THEO VAN GOGH NEU: DEBATTE – «Wenn der Staat beginnt, Sinn zu suchen, wird es gefährlich»: Uwe Tellkamp stellt das neue Buch von Thilo Sarrazin vor
Zu einem Schlagabtausch mit Schnittmengen geriet der gemeinsame Auftritt der beiden Autoren. Sarrazin sieht sich als lakonischer Diagnostiker, während Tellkamp dem Ernst der Lage seinen Zorn entgegenstellt und neue Bürgerbewegungen prophezeit. Alexander Kissler, Berlin 22.08.2022, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Schriftsteller Uwe Tellkamp sein Buch «Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens» in Berlin vor.
Am Ende dieser denkwürdigen Veranstaltung, die mit der «Laudatio auf einen Unbequemen» begonnen hatte,
stand eine seltsame Frage im Raum: Hat der Schriftsteller Uwe Tellkamp, zum Zweck der Lobrede aus Dresden nach Berlin gekommen, in den Räumen der Bundespressekonferenz gefordert, dass um seine sächsische Heimatstadt eine Mauer gebaut werde? Hatte er mit diesem Gedanken ironisch gespielt oder ihn fatalistisch ins Kalkül gezogen, angesichts deutscher Zustände, die in ihm, in Tellkamp, den Zorn aufsteigen lassen? Die Antwort führt mitten hinein in den Kern einer deutsch-deutschen Verbrüderung auf halber Strecke zwischen Tellkamp und Thilo Sarrazin, Anlass und Objekt einer poetisch mäandernden Laudatio.
Der Sachbuch- und der Romanautor, der West- und der Ostdeutsche haben jeweils eine deutlich siebenstellige Leserschar. Eine höhere Gesamtauflage passt derzeit an keinen Konferenztisch, sieht man von gewissen Jugendbuch- und Fantasy-Bestsellern ab. Insofern mangelt es ihnen weder an Zuspruch noch an Interesse. Dennoch kann es riskant sein, dem Autor von «Deutschland schafft sich ab», «Feindliche Übernahme» und nun «Die Vernunft und ihre Feinde» öffentlich allzu forsch beizuspringen. Erst recht nach seinem Ausschluss aus der SPD hält das bundesdeutsche Justemilieu einen hermeneutischen Sicherheitsabstand zum Euro-, Migrations- und Islamkritiker.
Nicht so Tellkamp. Der Sachse unterschied zwischen der «Anerkennung, ja Verehrung seiner Leser» und einem Zerrbild, das in der Öffentlichkeit zirkuliere. Sarrazin sei ein Aufklärer. Es gebe einen «durch Blödheit, Blindheit, Herdentrieb, aufmerksamkeitsökonomische Gier und Zwänge geschaffenen grotesken Abstand zwischen öffentlichem und privatem Bild eines Menschen».
Vom Baerbocken, Habecken und Scholzen
Gerade die Bereitschaft zur Selbstreflexion, zur Nüchternheit, zur subjektiven Zurücknahme widerspreche dem «Bild, das bestimmte Medien von Sarrazin zusammenschustern». An dieser Stelle, nach 8 von 18 monologischen Minuten, erhob Tellkamp zum ersten Mal die Stimme, die sich leise, schüchtern, zärtlich fast in den Raum am Schiffbauerdamm geschlichen hatte: «zusammenschustern!». Damit war der Ton gesetzt, das Temperament etabliert.
Fortan bestätigte Tellkamp das seinerseits über ihn zirkulierende Bild vom Knispelsachsen – vom Mann, der rechtschaffen ernst ist, weil er alles ernst nimmt und die Welt in Unwetter geraten sieht. Als Romancier freilich, der in seinem jüngsten Werk, «Der Schlaf in den Uhren», zwischen phantastischer, satirischer und realistischer Sprechweise balanciert, verpackte er den Ernst in grimmigen Witz und verballhornte die Handlungsweisen des führenden politischen Personals zu Verben eigener Art: Es werde in Deutschland gebaerbockt, gehabeckt, gefaesert, gemerzt, gelauterbacht und gescholzt.
Am schlimmsten sei das nach der grünen Aussenministerin benannte Baerbocken, es bedeute unter anderem, «die Windräder dafür zu bestrafen, dass sie sich drehten, wann und wie sie wollten, und die Lösung für ihre Unbotmässigkeit darin zu sehen, noch mehr Windräder zu bauen. Dann würde nämlich das Vorbild der anderen Windräder auf die noch in der Trotzphase befindlichen Windräder einwirken.» Weder Tellkamp noch Sarrazin sind Freunde der deutschen Energiepolitik.
Sarrazin mag in diesem Moment an das sechste und letzte Kapitel seines neuen Buches gedacht haben, «Zur ideologischen Prägung der Ampel-Regierung», in dem er «die logischen Brüche und offensichtlichen Inkonsistenzen der deutschen Energie- und Klimawende» als unvernünftig kritisierte. Doch der im thüringischen Gera geborene, im nordrhein-westfälischen Recklinghausen aufgewachsene ehemalige Berliner Finanzsenator kultivierte an diesem Mittag ein Rollenprofil zwischen Theo Lingen und Serenus Zeitblom.
Keine Idioten im Erzgebirge
An den Heiterkeitskünstler aus der filmischen Schwarz-Weiss-Ära erinnerte die Neigung zur trockenen Pointe: Es sei doch eine «verrückte Idee», durch freundliches aussenpolitisches Verhalten allen anderen Staaten ein freundliches Verhalten abzwingen zu wollen. An Thomas Manns Erzählerfigur aus dem «Doktor Faustus» gemahnte hingegen das umständliche Herleiten moralischer Unerschütterlichkeit.
Sarrazin will «das richtige Denken» vorführen und sich seine «geistige Zugänglichkeit für rationale Argumente» bewahren. Dazwischen verbergen sich kluge Einsichten wie jene, dass die Aufklärung dazu neige, ihre eigenen Voraussetzungen fortlaufend selbst abzuschaffen. Im Buch illustriert er diese Tendenz anhand des Kopftuchurteils des deutschen Bundesverfassungsgerichts.
Tellkamp wäre nicht Tellkamp, liesse er sich von einer weltanschaulichen Grundgeneigtheit scharfen Widerspruch im Detail verbieten. Er und Sarrazin teilen die Kritik an Gender-Sprache und Cancel-Culture, an linker Gleichheitsideologie und völkisch-nationalem Dünkel, an der Blauäugigkeit des Pazifismus und am Verrat des «kleinen Mannes» durch die SPD. Wenn Tellkamp erklärt, wer von drei grundlastfähigen Energien deren zwei abstelle, sei dann von der dritten – dem Gas – abhängig, ist er sich Sarrazins Nicken gewiss. Ebenso verhält es sich bei Tellkamps Zusammenfassung von Sarrazins Buch in einem Satz: «Wenn der Staat beginnt, Sinn zu suchen, wird es gefährlich.»
Anders stehen die Dinge in Sachen Corona und Strassenprotest. Sarrazin, der sich als «treuer Schüler Karl Poppers» bezeichnet, vertraut der Expertise der Virologen und versteht nicht, warum Menschen die Covid-19-Impfung verweigern. Sie sei auf jeden Fall weniger schlimm als Infektion und Erkrankung. Tellkamp, studierter Arzt, kontert: «Ich bin kein Impfgegner, aber ein Corona-Impfskeptiker.» Die Mittel verhinderten keine Ansteckung, nun drohe ein Impf-Abo. Auch könne er es nicht stehen lassen, wenn Sarrazin bezüglich der niedrigen Impfquote im Osten sage, es gebe dennoch «auch im Osterzgebirge keine 30 Prozent Idioten».
Wie hältst du’s mit dem Staat?
Da war Sarrazin bei Tellkamp an den Falschen geraten. «Das», beharrte der Dichter, «ist das, was die Leute auf die Strassen treibt: wenn von Staats wegen auf ihre Kinder zugegriffen wird», diese sich impfen lassen sollten. Die Menschen im Osten machten sich eben ihre Gedanken, «und ich bitte, das auch einmal zur Kenntnis zu nehmen». Finster schaute Tellkamp aus dem Fenster, stützte das Kinn auf die ineinander verschränkten Finger.
Die deutsch-deutsche Versöhnung blieb auf halber Strecke stecken, weil sich hier ein fundamentaler Graben auftat. Sarrazin war Staatsdiener, in einem durchaus emphatischen Sinn. Nichts, schreibt er in seinem neuen Buch, habe ihn mit mehr Genugtuung erfüllt als 2008 in seiner Zeit als Berliner Finanzsenator der «erste Haushaltsabschluss der Landesgeschichte ohne Nettoneuverschuldung». Die «Verbesserung der staatlichen Leistungsfähigkeit» sei ihm 35 Jahre lang ein Anliegen gewesen, in Berlin sei ihm das «brillant» gelungen – auch dies eine Vokabel, die Theo Lingen leicht von den Lippen gegangen wäre.
Uwe Tellkamp blieb, was er zu DDR-Zeiten war, ein Kritiker des Staates. Für Sarrazin ist der Staat «Agent derer, die die Macht haben», und daran findet der langjährige Beamte nichts auszusetzen. Für Tellkamp ist der Staat das Gegenüber der Freiheit, die dem Individuum tendenziell feindlich gesinnte Macht, abzulesen am «Turm» ebenso wie am «Schlaf in den Uhren». Tellkamp empfindet – man sah es in der Bundespressekonferenz – körperliche Qualen bei der Vorstellung, ein deutscher Staat könnte abermals parteiische Gesinnungen belohnen und Reden bestrafen.
Das richtige Denken
An dieser Stelle hat die Schlusspointe ihren Platz. Sie gebührt dem hadernden Poeten im Angesicht eines zunehmend friedfertigen Sachbuchautors. Sollten die gesellschaftlichen Krisen sich zuspitzen, prophezeit Tellkamp, «wird das Staatssystem für sich selbst überflüssig werden, und es wird die lokale Reorganisation einsetzen».
Es gebe dann Bürgerbewegungen von unten, die eine Reorganisation des politischen Betriebs vornähmen, im Gesundheits- und im Bildungswesen, bei der Stadtverwaltung, der Essens-, der Wasser- und der Benzinversorgung. Erfolgreiche Kommunen würden wachsen, erfolglose schrumpfen – «bis hin zur absurden Vorstellung, dass Dresden mit einem Landkreis zusammengeht und eine Mauer drum baut». Diese Überlegungen existierten.
So endete eine Veranstaltung, die im Einverständnis begann, mit dem strittigen Ausblick auf eine Dystopie, die als Verheissung schillerte. Ob der Dichter damit das vom Sachbuchautor eingeklagte richtige Denken auf seiner Seite hat, wird das Morgen zeigen.
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