THEO VAN GOGH HISTORY: Kolonialismusdebatte – Schuldspruch über die Vergangenheit  (Lesenswerter langer Diskussionsbeitrag von Prof. Egon Flaig zur auf den Westen fokussierten postkolonialen Schulddebatte, die andere (nicht-westliche) historische Verbrechen (wie die arabische oder afrikanische Sklaverei) gerne ausblendet.)

  • Von Egon Flaig  FAZ – 11.10.2022-7 – VORBILD WAR DIE SHOA

Die postkoloniale Debatte leidet unter einer dramatischen Blickverzerrung. Die Forderung nach historischer Gerechtigkeit muss sich nach allen Seiten richten. Damit wird Wiedergutmachung zum illusorischen Projekt. Ein Gastbeitrag.

Die „Cancel Culture“ hat berühmte Vorbilder im futuristischen Abräumen. Walter Benjamin hielt den definitiven Verlust von Kulturgütern für ein geringeres Übel als deren falscher Gebrauch. Eine „Funktion der politischen Utopie“ sei es daher, „den Sektor des Zerstörungswürdigen abzuleuchten“. Zerstören als Präludium zur Erlösung. Die jetzige „Cancel Culture“ gründet auf der „historischen Gerechtigkeit“. Nicht die historische Fachdisziplin hat dieses Schlagwort ge­prägt. Sein Ursprung ist außerwissenschaftlich. Seinen Diskurswert besorgten Therapeuten, Theologen, Aktivisten und Anwälte. Seinen medialen Kurswert be­zieht es aus seiner appellativen Kraft, Vergangenes schuldig zu sprechen und an die Gegenwart Ansprüche zu stellen. Nichts bezeichnet den intellektuellen Zustand der Geschichtswissenschaften deutlicher als ihre Kapitulation vor diesem Kampfbegriff.

Besieht man diesen Diskurs, dann stechen drei Merkmale ins Auge: Erstens zielt er auf die „Wiedergutmachung“ von „historischem Unrecht“ durch die Nachfahren der „Täter“.

Zweitens hat der Umgang mit der Schoah zum Vorbild gedient. So beauftragte 1992 die „Organization of African Unity“ (OAU) eine „Gruppe eminenter Personen“, sie solle „die Modalitäten und Strategien erkunden für eine afrikanische Kampagne zur Restituierung, ähnlich der Entschädigung, die Deutschland an Israel und die Überlebenden des Nazi-Holocausts gezahlt hat“. Drittens streben westliche Befürworter nach Verbrüderung der Menschheit, gewonnen aus der „Erlösung der Vergangenheit“.

Diese Idee von Hermann Lotze hatte sich im apokalyptischen Extremismus der deutschen Zwischenkriegszeit pseudoreligiös angereichert, etwa bei Heidegger und bei Benjamin, und hat dazu gedient, die Geschichte der Menschheit umzuperspektivieren, um ihr die dostojewskijsche „Allversöhnung“ als Ziel zu stecken.