THEO VAN GOGH: DIE NATO GEHÖRT SELENSKY / SELENSKY GEHÖRT DER NATO! – Anders Fogh Rasmussen : „Wir müssen Putins Kosten steigern“
- Von Konrad Schuller FAZ –Aktualisiert am 17.12.2022-10:55 – Anders Fogh Rasmussen war NATO-Generalsekretär. Jetzt berät er den ukrainischen Präsidenten und erklärt, welche Sicherheitsgarantien die Ukraine braucht. Und er verrät, was die Amerikaner an Berlin satthaben.
Herr Rasmussen, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Amerika, Deutschland, Frankreich und andere Verbündete aufgefordert, noch in diesem Jahr der Ukraine bindende Sicherheitsgarantien zu geben. Sie haben als früherer NATO-Generalsekretär dieses Konzept eines „Kiewer Sicherheitspaktes“ zusammen mit seinem Kanzleichef Andrij Jermak entwickelt. Was müssten die Verbündeten in so einem Vertrag versprechen?
Eine Gruppe von Garantiemächten muss sich verpflichten, der Ukraine die Fähigkeit zur Selbstverteidigung aus eigener Kraft zu geben. Damit sollen die Fehler von 1994 vermieden werden, als die Ukraine im berüchtigten Budapester Memorandum Garantien von Amerika, Großbritannien und Russland bekam, um im Gegenzug die Atomwaffen aufzugeben, welche sie von der Sowjetunion geerbt hatte. Die Garantiemächte versprachen damals, die Ukraine nicht anzugreifen. Man kann das eine „negative Sicherheitsgarantie“ nennen. Russland hat dieses Versprechen folgenlos brechen können. Deshalb sieht der Kiewer Sicherheitspakt jetzt positive Garantien auf vier Gebieten vor: Erstens sollen die Streitkräfte der Ukraine befähigt werden, jeden künftigen russischen Angriff abzuwehren. Zweitens sollen die Geheimdienste stärker zusammenarbeiten. Drittens sollen gemeinsame Übungen unter der Fahne der EU und der NATO abgehalten werden – auch auf ukrainischem Boden. Und viertens soll eine starke ukrainische Wehrwirtschaft entstehen.
Sollte jede Garantiemacht sich zu Militärhilfe in klar festgelegtem Umfang verpflichten?
Es wäre schwer, sich im Voraus auf Zahlen festzulegen. Der Kiewer Sicherheitspakt ließe sich vielleicht am ehesten mit dem „Modell Israel“ vergleichen. Israel und Amerika haben vereinbart, dass die Vereinigten Staaten alles geben, was Israel braucht, um sich aus eigener Kraft zu verteidigen. Es gibt hier keine festen Zahlen, aber eine klare politische Verpflichtung. Ich stelle mir vor, Abmachungen über fünf oder zehn Jahre zu treffen, die sicherstellen, dass die Ukraine alles hat, was sie braucht, um jeden künftigen russischen Angriff abzuwehren.
Wir wissen allerdings nicht, ob die Ukraine in fünf bis zehn Jahren noch existieren wird, wenn Hilfe nicht viel schneller kommt. Wäre eine Sicherheitsgarantie ohne klar definierte kurzfristige Verpflichtungen nicht ein zahnloser Tiger?
Natürlich wäre sie das. Und deshalb kann der Kiewer Sicherheitspakt sofortige Waffenlieferungen auch auf keine Weise ersetzen. Im Gegenteil. Ich werbe dafür, der Ukraine sehr schnell mehr Waffen zu liefern. Sie braucht sie dringend. Der Kiewer Sicherheitspakt soll das ergänzen. Er ist eine langfristige Selbstverpflichtung der Garantiemächte, die dem ukrainischen Volk Zuversicht geben soll. Das gibt den Menschen Kraft, an der Zukunft ihres Landes mitzuwirken, und es ermutigt Flüchtlinge, zurückzukehren. Der Pakt wäre zugleich ein wichtiges Signal an Putin. Er macht ihm klar: Wir sind auf Dauer hier. Wir bleiben, solange es nötig ist, und wir lassen nicht zu, dass du diesen Krieg gewinnst. Deshalb ist es auch so wichtig, den Pakt möglichst jetzt gleich zu unterzeichnen. Er sollte nicht von einer Friedensvereinbarung abhängen. Wenn wir ihn davon abhängig machen, würden wir Putin einen weiteren Grund geben, den Krieg schon allein deswegen fortzusetzen, weil er damit Sicherheitsgarantien verhindern könnte.
Unlängst haben Sie Deutschland aufgefordert, der Ukraine Leopard-2-Panzer zu liefern. Sie waren vor Kurzem in Amerika. Was haben Sie dort zu diesem Thema gehört?
Die Amerikaner unterstützen diesen Vorschlag vollständig. Sowohl die Regierung als auch der Kongress wollen, dass Deutschland den Leopard 2 liefert und anderen europäischen Ländern, die diesen Panzer nutzen, erlaubt, ihn ebenfalls zu liefern. Die Leoparden sind für den Krieg in der Ukraine gut geeignet, und wir haben in Europa die Infrastruktur, sie notfalls zu reparieren.
Hören Sie aus allen Teilen der amerikanischen Regierung Unterstützung für deutsche Panzerlieferungen? Manche sagen ja, es gebe da Differenzen zwischen dem Außenministerium, das liefern möchte, und dem Weißen Haus, das angeblich zurückhaltender ist.
Ich hatte Gespräche im Weißen Haus, im Außenministerium und im Pentagon. Alle Teile der amerikanischen Regierung unterstützen nachdrücklich den Vorschlag, dass Deutschland Leopard-2-Panzer liefert. In der amerikanischen Regierung haben sie es satt, dass die deutsche Regierung Amerika vorschiebt, um für verweigerte Panzerlieferungen einen Vorwand zu haben. Das ist einfach nicht wahr. Diese Panzer sind nötig, um erobertes ukrainisches Gebiet zurückzugewinnen. Ich frage mich: Warum zögert die deutsche Regierung?
Haben Sie eine Antwort auf diese Frage?
Nein.
Wäre es unfair, der Bundesregierung zu unterstellen, dass sie die Ukrainer mit Absicht knapphält? Damit Kiew gezwungen ist, einem schnellen Waffenstillstand gegen seinen Willen zuzustimmen, auch wenn Russland dann einen Teil seiner Eroberungen behielte?
Wenn das so wäre, wäre es moralisch unhaltbar. Ich habe so etwas allerdings nie gehört. Vielmehr sagen alle Alliierten, dass die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt werden muss. Dass die international anerkannten Grenzen wieder hergestellt werden müssen und dass Russland die Krim und das Donbass zurückgeben muss. Wir würden ein extrem gefährliches Signal geben, wenn wir Putin seine Eroberungen lassen würden. Xi Jinping würde das als Freifahrtschein zur Einnahme Taiwans interpretieren. Ich hoffe deshalb, dass in Berlin nicht so gedacht wird, wie Sie das angedeutet haben.
Sie sagen, der künftige Sicherheitspakt solle auch gemeinsame Militärübungen auf ukrainischem Boden vorsehen. Sollen die sofort möglich werden, also schon bevor der Krieg aufhört?
Ich glaube, das wäre kein kluger Gebrauch unserer Ressourcen. Übungen auf dem Territorium der Alliierten wären im Augenblick effizienter. Wir sollten uns darauf konzentrieren, Waffen zu liefern: Langstreckengeschosse und Flugabwehr zum Beispiel.
Langstreckenwaffen könnten die Flugplätze, Abschussvorrichtungen und Schiffe treffen, von denen Russland seine Bombenangriffe auf die ukrainische Bevölkerung startet. Putin hat allerdings gerade erst gesagt, er denke über präventive Atomschläge nach. Wie ernst nehmen Sie die Gefahr einer nuklearen Eskalation?
Es ist Putin, der eskaliert. Seit dem ersten Oktober greift er zivile Infrastruktur an. Wir müssen deshalb unsere Strategie anpassen und den Ukrainern Waffen geben, mit denen sie seine Startrampen und Stützpunkte treffen können. Wir müssen Putins Kosten steigern. Wir müssen ihm zeigen, dass er nicht straflos Zivilbevölkerung angreifen und Kriegsverbrechen verüben kann. Außerdem: Wir dürfen nuklearer Erpressung niemals nachgeben. Wer das tut, ist dazu verdammt, in Sklaverei zu leben – unter der Knute des nuklearen Herren. Das Risiko eines Atomschlages ist sowieso nicht akut. Das russische Militär weiß, dass es davon keinen Vorteil hätte. Der Rest der Welt würde sich gegen Russland wenden. Und vor allem: Die russische Militärführung hat klare Signale darüber bekommen, welche verheerenden Wirkungen es hätte, wenn Amerika und andere Alliierte nach einem russischen Atomschlag gegen die Ukraine zurückschlagen würden. Die Folgen wären für die russischen Streitkräfte im Schwarzen Meer und in der Ukraine katastrophal, und die Russen wissen das genau.
Wie ist der ukrainische Vorschlag des Kiewer Sicherheitspakts von den potentiellen Garantiemächten aufgenommen worden?
Ich bekomme positive Signale. Ich war zuletzt zweimal in Washington, einmal vor und einmal nach den Zwischenwahlen vom November, und die gute Nachricht ist: Sowohl im Kongress als auch in der Regierung gibt es breite allgemeine Unterstützung für die Prinzipien des Pakts. Es gibt allerdings noch ein paar Dinge, über die wir sprechen müssen. Zum Beispiel sieht unser Entwurf „rechtlich bindende“ Verpflichtungen der Garantiemächte vor. Die Amerikaner zögern da noch ein wenig, aber im Prinzip sind sie einverstanden. Auch aus London haben wir sehr gute Signale. In Berlin versuche ich noch, Termine zu bekommen. Auch Paris ist, glaube ich, positiv gestimmt. Alle haben ein starkes Interesse an einer stabilen Ukraine – auch als Bollwerk gegen ein immer aggressiveres Russland. Damit würden dann Ressourcen frei, um sich dem eigentlichen geopolitischen Problem zuzuwenden – China.
Eigentlich will die Ukraine ja der NATO beitreten. Wäre das vom Tisch, wenn der Sicherheitspakt kommt?
Nein. Die Außenminister der NATO haben gerade die Entscheidung des Bukarester Gipfels von 2008 bestätigt, der zufolge die Ukraine Mitglied der NATO werden wird. Die Frage ist allerdings: wann? Manche sind sehr dafür, dass es schnell geht, manche sind hier eher skeptisch.
Wollen Sie Namen nennen?
Nein.
In Bukarest waren die Amerikaner und Briten für mehr Tempo, Franzosen und Deutsche dagegen haben gebremst.
Ich glaube nicht, dass sich das sehr stark geändert hat. Und deshalb sage ich: Der Kiewer Sicherheitspakt könnte hier eine Brücke sein, indem er die Ukraine so stark macht, dass sie sich aus eigener Kraft verteidigen kann.
Würde der Pakt dann so lange gelten, wie die Ukraine Krieg führen muss und deshalb nach den heutigen Regeln der NATO nicht beitreten kann?
Einerseits ja. Andererseits sollten wir Putin aber nie die Möglichkeit geben, eine Erweiterung der NATO de facto zu blockieren. Wenn er sicher sein kann, dass wir die Ukraine nicht aufnehmen, solange er dort Krieg führt, wird er genau deshalb immer weiter Krieg führen. Deshalb sollten wir die Kriterien zur Aufnahme der Ukraine nicht allzu scharf definieren. Auch die Bundesrepublik wurde schließlich in den Fünfzigerjahren in die NATO aufgenommen, obwohl ihr Verhältnis zur DDR noch nicht geklärt war.
Sollte die NATO also die Regel überdenken, der zufolge ein Land dem Bündnis nur beitreten kann, wenn es mit seinen Nachbarn in Frieden lebt?
Im Prinzip könnten wir das tun. Dabei ist vor allem eines wichtig: Wir sollten Putin über diesen Punkt im Unklaren lassen. Wenn wir ihm klar sagen, unter welchen Bedingungen wir die Ukraine aufnehmen, würde er entsprechend reagieren und zum Beispiel den Konflikt in die Länge ziehen. Und bis wir hier Klarheit schaffen, können wir die Stabilität dieses Raumes durch den Kiewer Sicherheitspakt sichern.