THEO VAN GOGH : EU FÖRDERGELDER GINGEN & GEHEN AN DIE MAFIA

Prozess in Messina : Mehr als 660 Jahre Gefängnis für 91 Mafiosi

  • Von Matthias Rüb, FAZ 2.11.2022-In Messina ist einer der größten Prozesse gegen die sizilianische Cosa Nostra zu Ende gegangen. Die Verurteilten haben unter anderem EU-Fördergelder erschlichen.

Nach gut anderthalb Jahren Dauer ist am Dienstag in Patti nahe Messina der größte Mafiaprozess gegen die sizilianische Cosa Nostra seit Jahrzehnten zu Ende gegangen. Von den 101 Angeklagten wurden in dem Gerichtsbunker 91 Personen wegen Delikten wie Betrug, Erpressung, Urkundenfälschung, Gründung fiktiver Firmen und Veruntreuung von EU-Geldern sowie Rauschgifthandel zu insgesamt mehr als 660 Jahren Gefängnis verurteilt. Barmittel und Liegenschaften im Wert von mehr als vier Millionen Euro wurden beschlagnahmt. Zehn Angeklagte wurden freigesprochen. Die Hauptangeklagten in dem Maxiprozess, die Bosse der Cosa-Nostra-Clans der Batanesi und der Bontempo Scavo, wurden zu 30 Jahren beziehungsweise 23 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Die Verlesung der Urteile durch den Vorsitzenden Richter Ugo Scavuzzo und dessen zwei Beisitzer nahm mehr als eine Stunde in Anspruch.

Die „Weidenmafia“

Nach gut vier Jahre dauernden Ermittlungen der Carabinieri, der Finanzpolizei und der Anti-Mafia-Behörden unter Führung des damaligen Chefstaatsanwalts von Messina, Maurizio De Lucia, waren bei einer Großrazzia im Januar 2020 im Hinterland der Hafenstadt Messina im Nordosten Siziliens 48 Personen verhaftet und weitere 46 Verdächtigte unter Hausarrest gestellt worden.

An der Razzia gegen die „mafia dei pascoli“ (Mafia der Weiden) waren rund 600 Beamte beteiligt. Nach Überzeugung des Gerichts haben die beiden Clans von 2010 bis 2017 mehr als 5,5 Millionen Euro EU-Subventionen zur Förderung der Landwirtschaft erschlichen. Dabei deklarierten sie Gebiete als Acker- und Weideland, obwohl dort gar keine Landwirtschaft betrieben wurde. Zu dem fiktiven Agrarland in den nordost­sizilianischen Nebrodi-Bergen gehörten Territorien, die in Wahrheit im Besitz der katholischen Kirche waren oder von der amerikanischen Kriegsmarine zur Satellitenkommunikation genutzt wurden.

Vom Clankampf zur Zusammenarbeit

Die Clans der Batanesi und der Bontempo Scavo waren lange verfeindet, blutige Verteilungskämpfe in den Achtziger- und Neunzigerjahren hatten mehr als 40 Menschenleben gefordert. Zuletzt stellten die Clans ihre Kämpfe ein, um ge­meinsam landwirtschaftliche Nutzflächen zu erwerben oder zum Schein zu kaufen. Für diese Flächen beantragten und bekamen sie über Scheinfirmen sowie mit gefälschten Dokumenten die Fördergelder. In den Betrug waren zahlreiche Vertreter von Behörden und örtliche Politiker ver­wickelt. Zu den Verurteilten gehört auch der Bürgermeister von Tortorici, der Heimatstadt des Batanesi-Clans: Emanuele Galati Sardo, 2019 in sein Amt gewählt, muss für sechs Jahre und zwei Monate ins Gefängnis.

Das Verfahren habe gezeigt, dass „die moderne Mafia neben Erpressung und Rauschgifthandel weit anspruchsvollere Formen der Einnahmengenerierung entwickelt hat, indem sie etwa durch Betrug öffentliche Mittel zur Entwicklung Siziliens abgreift“, sagte Staatsanwalt De Lucia nach dem Urteilsspruch. De Lucia ist inzwischen zum Chefstaatsanwalt von Palermo er­nannt worden und steht wie alle bedeutenden Anti-Mafia-Ermittler rund um die Uhr unter Polizeischutz.

Das Ende der Mafia in den Nebrodi-Bergen?

Der frühere Präsident des 86 000 Hektar großen regionalen Naturschutzgebiets „Parco dei Nebrodi“, Giuseppe Antoci, zeigte sich nach dem Urteilsspruch zuversichtlich, dass die Cosa Nostra nun aus den Nebrodi-Bergen vertrieben worden sei. Antoci hatte durchgesetzt, dass in der Region auch bei Verkäufen von kleinen Parzellen Kontrollen der Anti-Mafia-Behörden vorgenommen werden müssen. Das „Antoci-Protokoll“ findet seit 2015 überall auf Sizilien und seit 2017 in ganz Italien bei Landverkäufen Anwendung. Einen Anschlag der Cosa Nostra auf sein gepanzertes Fahrzeug überlebte Antoci im Mai 2016 unverletzt. Seither wird auch er ständig von Leibwächtern geschützt.

Die Nebrodi-Berge seien wegen der blutigen Herrschaft der Cosa Nostra ehedem „das Land der toten Seelen“ genannt worden, sagte Antoci nach dem Urteil vom Dienstag. Vor allem kleine Viehzüchter und Landwirte in den Nebrodi-Bergen hätten den Erpressungen und Einschüchterungen der Mafia nichts entgegensetzen können. „Gefängnisstrafen von mehr als 600 Jahren sind ein sehr starkes Signal“, sagte Antoci und zeigte sich zuversichtlich, dass die Region „nun befreit ist“. Der Prozess und das Urteil hätten zudem „Signalwirkung für das ganze Land“.

Italien bekommt gut 191 Milliarden Euro aus dem postpandemischen Wiederaufbaufonds der Europäischen Union, mehr als jeder andere EU-Staat. Die Zuteilung der Mittel verläuft auch deshalb schleppend, weil die Anti-Mafia-Behörden vor der Auszahlung der Gelder zahlreiche Kontrollen vornehmen müssen.

Die sizilianische Cosa Nostra gilt als älteste Mafiaorganisation und wird von wenigen Familienclans kontrolliert. Die Gesamtzahl der Mitglieder der Cosa-Nostra-Clans wird derzeit auf rund 5000 geschätzt. Inzwischen gilt die ’Ndrangheta aus Kalabrien als die gefährlichste und einflussreichste Mafiaorganisation, sie hat sich in den vergangenen Jahren in ganz Italien sowie in verschiedenen euro­päischen Ländern festgesetzt. In Neapel sowie in der gesamten Region Kampanien ist die Camorra aktiv, in Apulien die Sacra Corona Unita. Nach wie vor gilt die Erpressung von Schutzgeldern von lokalen Unternehmen als eine der Haupteinnahmequellen der Mafiaorganisationen.