THEO VAN GOGH: DIE DOCUMENTA KASSEL & DIE FAZ & EIN POOL VOLLER DENUNZIATIONEN – Der Case Dische-Becker oder der Fall Jürgen Kaube
30.7.22 – Fakten wissen wollen: Emily Dische-Becker, die FAZ, die Hisbollah und die Wahrheit Wenn ich als Journalist pikante Fakten über eine Person preisgeben möchte, die der Öffentlichkeit bisher unbekannt waren, muss ich diese Person vorher kontaktiert und mit diesen Fakten konfrontiert haben. Das ist einer der elementarsten Grundsätze meines Berufes.
Darauf zu verzichten, ist ein absolutes No-Go. Die Versuchung mag groß sein, den vermeintlich ohnehin schon glasklaren Knüller nicht durch ein unangenehmes Telefonat zu verkomplizieren – aber man muss ihr unbedingt widerstehen. Nicht nur aus Gründen der Fairness. Auch im eigenen Interesse. Dann weiß ich mehr und kann mich besser wehren, wenn es hinterher brenzlig wird. Schließlich will ich mich nicht schämen müssen für das, was ich geschrieben habe.
Vorvergangene Woche landete die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Kontext des abscheulichen Antisemitismus-Skandals auf der Documenta in Kassel einen solchen Knüller: Die Schriftstellerin Emily Dische-Becker, die derzeit als Documenta durch die Zeitungen (€) gezerrt wird Der angebliche „Antisemitismus-Berater“ habe eine zweifelhafte Vergangenheit, verriet FAZ-Stabsreporterin Lena Bopp. Ihren Angaben zufolge hatte Dische-Becker noch 2015 für eine libanesische Zeitung in Beirut gearbeitet, die die Hisbollah unterstützte, die Terrororganisation, die sich für die Zerstörung Israels einsetzte. „Connected to Hizbullah“ (Der Hizbullah verbunden) war die Überschrift (die Online-Version hat sie mittlerweile etwas abgeschwächt zu „Writing close to Hizbullah“, Schreiben in Hizbullah-Nähe). Wow! BDS-nah, das hatten viele bei den linken Israelkritikern sowieso vermutet.
Aber eine Terrororganisation wie die Hisbollah! Nichts davon ist wahr, wie es scheint. Emily Dische-Becker hatte, wie sie gleich auf Twitter klarstellte, 2006 in Beirut einen einzigen Artikel für die Zeitung Al-Akhbar mitverfasst, damals die einzige linke, unabhängige Zeitung im Libanon. Von 2010 bis 2012 arbeitete sie nebenberuflich für das von der arabischsprachigen Zeitung redaktionell unabhängige englischsprachige Internetportal der Zeitung als Rechercheurin für Wikileaks, für das Al-Akhbar der Partner für den arabischen Raum war. Erst 2011 trat ein neuer Chefredakteur das Amt an und machte die Zeitung nach dem Aufstand in Syrien gegen Assad zum Sprachrohr der Hisbollah.
Vorausgegangen war ein heftiger redaktioneller Streit darüber, dass die Zeitung zunehmend parteiisch und unkritisch gegenüber Hisbollah und Assad wurde. Infolgedessen kündigte Dische-Becker und verließ Beirut 2012, enttäuscht von der Zersplitterung der libanesischen Linken in Assad-Gegner und -Anhänger. Emily Dische-Becker, die übrigens selbst Jüdin ist (was Lena Bopp laut FAZ „natürlich“ wusste, aber in ihrem Artikel nicht erwähnte), hat mir das ausführlich am Telefon erklärt, und die wichtigsten Teile dieser Version der Ereignisse scheinen mir durch eidesstattliche Erklärungen der damaligen Al-Akhbar-Redaktion gut dokumentiert zu sein. Hätte FAZ-Mitarbeiterin Lena Bopp Emily Dische-Becker um einen Kommentar gebeten, hätte sie das auch erfahren. Sie hat nicht.
Sollte Lena Bopp jetzt nicht Ärger bekommen? So würde man meinen. Einer Zeitung wie der FAZ, so heißt es auf ihrer Website unter „Unser Selbstverständnis“ in Anspielung auf ihre Gründer von 1949, „muss die Wahrheit der Tatsachen heilig sein ‘ Heute, rund 70 Jahre später“, so die Selbstbeschreibung weiter, „gelten diese Grundsätze immer noch“. Ich habe die FAZ-Pressestelle nach dem Grundsatz gefragt, Menschen zu kontaktieren, bevor man über sie berichtet.
Die Antwort: „Die Frankfurter Allgemeine Zeitung steht seit Jahrzehnten für Qualitätsjournalismus. Sie nimmt die journalistische Sorgfaltspflicht ernst. Die F.A.Z.-Redaktion ist den Regeln journalistischer Professionalität verpflichtet.“ Sicherheitshalber hatte ich auch den Geschäftsführer des Deutschen Presserats, Roman Portnack, um eine Bestätigung gebeten, dass es zu den Standards guter journalistischer Praxis gehört, die Gegenseite um Stellungnahme zu bitten. Natürlich ist es das.
Inzwischen aber greift Lena Bopps Chef, Feuilleton-Herausgeber Jürgen Kaube, statt seinen Mitarbeiter zu tadeln, selbst zur Feder. „Offensichtlich unwahr“ (€) ist der Titel seines Artikels, und damit ist keineswegs der Text von Lena Bopp gemeint, den er eher väterlich verteidigt, sondern erneut die Positionen von Emily Dische-Becker und ihren Verteidigern. Heutzutage ein beliebter Schachzug.
Das nennt man Opferbeschuldigung, glaube ich. Jetzt könnte man sagen: Komm schon, es gibt Schlimmeres, Antisemitismus lässt die Emotionen hochkochen, so ein taktisches Foul ist gar nicht so selten. Das finde ich nicht so einfach. Normen wie das Erfordernis, die andere Seite zu hören, sind viel mehr als bloße professionelle Standards guter Praxis. Sie haben eine verfassungsrechtliche Dimension. Sie tragen dazu bei, sich auf eine gemeinsame Realität in einer freien, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft einigen zu können und damit diese freie, demokratische und vielfältige Gesellschaft überhaupt erst möglich zu halten. Sie sind Teil der Bedingung der Möglichkeit, über diese Realität, ihre Beschreibung und ihre Bewertung uneins zu sein und miteinander darüber zu streiten. Deshalb genießt die Presse, ebenso wie die Justiz, die Kunst, die Forschung, einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz.
Journalistische Standesregeln sind natürlich keine Verfassungsnorm im formalen Sinne, aber sie sind Teil des Geflechts von Konventionen und Fairnessregeln, auf das sich jede geschriebene oder ungeschriebene demokratische Verfassung stützt. Nicht neugierig Das Problem ist weniger, dass der Artikel von Lena Bopp voller Halbwahrheiten und Unwahrheiten ist. Das ist schon schlimm genug, aber gut, Dinge passieren. Das Problem ist, dass sie sich anscheinend nicht im Geringsten darum schert, was vor zehn Jahren in Beirut passiert ist. Auch jetzt nicht. Nachdem Lena Bopp auf meine Bitte um ein Telefonat nicht reagiert hatte, schickte ich ihr eine E-Mail mit sechs Fragen. Warum, wollte ich wissen, nennt sie den Artikel von 2006, den einzigen, den Dische-Becker jemals für Al-Akhbar geschrieben hat, eine „Ausnahme“? Ausnahme von was? Warum nennt sie es „merkwürdig“, dass dies der einzige Artikel ist, der im Internet zu finden ist? Mir wurde von einem Assistenten im Auftrag des Leiters der Feuilleton-Redaktion der FAZ mit folgender Information geantwortet: „Es ist merkwürdig, nur einen Artikel von jemandem zu finden, der über einen langen Zeitraum in einer verantwortlichen redaktionellen Position gearbeitet hat.“
Oh ist es? Also ist die Schlussfolgerung jetzt einfach die Prämisse? Wenn Sie so vorgehen, muss Ihnen die ganze Welt natürlich die ganze Zeit über äußerst neugierig vorkommen. Aber andererseits, wenn Sie etwas merkwürdig finden, wären Sie dann nicht ein bisschen… neugieriger darauf? Willst du es nicht wissen? Würden Sie nicht vielleicht, Sie wissen schon: fragen? Niemand von der FAZ, so Emily Dische-Becker, habe sich bis heute bei ihr gemeldet. Ich habe auch direkt nachgefragt, ob sich Lena Bopp der Norm verpflichtet fühlt, von ihr berichteten Personen die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben, und wenn ja, nach welchen Kriterien sie sich entschieden hat, hier eine Ausnahme zu machen. Statt einer Antwort kam eine “Gegenfrage: Gibt es beim Verfassungsblog eine Norm, Personen, über deren Taten berichtet wird (z. B. Tiziana Chiusi, Ursula von der Leyen, Georg Thiel) im Vorfeld zu kontaktieren und anzuhören?” Das kann ich sehr schnell beantworten. Wenn wir uns auf der Grundlage unbestrittener und allgemein bekannter Tatsachen an öffentlichen Debatten beteiligen (Chiusi), die Politik eines Politikers kommentieren (von der Leyen) oder anlässlich einer öffentlichen Anhörung über ein Regierungsamt nachdenken (Thiel), dann die Antwort ist offensichtlich nein, denn was wäre der sinn? Wenn wir hingegen Fakten über jemanden preisgeben, was wir bei VB normalerweise nicht tun und eher selten vorkommen (hier, um ein Beispiel zu nennen), dann würde ich die Frage mit Nachdruck bejahen.
Okay, ich will nicht überheblich sein, Fehler passieren ständig, und sollten wir über die Jahre den ein oder anderen begangen haben, dann möge uns der Annette-Schavan-Dämon heimsuchen. Aber zumindest wäre es uns sehr peinlich. Wobei sich die Chefs der FAZ-Feuilletonredaktion, wie es scheint, einfach einen Dreck darum scheren.