THEO VAN GOGH: „DER OSTEN IST ROT!“ – Energiewende : Kann die heimische Windkraft russisches Erdgas ersetzen? Nur China kann liefern.

In der Nordsee soll es mehr Windparks (hier der Offshore-Windpark „Nordsee 1“ vor Spiekeroog) geben. Europa will weg vom Erdgas und plant eine Ausbauoffensive in der Windenergie. Doch ausgerechnet jetzt stecken die heimischen Windradbauer in der Krise. Stattdessen liefert China.

Aus Berlin reisten der Kanzler Olaf Scholz und sein Wirtschaftsminister Ro­bert Ha­beck an, aus Brüssel kam EU-Kom­missions­prä­siden­tin Ursula von der Leyen. Dazu die Regierungschefs von Belgien, Dänemark und den Niederlanden. Mitte Mai trafen sich die Spitzenpolitiker in der dänischen Hafenstadt Esbjerg, um eines der ehr­geizigsten Ausbauprojekte der Welt für die klimaschonende Erzeugung von Strom auszurufen. Tausende neuer ­Meereswindräder, höher als der Kölner Dom, sollen die Nordsee zum „grünen Kraftwerk“ machen. So steht es in der „Esbjerg-Deklaration“, die die Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen unterzeichneten.

Die am skandinavischen Meeresstrand vereinbarten Ausbauziele sind gigantisch: Bis 2030 soll die Stromerzeugungskapazität in der Nordsee von heute 15 Gigawatt auf 65 Gigawatt wachsen, bis zur Jahrhundertmitte wird eine Verzehnfachung auf 150 Gigawatt angepeilt. Zum Vergleich: Das entspricht etwa der installierten Leistung von 34 großen Braunkohlekraftwerken. Die Politiker drücken aufs Tempo, denn inzwischen geht es bei Europas grünem Großumbau im Energiesektor nicht mehr allein um den Klimaschutz. Der Ukrainekrieg und das sich abzeichnende Ende von Öl- und Gasimporten aus Russland machen die Sache noch viel dringlicher. Es geht jetzt auch um die Sicherung der europäischen Energieversorgung ohne die fossilen Brennstoffe aus Sibirien. Die Energiewende soll den Putin-Turbo anwerfen.

Das Problem ist nur: Ausgerechnet jetzt, da sie so dringend gebraucht wird wie nie zuvor, ist die europäische Windkraftindustrie, die all die neuen Anlagen liefern soll, in einem desolaten Zustand. Ein jahrelang nur zögerlicher Ausbau der Windenergie und Kostensteigerungen haben den Unternehmen schwer zugesetzt. Allein in der deutschen Windkraftbranche sind in den vergangenen sechs Jahren Zehntausende von Arbeitsplätzen verloren gegangen.

„Wir sind alle rot oder tiefrot“

Spaß habe in diesem Geschäft derzeit niemand, berichtet Jochen Eickholt. „Wir sind alle rot oder tiefrot“, fasst der Chef des Windturbinenherstellers Siemens Gamesa die Ertragslage der Branche zusammen. Das Unternehmen, eine Tochtergesellschaft des Münchner Industriekonzerns Siemens Energy, ist der zweitgrößte Windkrafthersteller Europas und der drittgrößte der Welt. Aber das Unternehmen ist chronisch defizitär. Eickholt, ein erfahrener Krisenmanager, ist seit vier Monaten an Bord. Er ist bei Siemens Gamesa der dritte Vorstandschef in weniger als zwei Jahren. Es brennt. Und Eickholt ist der Feuerwehrmann.

Soeben gab der Großaktionär Siemens wegen der Windkraftmisere eine 2,8 Milliarden Euro schwere Abschreibung auf seine Beteiligung an Siemens Energy bekannt. Der Konkurrenz geht es nicht besser. Der Weltmarktführer Vestas aus Dänemark hat im ersten Quartal einen operativen Verlust von mehr als 300 Millionen Euro erlitten, der Hamburger Windkrafthersteller Nordex stellt seine Aktionäre ebenfalls auf einen Jahresverlust ein. Das Unternehmen schließt seine Rotorblattfertigung in Rostock und verlagert die Produktion unter anderem nach Indien und Mexiko. An der Ostsee stehen 500 Jobs auf dem Spiel. Vergangenen Herbst hatte Vestas schon eine Fabrik in Brandenburg dichtgemacht. „Diese Krise geht bei uns allen an die Substanz“, sagt auch Jürgen Zeschky, Chef des niedersächsischen Windkraftherstellers Enercon. In dessen Produktionsverbund wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren 9000 von 22 500 Arbeitsplätzen abgebaut.

Windräder aus China zum halben Preis

Die Notlage der Windradbauer droht Europa in eine strategische Klemme zu bringen. Denn während die heimischen Hersteller leiden, expandieren am anderen Ende der Welt in China staatlich protegierte Wettbewerber wie Goldwind und Envision, Windey und Sewind. Im Februar schrieben die Chefs der führenden europäischen Hersteller einen Brandbrief an EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen: Auf Exportmärkten in Asien, Südamerika und Afrika verliere man bereits Marktanteile an die Chinesen. Und auch in Europa erhielten die Konkurrenten aus Fernost dank unschlagbar niedriger Preise erste Aufträge, heißt es in dem Schreiben der Manager. Fachleute schätzen, dass die Produktion von Windrädern in chinesischen Fabriken aktuell nur etwa halb so viel kostet wie in europäischen Werken.

Noch sind die europäischen Hersteller Schwergewichte im Windkraftanlagenbau. Vestas, Siemens Gamesa, Nordex und Enercon kamen vergangenes Jahr auf einen Weltmarktanteil von mehr als einem Drittel. Aber nach Zählung des Branchenverbands Global Wind Energy Council sind unter den 15 größten Windturbinenherstellern der Welt schon zehn chinesische Unternehmen. Bisher sind sie vor allem in ihrem gewaltigen und von ausländischer Konkurrenz staatlich abgeschirmten Heimatmarkt stark. China ist der mit Abstand größte Investor in erneuerbare Energien der Welt. Und die Chinesen setzen immer stärker auf die Expansion im Ausland. „Wenn attraktive Märkte außerhalb Europas in Zukunft zunehmend von chinesischen Unternehmen bedient werden, setzt das europäische Hersteller weiter unter Druck“, warnt Nordex-Chef José Luis Blanco.

Die Sorgen wachsen, dass sich die Geschichte wiederholt: Nach der Jahrtausendwende war in Deutschland, genährt durch üppige Grünstrom-Subventionen aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) eine blühende Photovoltaikindustrie entstanden. Q-Cells aus Sachsen-Anhalt war zeitweise der größte Solarzellenproduzent der Welt. Doch dann kamen die Chinesen und rollten dank niedriger Produktionskosten den Markt auf. Q-Cells meldete 2012 Insolvenz an, ebenso wie viele andere deutsche Hersteller. Heute kommen fast alle Solarmodule, die sich die Deutschen auf ihre Dächer schrauben, aus asiatischen Ländern, vor allem aus China. Europas Energiewende hängt zumindest, wenn es um Sonnenstrom geht, an den Chinesen – eine strategische Abhängigkeit, die europäische Politiker mit wachsender Sorge sehen.

Steht Europas Windkraftbranche nun vor einem ähnlichen Exodus wie einst die Solarhersteller? Auszuschließen sei das nicht, meint Siemens-Gamesa-Chef Eickholt. „Für kritische Infrastrukturen wie die Energieversorgung brauchen wir eine gewisse strategische Unabhängigkeit“, fordert er deshalb. In Zeiten, in denen die geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen immer größer werden, benötige Europa eine starke eigene Windkraftindustrie, um seine großen Ausbaupläne verwirklichen zu können. Ähnlich klingt Dennis Rendschmidt, Geschäftsführer des Fachverbands Power Systems im Maschinenbauverband VDMA: „Wir müssen aufpassen, dass es uns nicht wieder so ergeht wie bei der Photovoltaik.“ Europa dürfe sich nach der Sonnenenergie nicht auch noch bei der Windkraft von China abhängig machen.

Den Windkraftherstellern geht es auch deshalb so schlecht, weil das Geschäft im europäischen Heimatmarkt in den vergangenen Jahren schwierig war. Während die chinesischen Hersteller daheim von einem Boommarkt mit hohen Ausbauraten profitierten, ging es in vielen europäischen Ländern nicht recht voran. Beispiel Deutschland: 2017 wurden hierzulande noch fast 1800 neue Windkrafträder an Land aufgestellt, im vergangenen Jahr waren es weniger als 500. Auf dem Meer, im deutschen Teil der Nord- und Ostsee, ist der Ausbau sogar komplett zum Stillstand gekommen, 2021 wurde keine einzige neue Anlage in Betrieb genommen. Die Gründe dafür sind bekannt: überlange Genehmigungsverfahren, Bürgerproteste, restriktive Ausschreibungsverfahren.

„Seit Anfang 2020 hat sich der Stahlpreis verdreifacht“

Der Ausbau sei „politisch gebremst worden“, beklagt Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbands Windenergie. Sechs Jahre dauere es im Schnitt, bevor in Deutschland die notwendigen Genehmigungen für den Bau eines neuen Onshore-Windrades vorlägen. „Wenn wir das auf anderthalb Jahre verkürzen können, dann wäre sehr viel gewonnen“, sagt der Windkraft-Lobbyist.

Die Ampelkoalition in Berlin macht jetzt zwar Druck. Finanzminister Christian Lindner von der FDP erhob die erneuerbaren Energien nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zu „Freiheitsenergien“. Der Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck hat neue, höhere Ausbauziele ausgegeben: Bis 2030 soll die Stromerzeugungskapazität deutscher Windparks mehr als verdoppelt werden (siehe Grafik). Die Bundesregierung will Ausbauhürden beiseiteräumen und das Natur- und Immissionsschutzgesetz ändern. Notfalls will der Bund auch gegen den Willen der Länder die Ausweisung zusätzlicher Bauflächen für Windkraftanlagen durchsetzen.

Doch große Ausbaupläne für die Zukunft nutzen den Herstellern heute wenig. Denn zusätzlich machen den Unternehmen auch die starken Preissteigerungen bei Rohstoffen zu schaffen. Eine Offshore-Windturbine besteht zu 90 Prozent aus Stahl. „Aber seit Anfang 2020 hat sich der Stahlpreis verdreifacht“, rechnet Enercon-Chef Zeschky vor. Jedes einzelne Windrad wird dadurch um einen Millionenbetrag teurer. Die Hersteller versuchen deshalb bei ihren Kunden, nachträglich die vertraglich vereinbarten Preise nach oben zu korrigieren. Ein Novum in einer Branche, in der die Preise über viele Jahre hinweg laufend gefallen sind, was die Windkraft zu einer der günstigsten Formen der Stromerzeugung gemacht hat. Doch ohne höhere Preise gehe es jetzt nicht mehr, sagt der Siemens-Gamesa-Krisenmanager Eickholt: „Wir müssen dafür gemeinsam mit den Kunden eine Lösung finden.“

Industrie ruft nach staatlichem Schutz vor internationaler Konkurrenz

Die Kombination aus einem schleppenden Windkraftausbau in Europa und drastischen Kostensteigerungen ist Gift für die europäischen Hersteller. Chinas Windkraftindustrie sei dagegen „größer und wettbewerbsfähiger als jemals zuvor“, heißt es in einer Analyse des auf den Energiesektor spezialisierten britischen Beratungshauses Wood Mackenzie.

Die europäischen Hersteller rufen deshalb nach Hilfe von der Politik. Wenn die ehrgeizigen Windkraft-Ausbaupläne mit Turbinen aus europäischer Produktion verwirklicht werden und eine bedenkliche Abhängigkeit von asiatischen Importen verhindert werden solle, brauche es „zeitnah indus­trie­politische Maßnahmen“, fordert Nordex-Chef José Luis Blanco. In anderen Weltregionen sei es üblich, dass Hersteller, die ihre Fabriken im Inland hätten, bei Ausschreibungen bevorzugt würden, sagt der Enercon-Geschäftsführer Zeschky. Er sei eigentlich gegen solchen Protektionismus und für freien Handel, beteuert der Manager. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mir das einmal auch in Europa wünschen würde. Aber anders wird das nichts.“