THEO VAN GOGH NEWS : REFLEXION

 

2.7.22 ·

Zum Bedeutungs- und Funktionswandel von “Identität”

Im angloamerikanischen Raum war “Identität” lange Zeit ein pragmatischer Begriff, der wenig mit Authentizität, Selbstgefühl, Herkunft, Eigentlichkeit etc. zu tun hatte. Im Deutschen Idealismus war es dagegen einer der höchsten philosophischen Begriffe, verbunden mit den Begriffen der Selbstreflexion, der Erkenntnis, der Freiheit, des absoluten Ich.

Heute scheinen in Europa wie im angloamerikanischen Raum ein entleerter Pragmatismus und ein ausgehöhlter Idealismus unter dem Label der Identität zu fusionieren. Identität soll zugleich alles sein, das Wichtigste, das Eigenste, das Bedrohte und Kostbare; und gleichzeitig ein bloßer Paßtitel, etwas, das sich in einem Buchstaben oder Pronomen zusammenfassen läßt: Sie soll die Welt bedeuten und gleichzeitig nichtig, austauschbar und beliebig erneuerbar sein. – Dies prägt das Verhältnis der heutigen Identitätspolitik zum Staat im Vergleich mit den Bürgerrechtsbewegungen.

Die bürgerlichen Freiheitsbewegungen (der Schwarzen, der Frauen, der Homosexuellen, auch der Kampf für das Recht auf Abtreibung) stritten dafür, dem Staat bei der Reglementierung des Privatlebens und des Alltags der Individuen Grenzen zu setzen. Heutige Identitätspolitik fetischisiert dagegen mit dem Pathos der “Anerkennung” den Staat, denn nur, wenn der Staat die jeweilige Partikularidentität der Rumpfsubjekte (LGBTIQA…) anerkennt, ist sie Identität. Wohingegen Schwule, Lesben, Frauen, ja auch Transexuelle im bürgerlichen Zeitalter vom Staat ganz einfach – unter Sicherung der Schutzgarantie individueller Freiheit – in Ruhe gelassen werden wollten. Heute aber sind alle süchtig danach, vom Staat verfolgt, behelligt, getestet, gebilligt, geschützt, befürsorgt, gefördert und ggf. diszipliniert zu werden. Früher war der Paßeintrag “Besondere Kennzeichen: keine” die übliche Generalformel im Ausweis. Heute soll es am besten heißen: “Besondere Kennzeichen: hunderte”. Genderstatus, Impfstatus, Klimafußabdruck, Gesundheitskarte, Energieverbrauch, Wasserverbrauch, zivilgesellschaftliches Engagement usw. ergeben potentiell eine Sozialkreditkarte, die differenzierter ist als in China. Alle gieren nach einem solchen differenzierten Generalpaß, der befreiende Gehalt von Becketts Satz: “Wen kümmert’s, wer spricht” ist den Zeitgenossen kaum mehr nachvollziehbar. Organisationsform des Identitätspasses ist nicht mehr die bürgerliche Verwaltung, sondern die Selbstverwaltung in Eigeninitiative.

Jeder legt sein Leben lang seine eigene Akte an, als wäre er mit der Geburt gestorben statt zur Welt gekommen.

 Magnus Klaue