THEO VAN GOGH THE GREAT RESET! : STADT IST JETZT SCHEISSE ! RETOUR ZU SCHOLLE & LAND ! / DIE FAZ ERÖFFNET SERIE
Frisches Denken vom Land : Ein Lob der Provinz in Krisenzeiten
Von Uwe Ebbinghaus FAZ – 6.10.2022-Hat die Stadt ihren Zenit überschritten? Auf dem Land jedenfalls gibt es Potential zuhauf, krisensicheres Denken hat hier eine lange Tradition. Man muss es nur entdecken wollen. Zum Auftakt einer neuen Serie.
Im Grunde sind die meisten Deutschen heute verstädtert. Ob auf dem Land oder in der Stadt – fast alle zeigen ein ähnliches Konsumverhalten, schauen Netflix, wollen den Glasfaseranschluss und gehen kaum noch in die Kirche. Eine verbesserte Mobilität, die Arbeit in der Stadt und das Internet haben zu einer weitgehenden Angleichung der Lebensgewohnheiten geführt.
Doch das Internet erfüllt nicht alle Wünsche. In Zeiten der Pandemie und der Energiekrise ist Deutschland auch ein wenig verdorft. Die Städte mit ihren angestammten Domänen – Konsum, Gastronomie, Kultur und Bildung – haben sich verwundbar gezeigt, die Grundversorgung konnte nicht gewährleistet werden. Selbstversorgung, Vorratshaltung und Naherholung wurden plötzlich als krisensichere Werte entdeckt. Die Stadtflucht hat zugenommen, und in der neueren Urbanistik ist ein Trend zu autarken Vierteln und der 15-Minuten-Stadt auszumachen, in der man alles Lebenswichtige zu Fuß erreichen kann.
Die Stadt wird zum großen Multidorf
Die Stadt wird zum großen Multidorf. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der provokativen Frage von Rem Koolhaas, der in seinem Buch „Countryside“ über die Zukunft des Landlebens nach einiger Abwägung fragt: „Wer mag eigentlich noch Städte?“ Doch auch das Dorf ist nicht am Ende seiner Entwicklung angelangt. Architekt Stefano Boeri, der die „Smart Forest City“ bei Cancún entworfen hat, steuert die bedenkenswerte Dialektik bei: „Städte sollten Archipele aus Dörfern werden und Dörfer wieder den kleinstädtischen Charakter zurückgewinnen, den viele früher hatten.“
Verstädterung hier, Verdorfung dort – den manchmal schwer zu fassenden Kern des ländlichen Lebens berühren beide nicht. Wie bedroht er ist, zeigt der Zustand der deutschen Dialekte – Sprachvarietäten, die dem Hochdeutschen ebenbürtig sind und dennoch als rückständig gelten. Das Fatale daran: Wer den Dialekt nicht schon als Kind lernt, wird ihn lebenslang nicht flüssig sprechen und weitergeben können, als kulturelle Prägung wird er aussterben. Was einer Verarmung gleichkäme, die in krassem Widerspruch zu der Tatsache steht, dass viele Menschen, die mit dem Dialekt aufgewachsen sind, sagen, es gehe ihnen „das Herz auf“ (Werner Herzog), wenn sie ihn hören.
Der größte Unterschied zwischen Stadt und Land ist wohl ein stark abweichendes Zeitgefühl. Der Vorspann der inzwischen leider ins Dumpfe abgeglittenen Krimiserie „Mord mit Aussicht“, einer der erfolgreichsten im deutschen Fernsehen, macht das anschaulich. Da rauscht die aus Köln strafversetzte Kriminalkommissarin mit ihrem roten Cabrio zu ihrem neuen Dienstort in der Eifel heran, alles will sie in der Provinz anders und besser machen – und landet erst einmal inmitten einer Schafherde, dem Sinnbild einer fast naturgesetzlichen Entschleunigung, mit der es sich abzufinden gilt.
Leih dir bei deinem Nachbarn eine Leiter
Sich für prestigelose Dinge Zeit zu nehmen, das lernt man in der Stadt fast nur noch in Yoga- und Achtsamkeitskursen, auf dem echten Dorf ist es gelebte Praxis, die von den Alten auf die Jungen übertragen wird. Die Menschen auf dem Land bewegen sich anders als die in der Stadt, es gibt ein abweichendes Verständnis von Repräsentation und Statussymbolen sowie für das, was peinlich oder komisch ist. Wobei die viel belächelten Provinzler an der Stadt so einiges komisch finden: die oftmals beengten Wohnverhältnisse, die innerstädtischen Staus, die ungelösten sozialen Probleme, die Bereitschaft, für überteuertes Essen Schlange zu stehen, der verkrampfte Behauptungswille.
Wollte man die Frage zuspitzen, woran man verlässlich erkennt, ob man noch auf dem Land oder schon in der Stadt lebt, läuft es wohl auf einen Realitätstest wie den folgenden hinaus, der zugegebenermaßen ein wenig an die Abramović-Methode erinnert: Leih dir bei deinem Nachbarn eine Leiter und sprich mit ihm über früher; duze jeden in deiner näheren Umgebung; gehe in eine Kneipe und sorge für Stimmung; biete einem Schulfreund Hilfe beim Hausbau an; beobachte eine halbe Stunde lang Glühwürmchen oder lausche den Eulen; besitze Wald oder versuche es zumindest. Wem die meisten dieser Alltagsexerzitien ganz natürlich vorkommen, der lebt mit Sicherheit auf dem Land, wo man sich im Frühling, Sommer und dem halben Herbst allein wegen der umgebenden Naturschönheit und den unendlich vielen Sinneseindrücken wie ein Gewinner fühlen kann. Die besten Sachen gibt es umsonst, und sie wachsen von selbst nach. Im Winter braucht man allerdings zuweilen Allrad, gute Nerven und Genügsamkeit.
Doch es wäre zu einfach, die Natur auf dem Land gegen die Kultur in der Stadt auszuspielen. Man nehme nur die Provence: Petrarca – Cézanne – Jean-Henri Fabre – Peter Handke. Zwei Revolutionäre der Kunst und zwei Nobelpreisträger, die sich von der Schönheit und Abgeschiedenheit der südfranzösischen Natur inspirieren ließen und eher ländlich lebten, Handke tut es noch heute. Prominent besetzt ist die Liste jener Dichter, die zumindest für eine Zeit lang Bauer oder Gärtner sein wollten: Voltaire, Wieland, Kleist, Tolstoi.
Die Erfindung der deutschsprachigen Literatur in der Provinz
Das Land steht nicht nur für Heimat- und Kleinkunst, sondern, zumindest historisch gesehen, auch für die enorme Kultur- und Bildungsleistung der Klöster und immer wieder für ein unbürgerliches, tendenziell umstürzlerisches, radikales Denken und Dichten – für den Blick auf die von Urbanität dominierte Welt von außen. Eine Linie lässt sich ziehen von den biblischen Einsiedlern über die „Sieben Würdigen vom Bambushain“ im alten China, über Montaigne in seinem Provinzturm, Rousseau beim Landadel, Thoreau am Walden-See, Wittgenstein am Sognefjord, Thomas Bernhard im Vierkanthof, Heidegger in Todtnau, Ernst Jünger in Wilfingen, Arno Schmidt in Bargfeld, Michel Houellebecq in Connemara.
Thoreau, der sich am Walden Pond vornimmt, noch einfacher als die Farmer zu leben, beschreibt die angestrebte Denkweise des Einsiedlers als „frei“, „klar“ und „abstrakt“. Es ist ein hinterfragendes Denken in sokratischer Tradition, aber ein nichtdialogisches, eines ohne Agora – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.
Das Land hat viele erzählerische Gattungen hervorgebracht, die bis heute junge Menschen prägen – Legenden, Sagen, Märchen – und ist Schauplatz zahlreicher Kinderbuchklassiker. Die Provinz stand am Anfang einer sich selbst entdeckenden neueren deutschsprachigen Literatur – und diese Anfänge waren alles andere als bescheiden. Klopstocks Oden, die Sesenheimer Lieder, der „Werther“, der Sturm und Drang bis hin zum „Wilhelm Meister“ mit seiner „pädagogischen Provinz“, all das wäre ohne „das Land“ nicht denkbar. Nicht anders verhält es sich mit weiten Teilen der Romantik, dem Biedermeier und dem Realismus (Droste-Hülshoff, Mörike, Gotthelf, Stifter, Storm, Keller, Busch). Büchner schreibt im Vormärz den „Hessischen Landboten“, Flaubert rückt in „Madame Bovary“ eine Landarztgattin ins Zentrum des ersten modernen Romans. Fontane setzt in seinem „Stechlin“ dem Lebensabend in der Provinz ein Denkmal, womit er zugleich eine Schablone für die Alterssitze einiger großer politischer Strategen schuf: Bismarck in Friedrichsruh, de Gaulle in Colombey-les-Deux-Églises, Adenauer in Rhöndorf.
Was denken die Jungen?
Auch der Film zeigt es: Das Land kann die Menschen ebenso wie die Stadt zerstören („Das weiße Band“) und ihnen zugleich, wie in dem epochalen Filmprojekt „Heimat“ von Edgar Reitz zu sehen, Sinn und Halt geben. Kurzum: Wenn das Land all diese Kunst von Weltrang hervorbringen kann, wie sollte man es unterschätzen? Die vom Kabinett gerade beschlossenen Ansiedlungen von Forschungszentren in der Lausitz und in Mitteldeutschland nach dem Vorbild des Silicon Valley sind nur folgerichtig.
Es gibt ebenso viel dumpfen Provinzialismus wie törichten Urbanismus, jedenfalls gibt es nichts Provinzielleres als mit der Provinz nichts anfangen zu können. Der aktuellen deutschen Literatur kann man das nicht nachsagen, sie spürt eine Nähe zum Land: In den vergangenen zehn Jahren gab es eine regelrechte Renaissance des Provinzromans. Nur in den Nachrichten, den Talkshows und weiten Teilen der Politik ist das Land vielfach unterbelichtet, derweil die Provinzkrimis auf Netflix und bei den Öffentlich-Rechtlichen immer abgeschmackter werden. Hier zeigt sich ein beschränktes deutsches Denken, das seine Tradition und sein Potential nicht kennt.
In einer Artikelserie wollen wir einen Schritt zurücktreten und unverstellt aufs Land blicken: Wo liegen die echten Probleme aus Sicht der Landbevölkerung, wie gut ist die Bildung in der Provinz, wie lassen sich Mobilität und medizinische Versorgung auch in abgehängten Gegenden verbessern? Wie denken die jungen Menschen vom Land über ihr Leben? Sterben sie vor Langeweile, oder haben sie das Gefühl, abseits der Städte Resilienz für eine unsichere Zukunft aufzubauen? Welche Gegenpositionen gibt es zum Status quo, was lässt sich für das große Ganze gewinnen? Die Stadt alter Prägung wirkt festgefahren, es ist Zeit für frisches Denken vom Land.