THEO VAN GOGH NEUSTES : WO JEDER IRGENDWIE REDEN KANN MUSS SPRACHE REGLEMENTIERT WERDEN! ZWANGSGEBÜHRENFINANZIERT + DAMIT JEDER OLD FASHIONED DIKTATUR BEI WEITEM ÜBERLEGEN!

Identitätspolitik : Das Verlangen nach totaler Aufmerksamkeit

Überall Diskussionen über richtiges Reden, Zitieren, Lesen. Die Öffentlichkeit befindet sich in einem Umbruch. Die Übertreibung wird zum Standard.

Erregter Streit über Karl May. Darf man ihn noch lesen, wird er noch gesendet, ist er eine schöne Kindheitserinnerung oder ein furchtbarer Kolonialist, der schon den Kleinsten verwerfliche Bilder und Konzepte von fremden Völkern einflößt? Der Mitteldeutsche Rundfunk, wird gemeldet, führt das betreute Sehen ein und will alte Winnetou-Filme mit Hinweisen darauf versehen, dass es sich um alte Filme handelt.

Weiter zu den endlosen Debatten über das Gendern. Sieht so die gerechte, die höfliche oder die „sichtbarmachende“ Sprache aus, oder ist es ein lächerliches Moralisieren? Dürfen die öffentlich-rechtlichen Sender ihr ganzes Programm in diese Sprachform bringen? Zwischendurch hat eine Juristin sogar behauptet, der Staat müsse gendern, weil er andernfalls gegen die Gleichberechtigung verstoße. Merkwürdig nur, dass das Grundgesetz, auf das sie sich beruft, selbst nicht gendert.

Dann das Wort „Neger“, das selbst in Zitaten, Übersetzungen von James Baldwin, bei dem es dreimal auf jeder Seite steht, und in Fußnoten zu Hannah Arendt, die es in Aufsatztiteln verwendet hat, als „N-Wort“ wiedergegeben werden muss. Andernfalls Shitstorm wegen Missachtung, Beleidigung, Rassismus. Deswegen musste es – erneut: Kinder in Gefahr! – auch in Büchern wie „Pippi Langstrumpf“ gelöscht werden. Joseph Conrads Roman „The Nigger of the Narcissus“ ist neulich als „Der Niemand von der Narcissus“ neu übersetzt worden. Das ZDF hat in einem Facebook-Beitrag darum gebeten, in Diskussionen über Winnetou das „I-Wort“ nicht mehr zu verwenden, die Bitte kurz darauf aber wieder gelöscht.

Hängt die Gleichberechtigung der Frauen an einem Gluckslaut?

Es haben sich, kurz gesagt, die Diskussionen über richtiges Reden, Zitieren, Lesen stark gehäuft. Mitunter scheint es, als kämen wir in die Zeiten der Benimm-Büchlein zurück, in denen gesagt wurde, wie Gabeln zu benutzen sind, will man seine Menschenwürde bewahren. Bei geringsten Anlässen – ein Verlag zieht das Beiheft und ein Puzzle zu einem Indianerfilm zurück – platzt der Moralkragen, und zwar auf allen Seiten. Die Springer-Presse wirft dazu den Herd an, um alles mit falschen Zutaten zu würzen und noch viel heißer zu kochen, als es jemals gegessen werden könnte. Als wäre es beispielsweise möglich, in diesem Land einen Reiseroman wegen unangemessener Darstellung von Komantschen zu verbieten. Manche mögen das wünschen, aber mehr als Zetern bleibt ihnen nicht.

Redet wiederum jemand überbemüht im Fernsehen von einer „Krankenschwesterin“, wird das nicht weggelacht, sondern es meldet sich Empörung: So weit seien wir also schon verblödet. Umgekehrt tun die Anhänger des insistenten Genderns so, als hänge die Gleichberechtigung der Frauen an einem Gluckslaut oder daran, dass man „Lkw-Fahrende“ sagt.

Wenn dem so wäre, beginge das Sprechen tatsächlich in jeder Sekunde millionenfache Ungerechtigkeiten. Auf einem Irrweg der Linguistik wird behauptet, Worte lösten ständig Bilder im Kopf aus und „Lehrer“ oder „Steuerzahler“ eben die falschen. Aber sieht bei „Wählerwanderung“ wirklich irgendjemand Männer laufen und entstehen wirklich Knoten im Kopf, wenn von einer „Frauenmannschaft“ die Rede ist? Die Psychologisierung der Grammatik führt ins Terrain fast beliebiger Behauptungen.

Ähnliches gilt, wenn alltägliches Verhalten korrigiert werden soll. Es sei ein Akt der Gewalt, heißt es etwa, wenn die Kleider und Frisuren anderer Stämme, vor allem solcher mit einer Leidensgeschichte, auf der Seite der weniger Notleidenden zum modischen Accessoire gemacht würden. Elvis Presley hat dann den Schwarzen die Musik weggenommen. Dass sie die Musik auch danach noch hatten, bleibt unerwähnt. Der Gewaltbegriff muss also stark gedehnt werden. Die offizielle Formulierung ist darum, man fühle sich unwohl, beispielsweise wenn man einen weißhäutigen Schweizer mit Rastalocken sehe.

Es braucht nicht viel, um sich aufzuregen

Wäre das tatsächlich Gewalt oder läge eine Markenrechtsverletzung vor, könnte man vor Gericht ziehen. Weil man es nicht kann – es fehlt beispielsweise fast immer der Vorsatz der Missachtung –, bleiben nur das öffentliche Haareraufen, die Mitteilung von tiefer Betroffenheit, das Aufführen melodramatischer Gesten. Sie mit Gefühlen zu verbinden – mir ist unwohl, das beleidigt Angehörige einer Kultur, hier wird traumatisiert – entzieht dabei die eigenen Ansichten der Diskussion. Denn wer könnte denn behaupten, mir sei gar nicht unwohl, ich sei gar nicht verletzt? Nachweise, dass Besucher aus Afrika sich mehrheitlich von einem Bismarck-Denkmal brüskiert sehen, fehlen allerdings. Dafür gibt es viele Texte von deutschen Professoren, dass alle Afrikaner sich brüskiert sehen sollten und gewissermaßen einen Fehler begehen, wenn sie sich nicht verletzt fühlen.

Der Weg des Moralisierens steht also immer offen, es braucht nicht viel, um sich aufzuregen. Wie oft dieser Weg gewählt wird, hängt aber stark von den Medien ab. Gerade veröffentlicht Jürgen Habermas seine Gedanken zu einem neuerlichen Umbruch der Öffentlichkeit in Buchform (Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“, Berlin: Suhrkamp Verlag 2022). Darin vertritt er die These, das Internet mit seinen Plattformen (Facebook, Twitter, Google, Instagram und so weiter), mit denen wir nun etwa ein Vierteljahrhundert lang leben, führe zu einer Öffentlichkeit, die gar nicht mehr strikt im Gegensatz zu privaten Mitteilungen bestimmt werden kann. Was kommuniziert werden kann, wird nämlich kommuniziert, und was den Leuten durch Kopf und Gemüt geht, unterliegt keiner redaktionellen Filterung mehr. Das Internet ist ein riesiger Haufen unredigierter Texte und schwarmförmig stattfindender Themenangebote.

Habermas erkennt darin eine Gefahr für das politische Leben. Schon in seinem Erfolgsbuch von 1962 bestand der Strukturwandel der Öffentlichkeit darin, dass die Debattierkultur der Aufklärung und ihr Zeitschriftenwesen, in dem die öffentlichen Belange kritisch behandelt wurden, allmählich von Medien in der Hand von Privatinteressen abgelöst wurden. Von Kant und der „Berlinischen Monatsschrift“ führte, so gesehen, ein absteigender Pfad zur „Bild“-Zeitung. Statt um bürgerliche Selbstverständigung gehe es immer mehr ums Geschäft.

Das war als pessimistische Diagnose schon deshalb schwer durchzuhalten, weil Habermas selbst nie Mühe hatte, für seine öffentlichen Interventionen Platz in Zeitungen zu finden. Und zwar in privatwirtschaftlich organisierten Zeitungen. Das Schrumpfen von deren Druckauflagen macht ihm jetzt deshalb Sorgen, weil nur eine professionell kuratierte Öffentlichkeit für ihn das Funktionieren der Demokratie ermöglicht. Die Bürger werden erst durch sie zu rationaler Urteilsbildung in Fragen befähigt, die alle angehen. Die Medien pflegen geradezu den Sinn für das, was alle angeht.

Die Frequenz des Wortes „unfassbar“ im Netz ist erheblich

Diesen Sinn sieht Habermas nach 1962 nun schon zum zweiten Mal gefährdet. War es damals die Zeitung als gewinnorientiertes Unternehmen, so drohe die Gefahr heute vom Internet und seinen Plattformen. Dort werde nicht mehr nach Gesichtspunkten rationaler Urteilsbildung sortiert, sondern jeder, der reden kann, darf auch reden. Alle sind nun Autoren, und entsprechend fragmentiert ist die so entstehende Öffentlichkeit. Das bloße Behaupten steht neben der Recherche, die Reklame gibt sich als Argument aus, das Geschrei als Urteil, die Produkte der Öffentlichkeitsarbeit simulieren Journalismus, und alles erscheint gleich relevant.

Ob das die Demokratie stark gefährdet, hängt davon ab, wie stark die Politik tatsächlich auf jene „rationale Urteilsbildung“ der Bürger angewiesen ist. Womöglich ist es für sie wichtiger, welches Bild ihr Personal in den Medien abgibt. Das Interesse daran, komplexe Fragen gedanklich zu durchleuchten, dürfte seit jeher auf eine überschaubare Zahl von Bürgern beschränkt gewesen sein, die Politiker wollen aber von allen gewählt werden.

Deshalb ist der wichtige Strukturwandel der Öffentlichkeit, der durch das Internet und die Plattformen ausgelöst worden ist, vielleicht gar kein politischer. Er führt zurück zu den Debatten über das, was gesagt werden darf oder muss. Denn wenn alle Autoren geworden sind, kann leicht der Zustand eintreten, dass alle die schwächsten Eigenschaften des Journalismus kopieren, diejenigen nämlich, die man auch auf eigene Faust verwirklichen kann.

Um ein unbekanntes Publikum bemüht, fangen alle an, ihre privaten Meinungen zu Beiträgen in Schlachten ums Ganze zu stilisieren. Ständig wird die Menschheit adressiert, der Gesellschaft eine apokalyptische Lage aufgewürzt, die Unerträglichkeit von allem Möglichen beschworen. Die Frequenz des Wortes „unfassbar“ im Netz ist erheblich. Ständig fällt jemand theatralisch in Ohnmacht, ist bis in die Wurzeln getroffen, fürchtet um sein Leben, zieht tatsächliche Gewalttaten heran, um sich als denkbaren nächsten Fall darzustellen.

Die Messgeräte für größte Verletzungen werden immer sensitiver eingestellt

Der Begriff der „Mikroaggression“ bearbeitet das von der anderen Seite aus: Die Messgeräte für größte Verletzungen werden immer sensitiver eingestellt. Warum? Weil so Aufmerksamkeit für an sich wenig spektakuläre Vorgänge verlangt werden kann. Das zurückgerufene Winnetou-Puzzle ist dann für seine Gegner eine solche Mikroaggression, so wie die Zurückrufung für die Winnetou-Fans eine war. Jedes Mal wird gleich über Gut und Böse gestritten, über die Gerechtigkeit für indigene Völker hier, die liberale Kultur der Meinungsfreiheit dort.

Einst hieß es, auch das Private sei politisch. Damit konnte man die Frage, wer den Müll runterbringt, vors Gericht der Öffentlichkeit ziehen. Eine Medienwelt, in der alle Autoren sind und für Interesse an ihren Beiträgen ungewaschener Subjektivität werben, verallgemeinert diesen Vorgang: nichts, für das nicht höchste Relevanz in Anspruch genommen wird. Nichts, bei dessen Diskussion nicht alles, vor allem aber die wechselseitige Achtung der Diskussionsteilnehmer auf dem Spiel steht. Was im Journalismus fraglos stets eine Rolle gespielt hat, die Übertreibung, wird hier zum Standard.

Mit einer guten Metapher ist Twitter einmal als „elektronische Kneipe“ bezeichnet worden. Es lohnt sich, diesem Bild nachzugehen, das auch auf andere soziale Medien passt. In der elektronischen Kneipe verdampfen die Sprüche nicht. In ihr wird wiederholt, was hundertmal schon gesagt wurde, und eben darum muss es immer lauter gesagt werden. Die Prügeleien werden in die Sprechakte hinein verlagert, und es prügelt sich mit Worten leichter. Die Möglichkeit, durch Schweigen Überdruss mitzuteilen, besteht nicht. Außerdem gibt es kein Bier, zu dem man zurückkehren kann, wenn die Diskussion leergelaufen ist. Es gibt nur die Erschöpfung durch sie.