THEO VAN GOGH: PASCAL BRUCKNERS SCHLUCHZEN DES ANTI-ESSENTIALISMUS
Annie Ernaux steht exemplarisch für eine französische Linke, die die Muslime anstelle der Juden als Opfer der Geschichte sieht
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG – 24-10-22 – Die neue Nobelpreisträgerin ist in den letzten Jahren mit Kritik an Israel aufgefallen. Hat die Schwedische Akademie sie trotz oder wegen dieses Engagements ausgezeichnet?
Pascal Bruckner 18.10.2022, – Annie Ernaux (Bildmitte) und Jean Luc Mélenchon (links von ihr) protestieren am 16. Oktober in einer Pariser Menschenmenge gegen die hohen Preise und die «Klima-Passivität» der Regierung.
In Paris hat Hubert Bouccara, Besitzer der Buchhandlung «La Rose de Java», im Schaufenster seines Geschäfts die folgende Ankündigung angebracht: «Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht damit, mich nach Büchern von Annie Ernaux zu fragen, ich biete keine Bücher an von antisemitischen Kollaborateuren, hysterischen Feministen, Rassialisten und allem, was in Verbindung mit dem Woke-Gestank steht.» Das sind scharfe Worte – was ist davon zu halten?
Annie Ernaux ist unbestritten eine gute Autorin im Bereich der kleinen, lapidaren Bücher. Ihr letztes Werk, «Le jeune homme», die Erzählung einer Liebschaft, die Ernaux im Alter von 54 Jahren mit einem 20-Jährigen hatte, umfasst genau 27 Seiten und ist in einer halben Stunde gelesen. Keines der Bücher, die Ernaux seit Beginn ihrer Karriere publiziert hat, überschreitet 250 Seiten. Aber mit jedem ihrer Werke schafft sie es, die Herzen ihrer Leserinnen und Leser zu berühren.
Dies, indem sie über ihre Erfahrungen als Frau spricht oder über die Scham, die sie mit ihren Eltern, bescheidenen Lebensmittelhändlern in der Normandie, verbindet. Indem sie eine gefährliche und schmerzliche Abtreibung thematisiert oder ihre flüchtigen Lieben wie in «Passion simple» (1992), wo sie von einem Verhältnis mit einem russischen Diplomaten erzählt.
In diesem Segment ist Ernaux herausragend. Doch bei der Nobelpreisvergabe wurden Schwergewichte von anderem Kaliber als Kandidaten gehandelt, Michel Houellebecq in Frankreich, Joyce Carol Oates in den USA und Salman Rushdie in Grossbritannien.
Rushdie auszuzeichnen, wäre in diesem Herbst ein starkes Zeichen gewesen: Im August ist der Autor Opfer eines Anschlags geworden, und gerade eben wird Iran von Protesten durchgeschüttelt. In der Islamischen Republik gehen die Menschen auf die Strasse, seit eine junge Frau getötet wurde, die ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen hatte. Stockholm hat sich aber gegen ein solches Zeichen entschieden. Das lässt einen Verdacht aufkommen: Hat Annie Ernaux die höchste literarische Auszeichnung vielleicht der Feigheit der Nobelpreis-Jury zu verdanken?
Ein politischer Klassenflüchtling
Allerdings hat Stockholm gewissermassen auch mit der jetzigen Wahl ein Zeichen gesetzt. Denn Annie Ernaux hat zwei Gesichter: Auf der einen Seite gibt es die Autorin, die mit grossem Ernst über ihr Leben und ihre Herkunft schreibt – und auf der anderen Seite ist Ernaux eine engagierte politische Aktivistin.
In «La Place» (1983) erzählt Ernaux vom Tod ihres Vaters, der zuerst Bauernjunge, dann Fabrikarbeiter und schliesslich Kleinhändler war. Sie macht in dem Buch den geringen Spielraum spürbar, den der Vater hatte, um sich einen Platz an der Sonne zu schaffen, und sieht darin das kulturelle Erbe der Dominierten – um es mit dem Vokabular des Soziologen Pierre Bourdieu zu sagen.
Die Erniedrigungen und sozialen Risse sind prägend bei Annie Ernaux. Sie selber, die sie den Aufstieg geschafft hat, beschreibt sich als «Klassenflüchtling» und gleicht dieses Dasein mit einem starken Engagement aufseiten der radikalen Linken aus. Seit langem unterstützt Ernaux den linksextremen Politiker Jean-Luc Mélenchon, an seiner Seite hat sie just am letzten Sonntag an den Massenprotesten gegen hohe Preise und «Klima-Passivität» teilgenommen.
Zu Ernaux’ Aktivismus zählen auch dezidierte Stellungnahmen gegen die USA und Israel. In «Les Années» (2008) sind zum Beispiel diese Sätze über den 11. September zu lesen: «Man stand unter Schock und kostete ihn aus, indem man ihn per Handy mit einer möglichst grossen Anzahl von Menschen teilte. (. . .) Man sträubte sich gegen die Schlagzeile von ‹Le Monde› ‹Wir sind alle Amerikaner›. Mit einem Mal stand unsere Vorstellung von der Welt kopf, ein paar Fanatiker aus obskuren Ländern, nur mit Paketmessern bewaffnet, hatten in knapp zwei Stunden die Symbole der amerikanischen Macht pulverisiert. Das Ausmass der Tat rief Bewunderung hervor. (. . .) Später könnte man immer noch Mitleid haben und über die Konsequenzen nachdenken.»
Der Staat Israel wiederum scheint in Ernaux Gefühle zu wecken, die an Abscheu grenzen. 2018 beanstandete sie zusammen mit anderen Künstlern das positive und euphemistische Bild, das in Frankreich von Israel gezeichnet werde. «Für jede Person, die ein Gewissen hat, ist es eine moralische Pflicht, sich der Normalisierung der Beziehungen mit dem Staat Israel zu widersetzen.» 2019 unterzeichnete sie einen Brief, der zum Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv aufrief: Die französischen Sender wurden aufgefordert, die Show nicht zu übertragen. 2021 folgte die Unterzeichnung eines «Briefes gegen die Apartheid», der Israel mit dem früheren Regime in Südafrika verglich. Die israelische Politik im Gazastreifen wird darin vehement verurteilt.
«Zionisten in den Gulag»
Auch unterstützte Ernaux die Kampagne zur Begnadigung eines libanesischen Kommunisten, Georges Abdallah, der in Frankreich einen amerikanischen Offizier und einen israelischen Diplomaten umgebracht hatte. Im fraglichen Text werden die Opfer als Mitglieder von «Mossad und CIA» beschrieben; von Abdallah heisst es, dass er sich dem palästinensischen Volk und dessen Kampf gegen die Kolonisierung hingegeben habe.
In einer Petition hat sich die Autorin überdies für Houria Bouteldja starkgemacht – die algerisch-französische Politikerin hat 2005 die Bewegung «Les Indigènes de la République» mitgegründet, eine Partei, die sich antikolonial und antirassistisch gibt, aber immer wieder mit Antisemitismus und Homophobie in Verbindung gebracht wird. Bouteldja ist eine veritable islamistische Aktivistin, die terroristische Attentate legitimiert, in Büchern ihren Hass auf Weisse und Juden ausgiesst und auch schon einmal vor einem Graffito mit der Aufschrift «Zionisten in den Gulag» posiert.
Annie Ernaux ist nicht irrtümlich oder per Zufall in diese Kämpfe geraten. Sie hat ihr Lager schon früh gewählt. Es ist ein Lager, in dem Antisemitismus mit Antizionismus vermischt wird: ein Charakteristikum der propalästinensischen Israel-Boykott-Bewegung BDS, die in verschiedenen Ländern aktiv ist und dazu aufruft, die Verbindungen mit dem israelischen Staat zu kappen.
Die Initiativen, die von linken Aktivisten getragen werden, erinnern bisweilen an die Praxis der Nationalsozialisten: Vor wenigen Monaten haben BDS-Anhänger in Massachusetts das sogenannte «Mapping Project» lanciert, eine Karte, die jede jüdische Organisation erfasst, jede Synagoge, jedes Gemeinschaftszentrum, jedes Restaurant und jede Schule, mitsamt Namen und Adressen der Angestellten. In Frankreich setzen sich vor allem Gruppierungen der äussersten Linken für BDS ein, Anarchisten, Trotzkisten; kleine Minderheiten, die jedoch sehr aktiv in Erscheinung treten.
Wer ist das Opfer?
Hass auf den «Zionismus» ist unter Linken nichts Neues. Unter Stalin wurde der Begriff Ende der 1940er Jahre verwendet, um eine grosse Verfolgungskampagne gegen die Juden der Sowjetunion zu starten, die erst durch seinen Tod beendet wurde.
Doch heute rührt die Begeisterung, die manche Linke für den Antizionismus aufbringen, auch von inneren Kämpfen her: In den Reihen der Linken wird um den Status des Dominierten und Ausgestossenen gerungen. Wer ist heute der grösste, der wirkliche Paria? Der Jude oder der Muslim? Wenn man beweisen kann, dass der wahrhaft Unterdrückte arabisch spricht und die Juden keinerlei Anspruch mehr auf diesen Status haben, dann scheint das auch den Antizionismus zu rechtfertigen.
So werden die einst Verachteten, die Juden, als neue Folterknechte präsentiert, während ihr Adelstitel, jener des Opfers, an die Palästinenser und mit ihnen an alle Muslime übergeht: an die neuen Verdammten dieser Erde, denen man selbst dann noch die grösste Nachsicht entgegenbringen muss, wenn sie mörderische Attentate begehen. Indem man die Israeli zu Henkern macht und sie gewissermassen nazifiziert, delegitimiert man auch ihren Staat – während umgekehrt die Araber zu neuen Juden aufrücken. In letzter Konsequenz wird so schon im Voraus das mögliche Verschwinden Israels, dieses «usurpatorischen Gebildes», legitimiert.
Annie Ernaux, die nach eigenem Bekunden ihre Klasse und ihre Rasse rächen will, hat teil an diesem linken Antisemitismus, der sich nur schlecht unter dem Schleier des Antizionismus versteckt. Mit Jean-Luc Mélenchon befindet sie sich im Umfeld einer rot-braunen Strömung, und man fragt sich fast, ob sie nicht näher beim Israel-Hasser Alain Soral oder beim antisemitischen Komiker Dieudonné steht als bei Simone de Beauvoir oder Albert Camus, mit denen sie sich bescheidenerweise verglich.
Bleibt eine Frage: Hat die Nobelpreis-Jury Annie Ernaux die prestigeträchtige Auszeichnung trotz oder wegen ihres politischen Engagements verliehen?