THEO VAN GOGH NEU: „DAS WOHLSEIN VOR DEM TODE“ – Nach dem EZB-Entscheid : Welche Folgen hat die Zinswende?

Eine neue Ära beginnt: Die Europäische Zentralbank will jetzt endlich die Inflation bekämpfen. Doch der Erfolg ist ungewiss. Und die Nebenwirkungen sind unangenehm.

FAZ  12.6.2022 –

Es gibt in der Europäischen Zentralbank (EZB) eine gute Tradition. Einmal im Jahr findet das Treffen des EZB-Rates nicht in Frankfurt statt, sondern eine der 19 nationalen Notenbanken des Euroraumes lädt die übrigen Mitglieder des Rates in ihr Heimatland ein. Das war in Zeiten der Pandemie natürlich nicht möglich, aber am vergangenen Donnerstag ging es endlich wieder: Man traf sich in der „wunderschönen Stadt Amsterdam“, wie EZB-Präsidentin Christine Lagarde schwärmte. Und brach ohne viel Aufhebens mit einer anderen Tradition.

Eigentlich hatten sich solche auswärtigen Treffen stets dadurch ausgezeichnet, dass die Notenbanker dort kaum wichtige Beschlüsse fassten. Das war dieses Mal anders: In Amsterdam hat die EZB den lange erwarteten Ausstieg aus ihrer ultralockeren Geldpolitik offiziell angekündigt, was angesichts einer Inflationsrate von zuletzt 8,1 Prozent im Euroraum viele als bitter nötig erachten. Das umstrittene Kaufprogramm der Notenbank, über das die EZB zuletzt noch jeden Monat zusätzlich Staats- und Unternehmensanleihen im Wert von 20 Milliarden Euro kaufte, endet in diesem Monat. Dann ersetzt die EZB nur noch auslaufende Anleihen aus ihrem Bestand durch neue Papiere.

Leider besteht kein großer Anlass zu Optimismus

Es gab noch einen zweiten Beschluss: Im Juli wird die EZB erstmals seit 2011 wieder die Zinsen anheben. Wenn nicht noch Unvorhergesehenes geschieht, soll der Einlagezins, zu dem die Banken Geld bei der Notenbank parken und der derzeit bei minus 0,5 Prozent notiert, dann auf minus 0,25 Prozent steigen. Auch die übrigen Leitzinsen will man um diesen Prozentsatz erhöhen. Im September soll dann ein zweiter Zinsschritt erfolgen, womöglich gar um 0,5 Prozentpunkte. Erstmals seit 2014 wären die Leitzinsen im Euroraum damit wieder positiv. Lagarde, die im Umgang mit der Inflation bislang sehr zögerlich auftrat, unterstrich, wie ernst es die Zentralbank dieses Mal meint. Es gehe nicht um einzelne Schritte, man stehe „am Beginn einer Reise“. Und sie gab sich entschieden: „Die Inflation ist zu hoch. Wir werden sie auf mittlere Sicht auf unseren Zielwert von zwei Prozent zurückführen.“

Die Zinswende ist endlich da. Und sie wirft Fragen auf. Wird die neue Entschlossenheit tatsächlich reichen, um die Inflation in den Griff zu bekommen und ansonsten keine weiteren Schäden zu verursachen? Oder kann der Kampf gegen die Inflation am Ende nur um den Preis einer Rezession gewonnen werden? Droht der Wirtschaft also womöglich ein Crash? Das sind Fragen, die über Europa hinausreichen. Auch in den Vereinigten Staaten stellt man sie sich trotz mancher Unterschiede am Ende recht ähnlich. So viel sei an dieser Stelle schon verraten: Leider besteht kein großer Anlass zu Optimismus.

Volker Wieland, Finanzprofessor an der Frankfurter Goethe-Universität, hat seine Zweifel, ob ausreicht, was die EZB sich nun vorgenommen hat. Er sagt: „Eine proaktivere Politik, mit einer ersten Zinserhöhung in der jüngsten Sitzung oder der Ankündigung, bereits im Juli den Negativzins abzuschaffen, wäre meines Erachtens sinnvoller gewesen.“ Der Negativzins sei „völlig aus der Zeit gefallen“. Klaus Adam, Ökonomieprofessor an der Universität Mannheim, klingt ähnlich besorgt: „Ich bin skeptisch, ob die Beschlüsse bereits ausreichen, um die Inflationserwartungen unter Kontrolle zu bringen.“

Diese Erwartungen spielen in der Geldpolitik eine wichtige Rolle. Denn es ist unbestritten, dass die Notenbanken gegen den Preisanstieg von Waren und Dienstleistungen an sich erst einmal nur wenig unternehmen können – schon gar nicht, wenn es sich um höhere Energiepreise wie jetzt infolge des Ukrainekrieges handelt. Die EZB kann aber indirekt Einfluss auf das Ausgabeverhalten der Menschen nehmen. „Wer glaubt, die Inflation steige weiter, zieht Konsumentscheidungen vor, was den Preisdruck verstärkt“, sagt Wirtschaftsprofessor Adam. „Über eine Stabilisierung der Inflationserwartungen durch die Zentralbank lässt sich hingegen die Nachfrage dämpfen.“

Zugespitzt formuliert: Wenn alle glauben, die Teuerung sei ohnehin nicht zu bremsen, wird das Geld ausgegeben, als gäbe es kein Morgen. Vertrauen die Menschen stattdessen darauf, dass ihr Geld zumindest nicht an Wert verliert, geben sie es überlegter aus und sparen auch mehr. Dass ein leicht positiver Zinssatz, wie ihn die EZB jetzt plant, den Menschen das Gefühl gibt, die Inflation sei unter Kon­trolle, darf jedoch bezweifelt werden. Denn die realen Zinsen, also jene, die sich bei Berücksichtigung der Preissteigerungen ergeben, wären selbst nach den angekündigten Erhöhungen noch immer tief im negativen Bereich. Finanzprofessor Wieland sieht das kritisch: „Die reale Verzinsung ist weiterhin stark negativ und die Geldpolitik damit sehr expansiv.“ Man könnte auch sagen: Eine echte Zinswende ist das nicht.

Hoffnungen, die trügen

Üblicherweise haben Notenbanker die Hoffnung, dass die Inflation ein Stück weit von alleine zurückgeht, weil die Menschen deutlich weniger Güter nachfragen, je stärker ihre Kaufkraft erodiert. Zwar lässt sich an der ein oder anderen Stelle durchaus eine gewisse Kaufzurückhaltung beobachten – Spargel und Erdbeeren sind dieses Jahr zum Beispiel bei Weitem nicht so beliebt wie in anderen Jahren. Doch von Zurückhaltung in großem Stil ist keine Spur. Das hat auch mit den rekordhohen Ersparnissen in Höhe von fast 8 Billionen Euro zu tun, die die Deutschen in Zeiten der Pandemie angehäuft haben. Jetzt ist die Normalität weitestgehend zurückgekehrt, und die Ersparnis wird „nachfragewirksam“, wie die Ökonomen das nennen. Sprich: Nach mehr als zwei Jahren Pandemie holen die Menschen nach, worauf sie verzichten mussten – sie gehen ins Theater oder ins Restaurant und auf Reisen.

Und dann ist da noch das, was unter dem Stichwort „Lohn-Preis-Spirale“ Notenbanker immer ganz besonders besorgt: ein sich gewissermaßen selbst verstärkender Mechanismus, bei dem die Menschen ihren Arbeitgebern höhere Löhne abtrotzen, die Unternehmen ihre gestiegenen Kosten dann aber an die Kunden weitergeben, was wiederum höhere Lohnforderungen nach sich zieht. Nichts davon sei zu sehen, hatte es dazu lange von der EZB geheißen. Aber Finanzprofessor Wieland ist auch hier skeptisch: „Arbeitskräfte sind weiterhin in vielen Bereichen sehr knapp. Sie werden also Lohnforderungen vielerorts durchsetzen können. Solange die Nachfrage so stark bleibt wie erwartet, werden die Unternehmen diese Kostenanstiege weitgehend an ihre Kunden weiterreichen. Der Inflationsdruck ist also weiter da, selbst wenn die Energiepreise etwas zurückgehen sollten.“ Dabei ist auch von Bedeutung, dass es momentan noch wenig echte Inflationsgewinner gibt. Wer beispielsweise ein Haus abbezahlen muss, hat bei hoher Inflation zwar den Vorteil, dass seine Schulden an Wert verlieren. Aber stärker wahrnehmen dürfte er zurzeit, dass er sich von seinem Gehalt weniger im Supermarkt kaufen kann. Mit Zurückhaltung in Lohnverhandlungen ist deshalb nicht zu rechnen.

Weiche oder harte Landung?

Wenn die Inflation sich also trotz der ersten Schritte zu einer Normalisierung der Geldpolitik nicht ausreichend bremsen ließe, müsste die EZB zu härteren Maßnahmen greifen. Sie müsste die Zinsen schneller erhöhen. Die Folgen für die Wirtschaft wären dann deutlich negativ. Die Amerikaner und Briten haben dafür, wie für fast alle Ereignisse in der Finanzwelt, plastische Begriffe: Sie unterscheiden zwischen „soft landing“ und „hard lan­ding“, also zwischen einer weichen und einer harten Landung.

Die weiche Landung ist der Idealfall, in dem wenige Maßnahmen der Notenbanken ausreichen, um die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Die Wirtschaft wird dabei nicht allzu stark geschwächt. Leider ist die harte Landung der Normalfall, wie der Ökonom Larry Summers, einst Berater des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama, in einer aktuellen Untersuchung nachgewiesen hat. Darin hält er fest: Seit dem Jahr 1955 habe es in Amerika nie ein Quartal mit einer Inflation von mehr als 4 Prozent und einer Arbeitslosenrate von weniger als 5 Prozent gegeben, auf das nicht innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Rezession gefolgt sei. Das ist genau der Ausgangspunkt, an dem sich Amerika gerade befindet. Und auch der Euroraum nähert sich ihm mit einer historisch niedrigen Arbeitslosenquote von sechs Prozent zumindest an. Unter solchen Bedingungen, schreibt Summers, sei die Wahrscheinlichkeit gering, das Inflationsproblem ohne ein deutliches Verlangsamen der wirtschaftlichen Aktivität zu lösen. „Die Chance auf eine sanfte Landung ist dann sehr niedrig.“

Zwar lässt sich der amerikanische Fall nicht eins zu eins auf Europa übertragen. Denn in Amerika wirken etwas andere Kräfte auf die Inflation ein als in Europa. Die Vereinigten Staaten erleben vor allem einen Nachfrageboom der Verbraucher, die die Pandemie endlich hinter sich lassen wollen. In Europa spielen dagegen stärker die höheren Energiepreise infolge des Kriegs gegen die Ukraine eine Rolle und die Lieferkettenprobleme infolge des langen Lockdowns in China.

Die Angst vor dem “Hurrikan“

Aber die Überlegungen von Summers zeigen doch, worauf sich auch die Menschen hierzulande im schlechtesten Fall einstellen müssten: auf steigende Finanzierungskosten für Unternehmen und höhere Kreditkosten für Privatleute. Auf schlechtere Stimmung. Und als Resultat daraus auf einen Einbruch der Wirtschaftsleistung. Dann wäre zwar die Inflation wieder unter Kontrolle, weil dann die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen zurückgeht. Aber eben um den Preis einer Rezession. So schlimm muss es nicht kommen: Aber man versteht angesichts solcher Aussichten, wieso einflussreiche amerikanische Banker wie Jamie Dimon von der Großbank J.P. Morgan warnen, der Wirtschaft stehe ein „Hurrikan“ bevor. Die bittere Wahrheit lautet: Er wäre mit Sicherheit auch in Europa zu spüren.

Die Inflation deswegen gar nicht zu bekämpfen ist aber auch keine Option, man schaue nur auf das erschreckende Beispiel der Türkei mit Teuerungsraten von mehr als 70 Prozent. Eine bessere Alternative für die EZB wäre es allerdings gewesen, früher zu handeln und vor allem entschlossener aufzutreten. Das Phänomen dürfte manchem noch aus der Zeit der Lockdowns bekannt sein: Wenn Regierungen nur stark genug den Eindruck vermittelten, sie würden handeln, schränkten die Menschen manchmal ganz ohne weitere Beschlüsse ihre sozialen Kontakte von sich aus ein. Hätte die EZB frühzeitig gezeigt, dass sie die Inflationssorgen ernster nimmt, hätte sie es jetzt leichter.

Lagarde hat am Donnerstag von einer Reise gesprochen. Es klang ein bisschen so, als würde sie von einer gut organisierten Pauschalreise reden, bei der die Reiseleitung stets alles im Griff hat. In Wahrheit wird es wohl eher eine Abenteuertour mit ungewissem Ausgang.