THEO VAN GOGH NEUES: Kaum gewonnen, schon zerronnen: Italiens Mitte-links-Pakt gegen Giorgia Meloni bricht schon wieder auseinander

Weil die Sozialdemokraten weitere Partner aus dem links-grünen Milieu an Bord holen, wenden sich die Zentristen von der Anti-Meloni-Allianz ab. Damit erhöhen sich die Chancen der Rechtsparteien auf einen Wahlsieg Ende September.

Luzi Bernet, Neapel07.08.2022, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG  – Carlo Calenda, der Parteichef von Azione, durchkreuzt mit seinem Abgang die Bündnispläne des früheren Ministerpräsidenten Letta.

Enrico Letta ist nicht zu beneiden. Der Chef des Partito Democratico (PD), der sozialdemokratischen Partei Italiens, versucht seit Tagen, eine breite Allianz gegen die Rechtsparteien um Giorgia Meloni zu bilden. Diese haben derzeit in den Umfragen zusammen die Nase deutlich vorn und können sich gute Chancen ausrechnen, aus den Wahlen vom 25. September als Sieger hervorzugehen. Beobachter und Demoskopen sind sich einig, dass Meloni und ihre Mitstreiter Salvini und Berlusconi nur zu schlagen sind, wenn sich linke und gemässigte Kräfte zusammentun. Das geltende Wahlsystem begünstigt Allianzen und bestraft Alleingänge.

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Doch mit Kooperationen tun sich Italiens Parteien traditionell schwer – was sich am Wochenende wieder besonders deutlich gezeigt hat. Kaum hatte Letta am Samstag eine Einigung mit weiter links stehenden Kräften, den Grünen und den Kreisen um Aussenminister Luigi Di Maio erzielt, meldete sich am Sonntag der Parteichef der Azione, Carlo Calenda, wieder aus der Allianz ab.

Die Azione ist eine relativ kleine Mittepartei. Ihr Mitmachen wäre aber besonders wichtig gewesen, weil man damit Stimmen aus dem gemässigten bürgerlichen Lager hätte holen können. Ausserdem wäre es ein wichtiges Signal an die Adresse jener Wähler gewesen, die eine Fortsetzung des Kurses der gestürzten Regierung von Mario Draghi wünschen. Es dürften dies nicht wenige sein.

Nach Calendas plötzlichem Abgang mutiert Lettas Allianz nunmehr zu einem Linksbündnis. Bereits fragen sich Kommentatoren, ob es unter diesen Umständen angezeigt wäre, auch den Cinque Stelle wieder ein Plätzchen unter dem Dach der Linken anzubieten. Letta hatte sich bisher strikt dagegen gewehrt, weil die Cinque Stelle wesentlich am Sturz der Regierung von Mario Draghi beteiligt waren.

«Fehlende Kohärenz der Werte»

Calenda seinerseits begründete seinen Rückzug am Sonntag mit der «fehlenden Kohärenz der Werte». Mit der Aufnahme von weiteren Parteien aus dem links-grünen Milieu werde der liberale Teil der Allianz zerstört. «Es ist eine der schmerzhaftesten Entscheidungen, die ich getroffen habe, seit ich in der Politik bin», sagte Calenda.

Inhaltlich mag seine Kritik begründet sein, wahltaktisch dürfte sie nach heutigem Stand der Dinge nicht aufgehen. Im Alleingang wird Calenda keine grossen Stricke zerreissen, hingegen dürften Meloni und Co. profitieren. Und ob nun ein immer wieder erträumter «dritter Pol» aus den verstreuten liberalen Kleinparteien zustande kommt und an den Urnen Wirkung erzielen kann, ist sehr fraglich.

«Nach allem, was er gesagt hat, scheint mir der einzig mögliche Verbündete für Calenda Calenda zu sein», so kommentierte ein entnervter PD-Chef Letta den raschen Abgang seines Kurzzeit-Mitstreiters. Allmählich läuft Letta die Zeit davon. Der Wahlkampf ist kurz, und seine Gegner machen trotz durchaus vorhandenen Differenzen einen relativ kompakten Eindruck. Giorgia Meloni, der Lega-Chef Matteo Salvini und Silvio Berlusconi verlieren sich derzeit nicht in Streitigkeiten wie die linken und gemässigten Kräfte. Dem rechten Lager scheint es gelungen zu sein, die Egos der Parteichefs einigermassen unter Kontrolle zu halten – vorerst.