THEO VAN GOGH GROSSE DEPRESSION UNDER THE PRIDE FLAG: Bemerkenswert, weil viele Risikofaktoren in den letzten Jahren abgenommen haben. Unter amerikanischen Jugendlichen war der Alkoholkonsum in den letzten dreissig Jahren nie so niedrig wie heute; auch das Zigarettenrauchen ist an den Highschools fast verschwunden
Bei jungen Amerikanern grassieren Angst und Hoffnungslosigkeit
Die Zunahme von psychischen Störungen und Suiziden unter Teenagern in den USA stellt die Fachleute vor Rätsel. Die Pandemie und soziale Netzwerke wirken als Verstärker, reichen aber als Erklärung nicht aus.
David Signer, Chicago 08.08.2022, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG – Psychische Probleme, Selbstverletzungen und Suizide nehmen unter amerikanischen Jugendlichen und Kindern dramatisch zu.
2019 litten 13 Prozent der Adoleszenten an Depressionen; das waren 60 Prozent mehr als 2007. Dieser Anstieg schlägt sich auch in der Zahl der Jugendlichen nieder, die wegen affektiver Störungen, Angstzuständen oder Selbstverletzungen in die Notfallaufnahme eingeliefert wurden. Laut den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) nahmen die Suizide unter den 10- bis 24-Jährigen im selben Zeitraum ebenfalls um etwa 60 Prozent zu, nachdem die Häufigkeit vorher jahrelang unverändert gewesen war.
Depressionen unter amerikanischen Teenagern nehmen stark zu
Anteil der 12- bis 17-Jährigen mit einer schweren depressiven Episode im jeweiligen Jahr, in Prozent
Mehr junge Amerikaner nehmen sich das Leben
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Junge aus allen Bevölkerungsschichten betroffen
Im Dezember letzten Jahres warnte der amerikanische Surgeon General, der Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, vor einer verheerenden Krise, und verschiedene Ärztevereinigungen und grosse Spitäler sprachen von einem nationalen Notstand, auch angesichts der mangelnden Behandlungsangebote und Therapieplätze. Das amerikanische Gesundheitssystem ist teuer, unerschwingliche Behandlungen sind vor allem für die unteren Bevölkerungsschichten ein Problem, und das gilt in verschärftem Masse für psychiatrische und psychologische Hilfe.
Bemerkenswert ist allerdings, dass der Anstieg psychischer Probleme Heranwachsende aus allen Bevölkerungskreisen betrifft, unabhängig von der sozioökonomischen oder ethnischen Herkunft und unabhängig davon, ob sie in der Grossstadt oder auf dem Land wohnen. Lange war es statistisch belegt, dass Afroamerikaner weniger Suizide begehen als Weisse. Aber inzwischen zeichnet sich eine Angleichung ab: Unter jungen Schwarzen nehmen die Zahlen zu, bei Kindern zwischen 5 und 12 Jahren ist die Rate sogar doppelt so hoch wie bei weissen Gleichaltrigen.
Es gibt noch einen Faktor, bei dem die Unterschiede ins Auge springen: das Geschlecht. Mädchen verletzen sich häufiger selbst, und die Zahlen haben in den letzten zehn Jahren noch mehr zugenommen als unter Knaben. Dasselbe gilt für Depressionen und Suizidalität. Hier hat sich allerdings ein altbekanntes Paradox noch verstärkt: Mädchen und Frauen leiden häufiger unter Depressionen, ziehen häufiger Suizid in Betracht und verüben häufiger entsprechende Versuche, aber letztlich sind Selbsttötungen unter Männern häufiger.
Die Pandemie spielt eine Rolle
Es gibt starke Hinweise, dass das Problem nicht auf die USA beschränkt ist, sondern ebenso Europa und auch die Schweiz betrifft. Diese weite Verbreitung macht die Analyse des Trends schwierig; die Ursachen können nicht allein in den Besonderheiten der amerikanischen Gesundheitsversorgung liegen.
Eine naheliegende Erklärung ist das Coronavirus, das Junge nicht physisch, aber psychisch besonders hart traf. Zwar begann die Zunahme psychischer Probleme unter Jugendlichen schon vor dem Ausbruch der Pandemie, aber sie verstärkte den Trend. Welcher Aspekt allerdings den Ausschlag gab, ist nicht klar. So gibt es zum Beispiel keine eindeutige Korrelation zwischen Lockdowns und schwerer psychischer Belastung.
Der Konsum von Social Media
Sanjay Dharmapuri ist Psychologe, Psychiater und Chefarzt am Hartgrove Hospital sowie am Garfield Park Behavioral Hospital in Chicago. Für Jugendliche bestehe das Drama von Covid-19 darin, dass man in diesem Alter nichts anderes wolle als weg vom Elternhaus und in die Welt hinaus, erklärt er. Durch die Pandemie seien sie in die Familie zurückgeworfen worden. Zudem sei man in diesem Alter naturgemäss ungeduldig.
«Für viele Junge war der Lockdown wie das Ende der Welt», sagt Dharmapuri. Er arbeitet vor allem mit Angehörigen der sozialen Unterschicht. Für diese machten sich die pandemiebedingten Geldprobleme und die Doppelbelastung durch Beruf und Kinderbetreuung während der Schliessung der Schulen besonders bemerkbar. Der Mediziner fragt sich auch, welche Auswirkungen das Maskentragen auf Babys und Kleinkinder hatte, da Lernen in diesem Alter vor allem über affektiven und sozialen Austausch stattfinde.
Oft wird zudem auf den übermässigen Konsum von Social Media verwiesen. Dharmapuri ist aber skeptisch, ob sich die psychischen Probleme auch darauf zurückführen lassen. «Es gibt in der Forschung keine Belege für eine eindeutige Kausalität zwischen Social-Media-Konsum und psychischen Störungen», sagt er. Hingegen gebe es sekundäre Faktoren, die mit der Pandemie und der Zeit am Bildschirm zu tun hätten und sich auf einen sowieso schon gefährdeten Jugendlichen schädlich auswirken könnten: «Die soziale Distanz, Isolation, Einsamkeit, das Fehlen von direkten Kontakten zu anderen Menschen und der Mangel an realen Erlebnissen können vulnerable Adoleszente zusätzlich destabilisieren.»
Die Stigmatisierung psychischer Krankheiten
Dharmapuri betont jedoch, dass schwere psychische Störungen meist auch eine biologisch-genetische Basis hätten. Wenn eine kollektive Krisenzeit wie die Pandemie bei einem Individuum zu einer Psychose führt, gab es höchstwahrscheinlich bereits eine Prädisposition. Es wäre also falsch, allein auf die äusseren Gegebenheiten zu fokussieren.
Er weist auch darauf hin, dass die Psychiatrie und psychische Störungen in den USA lange stigmatisiert waren: «Psychiater galten bis vor kurzem bei vielen nicht als richtige Ärzte. Das zeigt natürlich auch, dass psychische Probleme wenig ernst genommen werden.» Der Mangel an Institutionen und Hilfsangeboten sei eklatant, was sich zum Beispiel in langen Wartezeiten für Therapien niederschlage. Allerdings könne die Zunahme an dokumentierten Fällen von Störungen im Jugendalter zumindest zum Teil auch mit der sinkenden Hemmschwelle für die Hilfesuche zusammenhängen. In diesem Sinne wäre sie sogar positiv zu werten.
Weniger Alkohol, Tabak, Drogen und Sex
Die Zunahme der juvenilen Störungen ist auch deshalb bemerkenswert, weil viele Risikofaktoren in den letzten Jahren abgenommen haben. Unter amerikanischen Jugendlichen war der Alkoholkonsum in den letzten dreissig Jahren nie so niedrig wie heute; auch das Zigarettenrauchen ist an den Highschools fast verschwunden. Der Marihuanakonsum nahm in den letzten Jahren zwar zu, während der Pandemie wurde aber viel weniger gekifft.
In der Gesamtbevölkerung gab es noch nie so viele Todesfälle wegen Opioid-Missbrauchs wie im letzten Jahr – das gilt jedoch nicht für Teenager: Der Konsum von Oxycontin und anderen starken Opioiden nimmt unter den Jungen seit Jahren ab. Sie haben auch weniger Sex, und es gibt weniger Teenagerschwangerschaften. Unter all den «Lastern» nahm nur die mit Smartphones, Tablets, Computern und Game-Konsolen verbrachte Zeit deutlich zu.
Es ist schwierig, all diese Faktoren zusammenzudenken, und es ist wohl auch ein Zeichen für die von Dharmapuri erwähnte Geringschätzung von Psychiatrie und Psychologie, dass die Forschung zu diesen Themen fragmentarisch ist. Aber man kann festhalten: Nicht die Pandemie und der damit zusammenhängende verstärkte Konsum von Social Media per se sind entscheidend, sondern vielmehr das, was dadurch ersetzt wird: reales Sozialleben, echte Freundschaften, Liebesbeziehungen, Sport und Schlaf (die Forschungen verweisen häufig auf Schlafmangel und Schlaflosigkeit in Verbindung mit psychischen Problemen).
Leben im virtuellen, abgeschotteten Raum
Rauchen, Trinken, Drogenkonsum und Sex nehmen bei Jugendlichen auch einfach deshalb ab, weil sie durchschnittlich fünf Stunden am Tag allein vor einem Bildschirm verbringen. Damit vermeiden sie Risiken, aber sie verpassen auch etwas. Ein Beispiel für die Verschiebung in den virtuellen Raum ist das Mobbing. Das klassische Mobbing mit Hänseleien und Prügeleien auf dem Pausenplatz geht zurück, dafür nimmt das «shaming» auf Instagram und anderen Plattformen vor allem unter Mädchen zu. Es ist ein unsichtbares und einsames Mobbing, das nicht von Lehrpersonen unterbunden werden kann.
Zudem werden die Sorgen vieler amerikanischer Jugendlicher verstärkt durch die immer höher werdenden Anforderungen beim Übertritt ins College. Sie sind im Vergleich zu früheren Generationen überbehütet, beschützt und wenig äusseren Gefahren ausgesetzt, aber enormem, wenn auch wenig greifbarem Stress.
Kurz: Von aussen wirken die Jugendlichen so brav wie kaum je zuvor. Innen sieht es anders aus. Fast könnte man meinen, es handle sich um ein Nullsummenspiel: Sie richten in der Aussenwelt weniger Chaos an, dafür herrscht innerpsychisch umso mehr Durcheinander. Dharmapuri sagt zu den Angststörungen: «Man darf sich nichts vormachen: Die Angst kann man nicht ausrotten, sie gehört zu unserer DNA. Seit wir existieren, kämpfen wir ums Überleben.» Vielleicht müsse man, um dem inneren Druck und der nach innen gerichteten Zerstörung entgegenzuwirken, wieder etwas mehr Wildheit, Rebellion und Chaos in der äusseren, realen Umwelt der Heranwachsenden zulassen, meint er.
Das Thema hat inzwischen auch die Politik erreicht. Präsident Joe Biden räumte der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen einen prominenten Platz ein in seiner Rede zur Lage der Nation Anfang März und kündigte einen nationalen Strategieplan an. Bemerkenswert ist, dass er damit für einmal auch die Republikaner auf seiner Seite hat. Unter ihnen führen nämlich viele die psychischen Probleme der Jungen an, wenn es um die immer wieder von Männern dieser Altersgruppe verübten Schusswaffenmassaker geht. «Das Problem sind nicht die Waffen, sondern die fehlende psychologische Hilfe», lautet ihr Credo. Bleibt zu hoffen, dass der unerwartete Zuspruch von der Waffenlobby tatsächlich zu mehr Hilfe für gefährdete Jugendliche führt.