THEO VAN GOGH: CHINA ODER WIR !? – China: Wir müssen schnell umdenken! (SAGEN DIE AUTOREN VOM KINGS COLLEGE, LONDON)
Peter R. Neumann, Moritz Rudolf – DIE ZEIT – 24-10-22
Es geht nicht mehr um Werte und Handel: Für den Westen wird die Haltung zu China unter Xi Jinpings Herrschaft zur Überlebensfrage. Drei Ziele für eine neue China-Politik.
Der Westen ist durch die wachsende ökonomische Verflechtung in politische Abhängigkeit zur Volksrepublik China geraten. Unsere Gastautoren Peter R. Neumann und Moritz Rudolf skizzieren drei Ziele, auf die sich die westlichen Nationen in ihrem Verhältnis zur Volksrepublik jetzt konzentrieren sollten. Neumann ist Professor für Sicherheitspolitik am King’s College London und Autor von “Die neue Weltunordnung” (Rowohlt, 2022). Rudolf ist Fellow am Paul Tsai China Center der Yale Law School und Autor von “The Belt and Road Initiative – Implications for the International Order” (World Scientific, 2021).
Wenn Historiker in zweihundert Jahren die Geschichte des 21. Jahrhunderts schreiben, wird Russland trotz seines Angriffskriegs in der Ukraine höchstens ein Kapitel gewidmet sein. Ein Land, das zwar Atomwaffen besitzt, aber weniger Einwohner hat als Bangladesch und dessen stagnierende Volkswirtschaft kleiner ist als die von Spanien, taugt bestenfalls zum Störenfried.
Die große Erzählung wird sich um den Aufstieg Chinas drehen: das bevölkerungsreichste Land der Welt und die am stärksten wachsende Volkswirtschaft; mit einem autoritären Gesellschaftssystem, das auf brutale Weise – und mithilfe modernster Technologie – für Ruhe und “Stabilität” im Inneren sorgt, während es dem Westen in allen Teilen der Welt Konkurrenz macht.
Seit 2008 zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt
Wenn auch kulturell und geografisch weiter entfernt als Russland, so ist es Chinas autoritäre Moderne, mit der sich der Westen im 21. Jahrhundert in einem Systemwettbewerb befindet – ganz besonders in Afrika und Asien, aber zunehmend auch in Lateinamerika und Ozeanien.
Der Westen hat das Problem zwar erkannt, aber noch keine Antwort gefunden. Die Doktrin, die jahrzehntelang das westliche Engagement mit China bestimmte, war die berühmt-berüchtigte Formel vom sogenannten Wandel durch Handel, mit anderen Worten: Je mehr Geschäfte wir mit China machen, desto mehr wird China wie wir.
Was die wirtschaftliche Entwicklung anging, so hat dies auch funktioniert. In den zwanzig Jahren seit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 verneunfachte sich die Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2008 wurde das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und bereits im Jahr 2030 könnte es Amerika vom ersten Platz verdrängen.
Wirtschaftsreformen sind Mittel der Herrschaftssicherung
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Für Hunderte Millionen Chinesen bedeutete dies das Ende von Armut und den Aufstieg in die Mittelklasse. Zu keinem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte haben sich die Lebenschancen für so viele Menschen so schnell so positiv entwickelt wie seit dem Jahr 2000 in China. Doch obwohl wirtschaftlich kein Stein auf dem anderen blieb, änderte sich politisch wenig. Der Westen hatte die chinesische Reform- und Öffnungspolitik völlig falsch eingeschätzt, denn aus chinesischer Sicht war sie lediglich ein Mittel zum Erhalt der eigenen Herrschaft.
Handel war also kein “Zaubertrank für die Demokratie”, wie der amerikanische Journalist James Mann bereits im Jahr 2007 konstatierte. Entgegen westlichen Hoffnungen hat die staatliche Kontrolle während der Amtszeit von Xi Jinping extrem zugenommen. Und am Ende war es nicht China, sondern der Westen, der durch die zunehmende ökonomische Verflechtung in eine politische Abhängigkeit geriet.
Lange Zeit hieß es über Chinas Wachstum: “Das kann nicht lange gut gehen.” Doch in Wahrheit gibt es bis heute keine Anzeichen dafür, dass das System irgendwann kollabiert. Xi hat mit der Neubesetzung der Parteiführung seine innerparteilichen Gegner ausgeschaltet. Und selbst wenn die Wirtschaft mal ein paar Jahre stagnieren sollte, sorgt die Kombination aus Ultranationalismus, starken Institutionen und Hightechüberwachungsstaat dafür, dass sich eine (demokratische) Opposition weder bilden noch organisieren kann.
Für Xi bedeutet das, dass er noch intensiver als bisher den Aufbau einer sogenannten Weltschicksalsgemeinschaft betreiben wird: Chinas Vision einer globalen Ordnung, in der nicht der Westen, sondern China und die mit ihm verbündeten Staaten des Globalen Südens das Sagen haben.
Dazu gehört die Neue Seidenstraße, ein Infrastrukturprogramm, mit dem China Hunderte von Milliarden im Globalen Süden investiert und in Bereichen wie Gesundheit, Recht und Sicherheit chinesische Ideen in Entwicklungsländer exportiert. Genauso wichtig: der systematische Ausbau des chinesischen Militärs und die Schaffung von diplomatischen Foren, wie zum Beispiel der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), die westlich dominierte Strukturen ersetzen sollen. Auf nahezu allen Ebenen wird sich der Wettbewerb um eine neue globale Ordnung verschärfen.
Nach der Amtszeitverlängerung Xis muss der Westen deshalb dringend umdenken. Die bisherige China-Debatte drehte sich hauptsächlich um einen vermeintlichen Konflikt zwischen Werten und wirtschaftlichen Interessen. Doch beides greift zu kurz.
Ganzheitlich und pragmatisch
Für die Ausbreitung der Demokratie in China gibt es aktuell keine Chance – am allerwenigsten, wenn sie als westliches Projekt wahrgenommen wird. Und das kurzfristige Verfolgen rein wirtschaftlicher Interessen hat die prekäre geopolitische Situation, in der wir uns aktuell befinden, überhaupt erst entstehen lassen. Kurzum: Beide Strategien sind gescheitert.
Eine neue Politik, die der Ausbreitung von Chinas autoritärer Moderne klare Grenzen setzt, muss ganzheitlich sein und sollte auf drei pragmatischen Zielen beruhen:
- Einigkeit: Europa, Nordamerika und Australien sind zusammengenommen gerade noch groß genug, um China die Stirn zu bieten. Mit einer Stimme zu sprechen ist deshalb wichtiger denn je – sowohl innerhalb Europas als auch zusammen mit Amerika.
- Entflechtung: Europäische Länder sind bereits heute in vielen Branchen von China abhängig. Wirtschaftliche Entflechtung ist notwendig, auch wenn ein totales Zurückdrehen der Wirtschaftsbeziehung mit China unrealistisch ist. Ziel muss sein, in wichtigen Branchen unabhängig von China zu werden und eigene Regeln selbstbewusst durchzusetzen.
- Einbindung: Die Bindung des Globalen Südens an den Westen ist für das Aufrechterhalten der liberalen Ordnung entscheidend. Doch trotz vieler Ankündigungen gibt es immer noch kein großes europäisches – oder westliches – Infrastrukturprogramm, das der Neuen Seidenstraße Konkurrenz macht. Der Westen muss Entwicklungsländern materielle Anreize bieten, um sich von China zu lösen.
All diese Punkte sind wohlbekannt und werden seit Jahren diskutiert. Allein an der Umsetzung hapert es. Der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas in Peking hat noch mal deutlich gemacht, wie notwendig es ist, endlich zu handeln. Der einfache Grund: Uns rennt die Zeit davon. Wenn nichts passiert, dann ist die Geschichte des 21. Jahrhunderts nicht nur eine vom Aufstieg Chinas, sondern gleichzeitig die vom Niedergang des Westens.