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Tauchen in keiner Statistik auf : Rund 200.000 Jugendliche in Europa verschwunden

FAZ – 4.05.2022-In den letzten zwei Jahren sind Tausende junge Leute von der Bildfläche verschwunden. Sie gehen nicht zur Schule, sie arbeiten nicht. Wo stecken sie nur?

Plötzlich sind sie weg.

Zigtausende von Jugendlichen haben sich in Deutschland während der Corona-Pandemie aus dem normalen Leben zurückgezogen. Sie beenden noch die Schule, vielleicht auch ihre Ausbildung – doch dann verschwinden sie. Sie treten keine feste Arbeit an. Sie gehen nicht zur Schule. Sie studieren nicht. Und die Fachleute rätseln, wo all die Jugendlichen abgeblieben sind.

In den Ausbildungsbetrieben hat sich das Verschwinden zuerst bemerkbar gemacht. Seit Jahren schon gibt es immer weniger Schulabgänger, schon allein weil die Geburtenzahlen jahrzehntelang zurückgegangen waren. In den Pandemiejahren ist der Bewerbermangel aber besonders auffällig geworden. Im vergangenen September blieben bis zu vierzig Prozent aller Ausbildungsstellen in Deutschland ungenutzt. Selbst der Automobilzulieferer Continental, einer der größten Konzerne Deutschlands, spürt den Bewerberausfall. Im Jahr 2020 habe er nicht mehr alle Ausbildungsplätze mit geeigneten Bewerbern besetzen können, 2021 seien 40 von mehr als 500 Stellen frei geblieben, sagte eine Sprecherin der F.A.S. – und: „Etwaige Gründe dafür können wir nicht nennen, da diese rein spekulativ wären.“

Bei den Ausbildungsbetrieben kommen die jungen Leute also nicht an. Sie tauchen aber auch nicht an der Universität auf, die Studentenzahlen stagnieren. Die Teilnehmerzahlen der Freiwilligendienste wachsen ebenfalls nicht. Ins Ausland konnten die Jugendlichen während der Pandemie schlecht gehen. Sie sind einfach weg. Und wer bei zuständigen Stellen nach den verschollenen jungen Leuten fragt, hört immer wieder das Gleiche: Man habe das Verschwinden schon bemerkt, man mache sich Sorgen, aber öffentlich sagen wolle man darüber nichts, man wisse selbst noch zu wenig.

Rund 200.000 junge Leute fehlen

So viel steht fest: Es handelt sich um Zigtausende Jugendliche. Das europäische Statistikamt Eurostat ermittelt jedes Jahr, wie viele Jugendliche weder arbeiten noch irgendwo etwas lernen. Nach vorläufigen Zahlen hat sich ihr Anteil im ersten Pandemiejahr 2020 in Deutschland fast verdoppelt. Grob überschlagen geht es jetzt um rund 200.000 junge Leute zwischen 15 und 19, die irgendetwas anderes machen, als für ihr Alter üblich ist. Das übertrifft selbst die alten Rekorde aus den Nullerjahren, als der Arbeitsmarkt schwierig war und Ausbildungsstellen rar waren. In jeder Abschlussklasse könnten es durchschnittlich zwei oder drei Schüler sein, die auf diese Weise verloren gehen.

Einer immerhin spricht über die verlorenen Jugendlichen: Bernd Fitzenberger. Er arbeitet bei der Bundesagentur für Arbeit und leitet deren Forschungsinstitut. Auch er hat derzeit mehr Fragen als Antworten. „Wir wissen vor allem, wo die Jugendlichen nicht sind“, sagt er. Einige seien zwar in der Schule geblieben, sie hätten das Abschlussjahr wiederholt oder setzten auf einen Schulabschluss noch einen anderen drauf. Doch das könne nicht erklären, dass so viele Jugendliche fehlen.

Eher Long-Lockdown als Long-Covid

Leiden sie alle unter den Spätfolgen von Corona? Das ist kaum denkbar. Erstens sind nur in Deutschland so viele Jugendliche verschwunden, in den anderen europäischen Ländern kennt die europäische Statistik dieses Phänomen nicht. Außerdem hatten im Jahr 2020 gar nicht so viele junge Leute Corona, dass die Krankheit an sich so viele arbeitsunfähig machen könnte. Wahrscheinlicher ist, dass die Lockdowns eine große Rolle gespielt haben. „Das Pro­blem ist eher Long-Lockdown als Long-Covid“, glaubt der Kinderarzt Jakob Maske, der für den Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte spricht.

So viel ist schon eine Weile bekannt: Angesichts der vielen Lockdowns und des langen Heimunterrichts sind viele junge Leute depressiv geworden. Dazu kommen noch viel mehr Jugendliche, bei denen sich die Schwierigkeiten nicht zu einer vollen Depression auswuchsen, die aber trotzdem nur noch wenig Eigeninitiative entwickelten. Viele Eltern erzählen davon, dass ihre Kinder während der Pandemie und der Zeit des Homeschoolings antriebslos geworden seien. Wer nicht zur Schule gehen musste, stand oft spät auf. Selbst wenn es Videounterricht gab, blieb oft die Kamera aus. Und selbst der beste Online-Unterricht konnte den persönlichen Kontakt zu anderen Jugendlichen nicht ersetzen. 

Rund 200.000 junge Leute zwischen 15 und 19 machen derzeit etwas, das für ihr Alter nicht üblich ist – wo stecken sie? :  

Kinderarzt Maske sagt: „Wenn man den ganzen Tag zu Hause sitzt und die Freunde nicht sieht, dann fehlt auch eine gesunde Konkurrenz und ein gewisser Antrieb, etwas zu machen. Noch schwieriger wird es bei den Kindern, die von ihren Eltern nicht angetrieben werden.“

Dann fielen auch noch Berufspraktika weg, Ausbildungsmessen und andere Wege, auf denen Jugendliche mit Ausbildungsbetrieben normalerweise in Kontakt kommen. Damit haben noch mehr Anstöße gefehlt, sich nach der Schule oder Ausbildung um eine entsprechende nächste Stelle zu bemühen. Gut möglich, dass die Jugendlichen nicht nur aus Sicht der Statistik verloren sind, sondern sich auch selbst verloren fühlen.

Ein Start-up gründen oder Influencer werden?

Das muss nicht die einzige Erklärung sein. Mancher ehemalige Schüler mag versuchen, sich selbständig zu machen – so spekuliert der eine oder andere der Fachleute, die ungern öffentlich reden. Die Zahl von Start-ups ist zuletzt gestiegen, und Influencer zu werden ist sowieso ein Traumjob vieler Schüler. Mit Videospielen kann man Geld verdienen, wenn man zahlende Zuschauer auf der Plattform Twitch findet. Manche anderen probieren sich in sozialen Medien aus – wer genügend Follower sammelt, wird zum hauptberuflichen Influencer. Dafür sind nicht Hunderttausende von Followern nötig. Das geht auch als „Mikroinfluencer“. So nennt man die Leute, die mit vergleichsweise kleinen Followerzahlen auch in Nischen Werbegeld von Unternehmen einsammeln können.

Dass einige Jugendliche das probieren, hält der Vorsitzende des Landesschülerbeirats in Baden-Württemberg, Jakob Jung, für möglich. Der Unternehmergeist sei in seiner Generation stark, sagt Jung. Es gebe einen großen Drang nach Selbständigkeit, die Verpflichtung zu einer mehrjährigen Ausbildung oder einem Angestelltenverhältnis sei da für einige unattraktiv. Hinzu kommt eine große Digitalaffinität, die die Pandemie noch einmal verstärkt hat. Ob das alles so gut ist, da ist aber auch Jung skeptisch. Fest steht jedenfalls: Weder die Zentrale von Instagram noch die von Tiktok kann berichten, dass auf ihren Plattformen zuletzt besonders viele Leute aus der Generation der Schulabgänger hervorgestochen wären.

Planlose Jugendliche bleiben zu Hause

Der Übergang zum In-den-Tag-Hineinleben ist fließend. Zahlreiche Schüler seien „planlos“, heißt es vom bayerischen Landesschülerrat. In Besigheim bei Stuttgart steht die 17 Jahre alte Freyha Strohbach kurz vor den Abschlussprüfungen an einer Gemeinschaftsschule. Sie sagt: „Ich merke, dass mir aus den letzten zwei Jahren etwas fehlt.“ Der soziale Kontakt habe die Schüler vorher immer gestärkt und ihnen das Gefühl gegeben, sie könnten etwas erreichen. Das Fehlen dieses Kontakts habe die Schüler kaputtgemacht. „Ich habe einige Freunde, die in das dunkle Leben abgerutscht und auf Drogen hängengeblieben sind.“ Nach dem Abschluss bekämen sie Hartz IV oder lebten auf Kosten ihrer Eltern.

Am Ende kommt offenbar vieles auf die Eltern an. Arbeitsmarkt­forscher Fitzenberger kennt privat eine Familie, deren Sohn eine ganze Weile zu Hause war und sich zu Hause an sozialen Medien versuchte. „Irgendwann hat die Mutter die Selbstverwirklichung beendet und ihn zum Studium angemeldet.“ Das ist die eine Seite der Elternschaft.

Es kommt auf die Eltern an

Die andere Seite kennt Tobias Lucht, der Leiter des Kinderhilfswerks Arche in Hamburg. „Die größten Schwierigkeiten haben oft Schüler mit bildungsfernen Elternhäusern, auch wenn sie Abitur gemacht haben“, sagt er. Lucht erzählt, wie die Jugendlichen während der Corona-Zeit ihre Struktur verloren haben. Er kennt unzählige Beispiele. Da ist etwa der 17 Jahre alte Junge, die Mutter ist alleinerziehend und versteht nicht viel Deutsch. Vor Corona hatte er in einer Überbrückungsmaßnahme angefangen, die lief aber während der Pandemie aus. „Da war gar nichts mehr, der hat sich einfach zurückgezogen in die Computerspiele und die Motivationslosigkeit. Die Mutter ist hilflos.“

Da ist das Mädchen, das mit einer siebenköpfigen Familie in zwei Zimmern wohnt und eigentlich sehr aufgeweckt ist, aber nach zwei Jahren Pandemie von sich selbst sagt, sie habe keine Motivation mehr. Da ist der Junge mit der alleinerziehenden Mutter, der schon vor Corona gelegentlich in Gewalt verwickelt war und im Lockdown den Halt verloren hat, den ihm die Schule noch gab – er hat in diesem Schuljahr schon 80 oder 90 Fehltage. Der Sozialpädagoge sieht vor allem einen Ausweg: über eine lange Zeit hinweg stabile Beziehungen zu vertrauenswürdigen Erwachsenen aufzubauen und die jungen Leute so wieder näher an die Arbeitswelt zu bringen.

In Deutschland sind die verlorenen Jugendlichen also wahrscheinlich gerade diejenigen, die es in der Familie und in der Schule sowieso schon schwer haben. Es gebe Hinweise aus der Vergangenheit darauf, dass solche Situationen vor allem junge Männer träfen, sagt Arbeitsmarktforscher Fitzenberger. Die Folgen können dem Land noch lange zu schaffen machen. Denn die Lücken im Lebenslauf verschlechtern die Karrierechancen der Jugendlichen. „Bei aller Kompromissbereitschaft der Betriebe: Altbewerber haben es schwerer.“ Der Kontakt der betroffenen Jugendlichen mit den Arbeitsagenturen und anderen Akteuren im Bereich der Berufsorientierung müsse sich verbessern, damit den Jugendlichen klare Perspektiven aufgezeigt werden könnten.

Es geht nicht nur um ihr Schicksal, sondern um das von ganz Deutschland. „Die gesellschaftliche Teilhabe für diese Leute wird schwieriger, und die Ungleichheit in der Gesellschaft wächst.“ Die Vereinigten Staaten kannten schon vor der Pandemie das Phänomen, dass viele junge Männer sich komplett zurückzogen und zu Hause Computer spielten, dabei spartanisch lebten oder sich von den Eltern durchfüttern ließen, einige wurden dabei drogensüchtig. Normale Karrieren machten viele von ihnen anschließend nicht mehr.