THEO VAN GOGH NEU : Folgen des Krieges – Droht der Ukraine ein Zahlungsausfall? / Militärexpertin Franke: „Je länger der Krieg dauert, desto größer der Vorteil der Ukraine“
FAZ – 26.07.2022 – Mit Zuschüssen und Zusagen in Milliardenhöhe helfen westliche Regierungen der Ukraine. Auch private Gläubiger werden wohl herangezogen. Doch die Ratingagenturen haben ihr Urteil über die Zahlungsfähigkeit des Landes schon gefällt.
Noch haben die Inhaber von ukrainischen Staatsbonds bis Ende kommender Woche Zeit, um auf die Bitte der Regierung in Kiew um ein zweijähriges Zahlungsmoratorium zu antworten. Aber die Ratingagenturen haben ihr Urteil schon gefällt: Sie zweifeln die grundsätzliche Fähigkeit der mit Russland im Krieg befindlichen Ukraine an, Schulden langfristig in Fremdwährung zu bedienen.
Neue Unsicherheiten um den Getreideexport nach dem Beschuss des Hafens von Odessa sind auch nicht dazu angetan, die Erwartungen in eine Stabilisierung der ukrainischen Agrarexporte zu erhöhen. Vor der Invasion hatten sie ein Fünftel des Ausfuhrwertes ausgemacht und waren ein wichtiger Devisenbringer. Scope Ratings und die am Markt bedeutendere Agentur Fitch jedenfalls haben die Kreditwürdigkeit der Ukraine bereits auf „C“, das niedrigste Niveau vor Zahlungsausfall, abgewertet. Kiew leistet dem weiter Vorschub, indem die Regierung dem Staatskonzern Naftogaz verbietet, fällige Papiere zu bedienen.
Hohe militärische und humanitäre Kosten
Der von Kiew gewünschte zweijährige Zahlungsaufschub betrifft 13 ukrainische staatliche Eurobonds über etwa 20 Milliarden Dollar, von denen laut Dennis Shen von Scope Ratings 3 Milliarden Dollar bis Juli 2024 fällig werden. Mit den aufgeschobenen Zinszahlungen für die Eurobonds betrügen die Einsparungen bis 2024 etwa 5 Milliarden Dollar. Die Umstrukturierung würde den Finanzierungsdruck auf Kiew verringern.
Die Aussetzung des Schuldendienstes wäre ein Signal an private Eurobond-Schuldner. Ende April standen laut Scope Ratings die nichtstaatlichen Eurobond-Schulden bei 6,5 Milliarden Dollar.
Vor zwei Wochen hatte der Staatskonzern Naftogaz seine Gläubiger auf Druck der Regierung um einen zweijährigen Tilgungs- und Zinsaufschub gebeten. Nachdem die das abgelehnt hatten und Naftogaz zahlen wollte, wozu der Konzern sich finanziell in der Lage sieht, habe die Regierung das verhindert, teilt er am Montag mit: „Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Mitteilung erhielt Naftogaz keine Genehmigung der Regierung und kann daher keine Mittel für Zahlungen an die Anleihegläubiger überweisen.“ Man wolle nun abermals mit den Gläubigern reden.
Fitch hatte Naftogaz schon vorher auf „C“ abgewertet. Andere ukrainische Unternehmen wie das zum Imperium des Milliardärs Rinat Achmetow gehörende Dtek-Energie-Unternehmen werden kaum besser bewertet.
Das Risiko künftig ausbleibender Zahlungen bleibt hoch
Die Rezession, die Ungewissheit des Krieges und das Risiko für die langfristige Tragfähigkeit der Staatsschulden erhöhen laut Scope Ratings „die Wahrscheinlichkeit, dass nach einer möglichen Aussetzung ausgewählter Auslandsschulden mittelfristig eine umfangreichere Umschuldung erforderlich sein könnte“. Ein länger dauernder Konflikt mit Russland erhöhe die militärischen und humanitären Kosten und verzögere die Aussicht auf eine umfassende wirtschaftliche Erholung. Ein langfristiges Wiederaufbauprogramm beeinträchtige die Schuldentragfähigkeit selbst dann, wenn die Erholung voranschreite.
Auch Fitch geht davon aus, dass die Ukraine und ihre Gläubiger um eine Umstrukturierung der Schulden nicht herumkommen werden. Offen sei nur der Zeitpunkt. Selbst wenn die Gläubiger aktuell das Angebot für ein Moratorium mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit annehmen würden, bleibe das Risiko künftig ausbleibender Zahlungen hoch, „da die Regierung versucht, angesichts des akuten Drucks auf die Militärausgaben die Liquidität zu erhalten“.
Angesichts des beträchtlichen internationalen Wohlwollens gegenüber der Ukraine bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass es längerfristig auf einen Schuldenerlass zulaufe, schreibt Shen von Scope Ratings. Die Herabstufung der ukrainischen Fremdwährungskredite werde zudem, wenn überhaupt, dann nur eine begrenzte Auswirkung auf die offizielle Hilfe der EU, der USA oder anderer multilateraler oder bilateraler Organisationen haben. Faktisch hätten sich die Hilfsaktionen multilateraler Gläubiger und Finanziers angesichts der akuten finanziellen Schieflage in Kiew bereits beschleunigt, wie eine Gruppe von G-7-Ländern zeige, die den Schuldendienst für die Ukraine bis mindestens 2023 ausgesetzt habe. Zudem hatten sie andere Gläubiger aufgefordert, dasselbe zu tun. Große Fonds wie Blackrock und Fidelity haben demnach Angaben der Kiewer Regierung schon zugestimmt.
In Kiew stützt man sich auch stark auf die inländische Finanzierung über Anleihen in lokaler Währung. Von den knapp 25 Milliarden Dollar, die sie bis zum 21. Juli 2022 aufgenommen hat, wurden umgerechnet 7,7 Milliarden Dollar über die Zentralbank sowie weitere 4,2 Milliarden Dollar über die Emission lokaler Staatsanleihen eingesammelt. Etwas mehr, knapp 13 Milliarden Dollar, wurden in der Zeit von internationalen Gebern wie den USA, der EU, Weltbank und Internationalem Währungsfonds zugeschossen. Weitere 20 Milliarden Dollar sind bereits zugesagt.
Die hohe Kreditfinanzierung spiegelt die angespannte wirtschaftliche und finanzielle Lage der Ukraine. Die Wirtschaftsleistung bricht dieses Jahr wohl um ein Drittel ein, die Steuereinnahmen sind ebenfalls gesunken. Ein übermäßig großer Anteil der Finanzierung werde deshalb durch Kredite gesichert, was mittelfristig ein Problem für die Staatsverschuldung darstellt.
Das Haushaltsdefizit wird nach einhelligen Schätzungen einen Rekordwert erreichen, die Staatsverschuldung sich auf etwa 90 Prozent fast verdoppeln. Die Inflation lag im Juni nahe 22 Prozent. Die Notenbank sucht den erwarteten Anstieg auf 30 Prozent mit rekordhohen Zinsen von 25 Prozent einzudämmen. Analysten wie die der Deutschen Bank und der Raiffeisenbank International stellen sich bereits auf weitere Zinserhöhungen ein.