und jene, denen jede Beschäftigung verwehrt ist und die damit nicht nur für das Kapital, sondern zunehmend für jede Art von Produktion völlig nutzlos geworden sind. (Dyer-Witheford 2015: 126f.)

Die Surplus-Bevölkerung wächst heute weiter sowohl in den informellen Sektoren der Wirtschaft als auch in der minimalen Subsistenzwirtschaft an, während sich gleichzeitig die prekäre Lohnarbeit in einem diffusen Dienstleistungssektor ausweitet; außerdem sehen wir die Mobilisierung von Frauen für bezahlte und unbezahlte Arbeit im Reproduktionssektor und die Eskalation von Unterbeschäftigung und unbezahlter oder unsicherer Arbeit. In den Peripherien des globalen Südens gibt es neben den informellen Sektoren, die immer noch mit den Kreisläufen des Kapitals verbunden sind,[2] (Heimarbeit und Arbeit ohne Vertrag), auch nicht-kapitalistische Produktionsweisen wie Sklaverei oder Subsistenzwirtschaft. Es gibt Produktionen, in denen die Arbeitskraft in den Kreislauf Ware-Geld-Ware eingebunden ist, wobei die erste Ware die Arbeitskraft selbst ist, die für Geld gekauft und in einen Produktionsprozess eingebunden wird, dessen Produkte, wenn sie auf dem Markt verwertet werden, gerade genug Geld einbringen, um den Kauf der für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Güter und einen kleinen Überschuss für den Unternehmer zu ermöglichen. (Sayal 2007: Kindle-Édition 5014)

Das Kollektiv Théorie Communiste spricht heute von drei Zonen auf dem kapitalistischen Weltmarkt: 1) Die Hyperzonen des Kapitals mit hohen Funktionsleistungen im Bereich der Arbeitsmärkte und der Produktionsorte (Finance, Technologie und Forschung). 2) Sekundäre Zonen mit intermediären Industrien und Technologien (Logistik und Kommunikation). 3) Krisenzonen informationeller Industrien mit niedrig bezahlten Arbeiten oder Zonen, in denen überhaupt nicht gearbeitet wird. (Dyer-Witheford 2015: 126f.) In der ersten Zone trifft sich hochbezahlte Lohnarbeit inklusive privater Risikoabsicherung mit solchen Arbeiten, in denen bestimmte Aspekte des Fordismus erhalten bleiben, während andere Arbeitskräfte mit prekären Bedingungen kämpfen. In der zweiten Zone ist die prekäre, niedrigbezahlte Arbeit die Norm, gemischt mit Inseln von vertraglich bezahlten Arbeiten, mit der Migration und der fehlenden Absicherung sozialer Risiken. In der dritten Zone hängt das Überleben des Proletariats von humanitärer Hilfe, illegalem Handel und mafiösen Strukturen ab, von der Landwirtschaft, aber auch von kleinen Gemeinschaften.

Diese Schichtung und Stratifizierung muss als ein volatiler und poröser Prozess verstanden werden, der von ständigen weltweiten Migrationsbewegungen des Proletariats und den Restrukturierungen durch das Kapital durchzogen ist. Was auf globaler Ebene modern ist, ist nicht der universelle Fortschritt in Richtung Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit, sondern ein beschleunigter Abstieg in Informalität, Prekarität und pure Überflüssigkeit. Anstatt Aufwärtsmobilität gibt es für einen Teil der Menschheit nur eine Treppe nach unten zu vermelden, über die entlassene Arbeiter und entlassene öffentliche Angestellte des formellen Sektors in die Schattenwirtschaft absteigen, und dies nicht nur im Globalen Süden. Dies Entwicklung hat auch in den imperialistischen Ländern an Tempo zugenommen und hat seit der Finanzkrise 2008 und der Corona-Pandemie einen neuen gewaltigen Schub erhalten.

Dabei fällt das Wachstum der informellen Wirtschaft nicht nur mit der neoliberalen Globalisierung zusammen, sondern wird durch einen rasanten Übergang von staatlicher Regulierung zu neuen Laissez-faire-Regimen weiter vorangetrieben. Wie die ILO feststellt, ist nun weithin anerkannt, dass die Stabilisierungs- und Strukturanpassungspolitiken der 1980er und 1990er Jahre, die in vielen Ländern zu wachsender Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung führten, zur Ausbreitung der informellen Wirtschaft beitrugen. (ILO 2018) Die Existenz informeller Arbeit erlaubt es den Kapitalisten, Kosten zu senken und die Flexibilität zu erhöhen, unter anderem durch erzwungene Überstunden, Entlassungen und die Abwesenheit von Vorschriften und rechtlichem Schutz, sodass die Risiken und die Kosten der Anpassung an die Nachfrage auf die Arbeiter übertragen werden. Ein Teil des informellen Proletariats bleibt ein Arbeitskräftereservoir für die formelle Wirtschaft und deren Netzwerke, die tief bis in Slums hineinreichen.

So sind die offiziellen Arbeitslosenquoten in den Ländern im globalen Süden zwar schon sehr hoch, aber sie verbergen das wahre Ausmaß der Anzahl der Menschen, die am Rande des oder unter dem Existenzminimum leben, und das ohne irgendeine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Diese enteigneten Werktätigen sind einerseits ehemalige Bauern, die vor allem in Asien zu Millionen aufs Land zurückströmen würden, wenn dort Ackerland und billige Kredite für sie verfügbar wären, andererseits Arbeitslose, die in den Slums dahinvegetieren oder fragmentierte Arbeiten betreiben. Generell ist es zwar so, dass Arbeiter durch stärkere technologische Entwicklung in einem Sektor freigesetzt werden und in neuen Sektoren Beschäftigung finden können. Allerdings zeigt gerade die gegenwärtige Entwicklung in China, dass auch in diesen neuen Sektoren zum Teil die am weitesten entwickelten Produktionsverfahren eingesetzt werden, sodass sie weniger Arbeitskraft absorbieren als mit alten Produktionsverfahren. So beruht heute der Aufstieg einiger Schwellenländer nicht mehr nur auf billiger Arbeitskraft, wie John Smith oft annimmt, sondern auch auf moderner Technologie, sodass die produktive Absorption von Arbeitskraft geringer ausfällt, als die hohen Wachstumsraten in China etwa vermuten lassen.

William I. Robinson geht von drei Formen des überschüssigen Proletariats aus: Ein schwebendes, ein latentes und ein stagnierendes Surplus-Proletariat. Bei den ersten beiden Formen handelt es sich um Gruppen, die entsprechend den Zyklen der Kapitalakkumulation noch in den lohnabhängigen Produktionsprozess ein- und aussteigen können und durch neue Formen der Arbeitsteilung integriert werden (industrielle Reservearmee). Die dritte Gruppe sind diejenigen, die strukturell außerhalb des Produktionsprozesses stehen. (Robinson 2021) Marx hat versucht, diese Gruppe unter dem Begriff des Lumpenproletariats zu fassen, aber er konnte natürlich nicht die Prozesse vorhersehen, in und mit denen z. B. durch die Ersetzung von Arbeit durch Technologien, aber auch durch andere Prozesse, die Existenz der Surplus-Bevölkerung zu einem strukturellen Problem für die Weltwirtschaft werden würde. Abgesehen von Marx’ weitgehend negativer Qualifizierung des Lumpenproletariats ist dieses nun ein strukturelles Moment, dass für die Marginalisierung der Geächteten im kapitalistischen Weltsystem steht.

Die Surplus-Bevölkerung vor allem im globalen Süden ist also längst zu einer Strukturkategorie der politischen Ökonomie geworden; sie ist eine riesige Bevölkerungsgruppe, die unter langfristiger Unterbeschäftigung leidet, in der informellen Ökonomie der Slums der Megastädte ein lebensnotwendiges Einkommen erwirtschaften muss und ergänzt wird durch die international wandernden Flüchtlinge, die vor Kriegen, Unterdrückung und Naturkatastrophen fliehen und als Arbeitsmigranten an den Nicht-Orten der Welt hausen müssen. Die Surplus-Bevölkerung des globalen Südens hat sich aber vor allem in den »Planeten von Slums« konzentriert, wie Mike Davis in seinem gleichnamigen Buch dokumentiert hat, wo Hunderte von Millionen Menschen im totalen Elend leben. Das spektakuläre Wachstum der städtischen Slums ist auch eine Folge der tiefen Krise auf dem Land. Wie Mike Davis feststellt, schreitet die Verstädterung im globalen Süden trotz sinkender Reallöhne, steigender Preise und explodierender Arbeitslosigkeit rasant voran. (Davis 2007)

Gilles Deleuze hat schon in den 1990er Jahren weit voraussehend vom universell verschuldeten Menschen gesprochen, aber gegen jede Ontologisierung der Verschuldung schnell hinzugefügt, dass für die Kontrollmächte immer wieder die Gefahr von Aufständen erwachse – die Verschuldeten und die Ausgeschlossenen seien eins. Sie sind derselbe globale Surplus, wobei die Verschuldeten als Kreditnehmer von Mikrokrediten immerhin noch eine ökonomische Funktion für das finanzielle Kapital besitzen, während größere Teile der Surplus-Bevölkerung für das Kapital funktionslos als Menschenmüll in den Slums der südlichen Metropolen dahinvegetieren. Das Kapital muss heute immer neue Agenten finden, die der Verschuldung fähig sind, Studenten, Hausbesitzer und Teilzeitarbeiter, ohne allerdings die Surplus-Bevölkerung im globalen Maßstab auch nur im Ansatz reduzieren zu können.

Wenn heute der Aufstand nicht nur eine kollektive Aktion, sondern eine Art des Klassenkampfes darstellt, dann muss gerade auch die Surplus-Bevölkerung in diesem eine explanatorische Kraft besitzen; sie ist als konstitutiver Teil des globalen Proletariats zu verstehen, dessen historische Aufgabe in der Negation des Kapitals besteht. Je mehr die besser gestellten und tariflich abgesicherten Teile der Arbeiterklasse in den westlichen Metropolen das Kapital affirmieren, um sich noch auf einem relativ angenehmen wirtschaftlichen und sozialen Niveau reproduzieren zu können, desto massiver zeigt sich gleichzeitig die politische Signifikanz eines weltweit expandierenden Proletariats, das zu großen Teilen keinen Zugang mehr zu den traditionellen Formen der Reproduktion findet. Laut Joshua Clover befinden wir uns inmitten eines langen anhaltenden Exodus der Besitzlosen aus allen Erdteilen in die westliche Welt, der durch die zunehmende geopolitische Volatilität, durch Kriege und die Unfähigkeit des Kapitals, die Arbeitskräfte in den Staaten des Globalen Südens adäquat zu absorbieren, angetrieben wird – eine Diaspora einer expandierenden Suprafluidität und zugleich nicht-mobilen und stillgelegten Surplus-Bevölkerung. (Clover 2021)

Wenn sich das alltägliche Leben eines Teils der Weltbevölkerung im globalen Süden immer stärker in den informellen Ökonomien abspielt, dann gerät dieser Teil selbst zum Surplus und wird mit den Bedingungen seiner Reproduktion jenseits des Lohnarbeitsverhältnisses konfrontiert, und in dieser konfliktreichen Situation, die sich dann auch auf den Straßen zeigt, kann jede unerlaubte Ansammlung einer Gruppe an der Ecke, auf einem öffentlichen Platz oder eben in den Straßen als ein potenzieller Riot verstanden werden. Ganz im Gegensatz zum Streik ist es schwer herauszufinden, wann der Riot startet oder wann er endet. Einerseits ist er ein partikulares Ereignis, anderseits ist er die holographische Miniatur einer kompletten Situation, ein Welt-Bild.

Der Riot scheint nichts zu erhalten oder nichts zu affirmieren, vielleicht einen geteilten Antagonismus, ein geteiltes Elend und eine geteilte Negation. Oft besitzt er nicht einmal die positive Sprache eines Programms oder einer Forderung, sondern nur die negative Sprache des Vandalismus, der Zerstörung und des Planlosen. Aber dennoch mangelt es ihm nicht an Determination. Clover spricht von der Überdeterminierung des Riots durch historische Transformationen, die den Antagonismus, im speziellen die Kämpfe in der Zirkulation notwendig machen. Der Wohlfahrtsstaat, der die Akkumulation des Kapitals im Fordismus noch begleitet hat, ist verschwunden, und mit ihm die Möglichkeiten des Kapitals und des Staates soziale und ökonomische Verbesserungen für Lohnabhängigen zu gewährleisten. Kapital und Arbeit wandern immer stärker in die Zirkulation ab, während sich die Surplusbevölkerung in der informellen Ökonomie befindet. Die neuen Aufstände in der Zirkulation müssen nicht unbedingt von Arbeitern getragen werden, denn im Prinzip kann jeder einen Marktplatz befreien, eine Straße schließen oder einen Hafen besetzen. Die Aufständischen mögen Arbeiter sein, aber sie fungieren im Riot nicht als Arbeiter, denn die Beteiligten werden hier nicht durch ihre Jobs, sondern in ihrer Funktion als Enteignete unifiziert.[3]

Während der frühe Riot sich noch kaum mit der Polizei und dem bewaffneten Staat konfrontiert sah (er fand im ökonomischen Raum statt), hat sich dies beim postindustriellen Riot geändert. Einerseits sieht man direkt das Ensemble der Waren in den lokalen Supermärkten, andererseits, wenn es um die Preissetzung der Waren geht, ist man mit der Kapital-Ökonomie als einer unsichtbaren planetarischen Logistik und einer kaum zu greifenden Finanzindustrie konfrontiert. Nur die Polizei kann an jeder Ecke gesichtet werden. Ein wichtiges Moment des Aufstandes macht Joshua Clover überraschenderweise im Begriff des Surplus aus, wohingegen der Aufstand doch gewöhnlich im Kontext von Deprivation, Mangel und Defizit verstanden wird, während er für Clover gerade die in sich selbst gelebte Erfahrung des Surplus anzeigt, etwa die Surplus-Gefahr, Surplus-Instrumente und Surplus-Affekte.

Das wichtigste Surplus ist die aktiv negierende, die widerständige Bevölkerung in den aufbrechenden Momenten der Massenmobilisierung, welche sich zu einem Ereignis verdichten, bei dem der Aufstand das polizeiliche Management einer konkreten Situation sprengt und sich zugleich vom alltäglichen Leben radikal entkoppelt. Diese Art der aufständischen Surplus-Produktion bleibt jedoch stets mit den Bedingungen sozioökonomischer Prozesse und Transformationen konfrontiert, die auf Krisen antworten oder diese erst konstituieren. All dies zeigt den Aufstand keineswegs als eine rein kontingente, sondern auch als eine notwendige Form des politischen Kampfes an. Angesichts der Existenz einer riesigen Surplus-Bevölkerung und der aufständischen Politik des Surplus kommt Clover zu einer wichtigen Schlussfolgerung: Der Aufstand ist die Modalität, durch die das Surplus gelebt wird. (Ebd.) Primäre Zirkulation ist heute primärer Aufstand, der das Surplus-Leben – wie kurzfristig auch immer – selbst ist; Letzteres ist das Subjekt der Politik und damit zugleich das Objekt der staatlichen Gewalt. Die Gewalt der Polizei wird nun selbst Teil des Aufstands, oder, um es anders zu sagen, die aufblitzende Koalition des aufständischen Surplus existiert in einer Ökonomie der staatlichen Gewalt.

[1] Die »wirtschaftlich aktive Bevölkerung« der Welt wuchs von 1,9 Milliarden im Jahr 1980 auf 3,1 Milliarden im Jahr 2006 und beträgt heute circa 3,5 Milliarden. Dies ist keineswegs allein die Folge eines globalen Bevölkerungswachstums, sondern auch eine Folge der Vertiefung der globalen Kapitalakkumulation und der Märkte. Fast das gesamte zahlenmäßige Wachstum der Arbeitsbevölkerung fand in den Schwellenländern statt, in denen heute 84 % der weltweiten Erwerbsbevölkerung leben.

[2] Der informelle Sektor in der Ökonomie wurde erstmals 1972 von der ILO definiert und umfasst demnach alle Arbeiten, die nicht gesetzlich anerkannt, nicht registriert und nicht geschützt sind oder von den Behörden nicht reguliert werden. (ILO) Die informelle Wirtschaft wird nicht durch den Staat reguliert, insofern keine Besteuerung, keine Arbeitsplatzinspektion etc. stattfindet. Informelle Arbeiter sind gesetzlich nicht anerkannt und erhalten daher keinen rechtlichen oder sozialen Schutz und sind nicht in der Lage, Verträge durchzusetzen. Zwar ist der Staat hier nicht ganz abwesend, aber er hat sich auf primitive Formen des Zwangs zurückgezogen. Zudem befördert die informelle Wirtschaft die staatliche Korruption, die Steuern durch Bestechung und Schutzgelder und die Rechtsstaatlichkeit durch die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bandenführern ersetzt, um die Kontrolle über die Slumviertel zu behalten und Marktmonopole zu schützen. Heute arbeiten 2 Milliarden Menschen im informellen Sektor. (ILO 2018)

[3] Wir haben das ausführlich im Riot-Buch zu Hamburg diskutiert. (Dellwo, Szepanski, Weiler 2018)

Auszug aus dem Buch: Die Ekstase der Spekulation. Kapitalismus im Zeitalter der Katastrophe. Zu Kaufen hier: https://forceincmilleplateaux.bandcamp.com/merch/achim-szepanski-die-ekstase-der-spekulation-kapitalismus-im-zeitalter-der-katatstrophe

 

Thomas Rudhof-Seibert

Work. Don’t. Cry. I.

Unübertroffen in der Analyse des kapitalistischen Terrors, ist die Bestimmung der “Aufgabe” des globalen Proletariats – “Negation des Kapitals” – heute allerdings nur noch – eine ästhetische: das Setzen von Menetekeln der letzten Tage.

 

Vermutlich richtig. Schrieb doch der Situationist Constant bereits nach dem Ende des Abenteuers der S.I.: “Ohne eine soziale Revolution besagt die Parole ‚Die Kunst ist tot‘ nichts anderes als ‚Der letzte Rest der Freiheit ist tot.‘

 

Also: Nieder mit der Antikunst!”

 

(zit. n. Ohrt, Phantom Avantgarde: 118).

Thanks Achim Szepanski.