THEO VAN GOGH: CHINA DEMNÄCHST VORN BEI KLIMAWENDE ! Eine Wende jagt die andere

FAZ  30.6.23

JOACHIM MÜLLER-JUNG (Text) und OLIVER SCHLÖMER (Grafiken)

30. Juni 2023 · Zu viel ist zu viel: Wie der globale Klimawandel den Umbau des Energiesystems erzwingt und das fossile Zeitalter beendet – eine grafische Analyse.

Energiewende, Wärmewende, Agrarwende, Mobilitätswende, ökologische Wende – alles ist in Bewegung. Nichts kann scheinbar bleiben, wie es war. Die Wenden sind die Antwort auf den globalen Wandel. Denn der Klimawandel fordert weltweit ein Umsteuern und ein Umdenken. Und das alles, fragen jetzt viele, weil die Welt etwas wärmer wird und die globale Mitteltemperatur steigt? Um durchschnittlich 0,8 Grad ist sie gestiegen, nimmt man als Vergleichszeitraum den in vielen wissenschaftlichen Analysen üblichen statistischen Mittelwert der Jahre 1961 bis 1990. Gemessen werden Luft- und Meeresoberflächentemperaturen.

 

Geht man ein Stück weit zurück, kommt man auf derzeit knapp 1,2 Grad plus seit Beginn der Industrialisierung um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Auch nicht viel? Europa, einer der derzeit am schnellsten aufheizenden Erdteile, liegt bei mehr als zwei Grad Erwärmung. Zwischen dem Ende der Eiszeit vor mehr als zehntausend Jahren und dem Anfang der Industrialisierung lagen regional unterschiedlich kaum mehr als zwei bis drei Grad Erwärmung. Zudem beschleunigt sie sich rasant: Die vergangenen acht Jahre waren die wärmsten Jahre seit Beginn der routinemäßigen Messungen. Und: Das Jahr 2023 könnte nach dem bisherigen Verlauf und einer mutmaßlich starken Wärmeanomalie El Niño einen neuen globalen Rekord aufstellen. Noch gravierender sind vielfach die extremen Wetterereignisse, die durch die Destabilisierung des Klimas ausgelöst werden.

Schuld an der jüngsten Erderhitzung ist mit überwältigender Wahrscheinlichkeit der Mensch, genauer: die Freisetzung von hochgradig klimawirksamen Spurengasen, von denen das in der Luft sehr langlebige Kohlendioxid – und das kurzlebigere Methan – die Hauptrolle spielen. Beim Verbrennen der fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Erdgas entsteht Kohlendioxid. Und zwar ungebremst und immer mehr. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich die Konzentration von Kohlendioxid um 150 Prozent auf über 424 ppm erhöht, die von Methan sogar um 260 Prozent.

Mit nur kurzen Unterbrechungen ist die Ausbeutung und Nutzung der fossilen Ressourcen aus dem Erdinnern vorangeschritten – quasi als Spiegelbild des weltweiten Wirtschaftswachstums. Kohle, Gas und Öl wurden zu Hauptenergiequellen und zur Basis neuer Rohstoffe wie Plastik. An vorderster Stelle steht dabei der steigende Energiebedarf in den Industrieländern: Die Konkurrenz um Strom, Wärme und Sprit waren ohne Rücksicht auf die wachsende ökonomische Abhängigkeit Jahrzehnte lang vorangetrieben worden und der Handel damit immer lukrativer. Daran hat sich erst in der allerjüngsten Zeit etwas geändert.

Sieht man sich den zeitlichen Verlauf der Kohlendioxidemissionen pro Kopf der Bevölkerung an, werden nicht nur Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung sichtbar sowie die Folgen ökonomischer Krisen und Kriege im Hinblick auf den fossilen Brennstoffverbrauch, sondern auch jüngere Entwicklungen, die in den Gesamtemissionsbilanzen untergehen: die zumindest teilweise schon gelungene Entkoppelung von Wirtschaftskraft beziehungsweise Konsum und Kohlendioxidemissionen. Seit den Neunzigerjahren spielt Effizienz in der Ressourcennutzung eine größere Rolle, zumindest bei den historisch Hauptverantwortlichen der Emissionen im Westen. In China dagegen, das mit seinen Gesamtemissionen und der großen Bevölkerung längst die Spitze der klimaschädlichen Emissionen erreicht hat, schlägt die nationale Wirtschaftsoffensive zu Buche.

Wie stark, wie regional unterschiedlich aber auch der Industriesektor an den klimaschädlichen Emissionen beteiligt ist, wurde jüngst in einem vom World Wide Fund for Nature veröffentlichten Bericht dargelegt. Die dreißig CO₂-intensivsten Industrieanlagen Deutschlands verursachten im Jahr 2022 demnach 58 Millionen Tonnen CO₂. Grundlage sind Daten zu den Industrieemissionen von Anlagen, die Teil des europäischen Emissionshandels (ETS) sind. Auf die „Dirty Thirty“ entfielen fast ein Drittel der im Klimaschutzgesetz definierten Emissionen des Industriesektors und acht Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen Deutschlands.

Eines der klimapolitisch bedeutendsten Schaubilder zur Transformation lieferte der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten Sachstandsbericht. Hier geht es vor allem um die Zukunft: wie sich die Emissionen und Temperaturen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln, wenn unterschiedliche politische und sozioökonomische Szenarien zugrunde gelegt werden. Wenn also einerseits lediglich die bis heute beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen berücksichtigt werden oder die national zumindest schon angekündigten Klimaziele, oder wenn, was in Paris 2015 global vereinbart wurde, das 1,5-Grad-Ziel fest angepeilt würde. In diesen Szenarienrechnungen und Projektionen des Klimas stecken also vielfache Annahmen und Absichten. Klar ist: In jedem Fall muss extrem schnell gehandelt werden und müssen die Emissionen ohne weitere Verzögerungen runter, jedenfalls wenn der gegenwärtige Weg in Richtung 3,5 Grad globaler Erwärmung vermieden werden soll.

Die technologische Basis für den globalen Wandel in der Energieversorgung ist heute vorhanden, so der Weltklimarat. Neben Effizienzgewinnen und Einsparpotentialen sind es vor allem die erneuerbaren Energien, auf die der IPCC setzt. Völlig neue Konzepte oder gar Technikvisionen braucht es für ihn nicht. Tatsächlich sorgen mittlerweile der Preisverfall bei den Erneuerbaren und die höhere Wirksamkeit dafür, dass insbesondere Sonne und Wind stärker genutzt werden – und das keineswegs nur bei der Stromgewinnung, wo sommers tageweise schon Ökoenergie-Anteile von hundert Prozent erreicht werden. Kohle und Gas haben verloren bei der Primärenergie-Gewinnung, Öl dagegen bleibt als Treibstoff immer noch dominant.

Das Beispiel China verdeutlicht besonders gut, wie radikal sich niedrige Preise, hohe eigene Verfügbarkeit und Exportchancen auf die Chancen einer Energiewende auswirken. Zwar sind noch immer viele Kohlekraftwerke und auch Atommeiler im Bau, aber viele der Hunderte von Kohlekraftwerken, die vor wenigen Jahren noch geplant waren, sind inzwischen gestrichen. Stattdessen sind die Investitionen in regenerative Energiequellen zuletzt massiv angestiegen. China wird deshalb nach Expertenanalysen das Ziel Klimaneutralität auch vermutlich zehn Jahre früher erreichen, als die Pekinger Führung auf den Klimagipfeln noch vor wenigen Jahren angekündigt hatte.