THEO VAN GOGH: BUNDESTAG SOLL NICHT MEHR ÜBER WAFFENPRODUKTION ENTSCHEIDEN – REICHS-HEERESWAFFENMEISTERIN FRAU KORB !
Lange Bestellungen : In den Verästelungen des Rüstungsamtes
- Von Peter Carstens FAZ -14.10.2022- Lange galt die Behörde in Koblenz als Inbegriff von Bürokratie und Langsamkeit. Aber nun muss es liefern. Ein Ortsbesuch.
Die Bundeswehr soll die stärkste europäische Streitkraft mit der besten Ausstattung werden. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz versprochen. Große Worte über eine Truppe, die nach Auskunft des Heeresinspekteurs „blank“ war, als Russland die Ukraine überfiel. Und nicht bloß das: Damit sich der desolate Zustand ändert, kommt es ausgerechnet jetzt auf eine Behörde an, die als lahm und praxisfeindlich gilt. Ihr Name lautet „BAAINBw“ – ein typisches Bundeswehrkürzel, das niemand versteht. Wir nennen sie deshalb einfach „das Rüstungsamt“. Wenn von dieser Behörde die Rede ist, verdrehen fast alle, die irgendwas mit der Bundeswehr zu tun haben, die Augen, ein „Bürokratielabyrinth“ hat sie der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels genannt.
Doch manchmal wird eine Behörde routinemäßig schlechtgeredet und gar nicht bemerkt, dass sich etwas ändert. Vielleicht trifft das ja auch auf das berüchtigte „BAAINBw“ zu. Wir haben es vorige Woche für zwei Tage besucht. Das war nicht einfach: Über sechs Monate brauchten verschiedene Dienststellen und Ministeriumsabteilungen, um den Termin zu genehmigen. Man kommt problemloser beim Kommando Spezialkräfte rein als bei der deutschen Rüstungsbehörde in Koblenz.
Das Amt versorgt die Bundeswehr mit „leistungsfähiger und sicherer Wehrtechnik“ und kauft ein, was die Truppe braucht. Jedenfalls theoretisch. Denn in Wahrheit fehlte es seit Jahren an vielem, was auch am umständlichen Beschaffungswesen lag. Nun herrscht Krieg in Europa, und die Frage ist, wie es dem Amt gelingen kann, der Bundeswehr zunächst mit 100-Milliarden-Investitionen wieder die Schlagkraft zu verschaffen, die sie zur Abschreckung und im Ernstfall braucht. Wo tief im Westen Rhein und Mosel zusammenfließen, arbeiten mehr als sechstausend Menschen daran, die Truppe mit Dingen auszustatten, von der Zehn-Cent-Einwegspritze bis zur Fregatte für fast eine Milliarde Euro. Mehr als tausend weitere Stellen sind allerdings unbesetzt. Das Rüstungsamt war als Arbeitgeber lange Zeit eher unattraktiv.
Schon äußerlich ist das Amt von imponierender Größe
Das ändere sich, heißt es. Die zivile Behörde soll die Bundeswehr wieder zur Landesverteidigung befähigen. „Wir sind zuversichtlich, dies mit unseren kompetenten und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erfolgreich meistern zu können“, sagte die Vizepräsidentin des Amtes im Mai bei einer Anhörung im Bundestag.
Schon äußerlich betrachtet ist das Amt von imponierender Größe. Direkt am Rhein liegt ein knapp 160 Meter langes Gebäude, einst für die preußische Landesregierung gebaut. Kaiser Wilhelm höchstpersönlich soll ihm den Anschein einer gewaltigen Burg verschafft haben. Seit in der Nachkriegszeit die bundesdeutsche Wehrverwaltung eingezogen war, kamen immer neue Außenstellen hinzu. Die Abteilung „K“ etwa ist im Stadtteil Rauental an der Mosel untergebracht. Sie wird von Brigadegeneral Jürgen Schmidt geleitet, einem Logistik- und Beschaffungsprofi, der seine Laufbahn im Nachschubwesen begonnen hat.
Als junger Kompaniechef hatte Schmidt in den Achtzigerjahren mit dafür zu sorgen, dass die 2. Panzergrenadierdivision in Kassel Ersatzteile und Munition für bis zu drei Monate besaß. Heute sind Kommandeure im Heer froh, wenn ihr Nachschub für drei, vier Tage reicht. Das neue Ziel der Bundeswehr, wieder für dreißig Tage Vorräte zu haben, liegt in weiter Ferne. Allein für Munition müssten an die 20 Milliarden Euro ausgegeben werden. Schmidts Division wurde Mitte der Neunzigerjahre aufgelöst.
In der Abteilung, die er heute leitet, steht das „K“ für Kampf. Bei Herrn Schmidt wird also alles beschafft, was im Heer groß und schwer ist, Kampfpanzer etwa, aber auch die besonders in der Ukraine gefragte Panzerhaubitze 2000. Und die Munition. Unterhalb von Präsidentin Gabriele Korb gibt es im Haus zehn Abteilungen, darunter die „L“ für Luft, „S“ für alles zur See und die „U“ für alle Unterstützungsfahrzeuge von Spähwagen bis Laster und tausenderlei andere Dinge bis zur Feldküche oder der Hightech-Simulationspuppe für die Sanitätsausbildung. Nur wenn alle und alles zusammenwirken, entsteht daraus Kampfkraft.
Die Probleme sind groß
In Schmidts Büro, das mit Erinnerungsstücken, Abzeichen und Zinntellern aus seiner Karriere reich bestückt ist, trifft man einen General, der die Bundeswehr als Praktiker kennt. Bevor er nach Koblenz wechselte, war er im Ministerium Projektleiter der „Agenda Nutzung“. Nun setzt er im Rüstungsamt teilweise das um, was er dort erarbeitet hat. Das gilt übrigens auch für den militärischen Vizepräsidenten des zivilen Amtes, Generalmajor Thorsten Puschmann. Der Hamburger war zuvor ebenfalls im Ministerium und davor im Kanzleramt als Referatsleiter beim Sicherheitsberater der Kanzlerin. Ein erfahrener Offizier ist auch der Leiter der Abteilung See, Flottillenadmiral Andreas Czerwinski, der jahrelang auf Schnellbooten, Zerstörern und Fregatten fuhr, ehe er ins Ministerium und dann ins Rüstungsamt wechselte.
Dass es dort so bürokratisch zugeht, kann also kaum daran liegen, dass dort bloß Beamte Dienst tun, die von der Truppe nichts wissen. Bei einer der Kleinreformen der letzten Zeit wurde zudem in jeder Abteilung eine hochrangige Stelle für jeweils einen direkten Beauftragten mit kurzem Draht in die Truppe geschaffen. Das habe sich gut bewährt, heißt es.
Dennoch sind die Probleme groß. Und während die Bundeswehr seit 1990 schrumpft, wuchs die Bürokratie weiter. Allein in den letzten vier Jahren ist die Zahl der Dienstposten beim Rüstungsamt um 20 Prozent gestiegen. Insgesamt arbeiten in Koblenz und allen anderen Dienststellen mehr als 10.000 Menschen. Mehr als eine halbe Million Artikel hat das Amt unter Verwaltung. Und wenn ein neuer Ausrüstungsgegenstand hinzukommt, wird er erst mal in all seine Bestandteile zerlegt und mit bundeswehrinternen Bestellnummern versehen. So wird etwa in der Abteilung Land-Unterstützung (U) eine neue Feldküche über Monate konzipiert, erprobt und dann in der Wüste und im Schnee getestet.
Bei minus 20 Grad in Norwegen stellten die Prüfer fest, dass die Tür einfror und die Köche nicht mehr rauskamen. Da musste also nachgearbeitet werden. Außerdem waren selbst für so ein Vorhaben 364 Leistungsanforderungen und mehrere Dutzend Vorschriften einzuhalten, von der allgemeinen Produktionssicherheitsverordnung bis zu den Verteidigungsgerätenormen. Und so dauert es halt, bis Referat U3.1 die „sichere Verwendbarkeit unter realistischen Bedingungen“ einer Kücheneinrichtung bescheinigen kann.
Rund 200 Beschaffungsprojekte betreuen die Abteilung und ihre dazugehörenden „Wehrtechnischen Dienststellen“ derzeit. Sobald die Projektleiter die unglaublichen Details ihrer Arbeit berichten, wächst das Verständnis für Komplexität und Zeitaufwand. Dennoch müssen Politik und Streitkräfte darauf beharren: Die Beschaffung muss beschleunigt werden und weniger kompliziert sein.
Seit über eine Dekade fordern die Wehrbeauftragten Reformen
In einem der vielen Gutachten der vergangenen Jahre stand zu lesen, das Amt sei „sehr groß, sehr komplex und nicht stringent führbar“. Immer wieder wurden grundlegende Reformen von Wehrbeauftragten, Ministern oder Abgeordneten gefordert, in Koalitionsverträge hineingeschrieben und dann bleiben gelassen, sobald der graue Drache am Deutschen Eck widerborstig zu knurren begann. Oder die SPD-Landesregierung ihren Einfluss geltend machte. Manche Minister hatten oder haben schlicht Angst vor der Aufgabe.
Der stellvertretende Leiter der „K“-Abteilung, Peter Schmidt, sieht einen großen Umbau, etwa die Umwandlung in eine privatwirtschaftliche Agentur skeptisch und meint: „Eine Auflösung und komplette Neustrukturierung – nein, ich hoffe, dass dieser Gedanke auf der Zeitachse stirbt.“
Seit über einer Dekade fordern die Wehrbeauftragten Reformen. 2014 hieß es, seit Jahren angekündigte Verbesserungen werden „nach wie vor zu langsam vorangetrieben“. Und weiter: „Dies ist für die Betroffenen in hohem Maße demotivierend und kann leicht als Gleichgültigkeit des Dienstherrn aufgefasst werden.“ Ein Jahr später schrieb der nächste Wehrbeauftragte: Die Beschaffung sei „unerklärlich langsam“, es gebe eine „übersteigerte Absicherungsmentalität“. Ein prüfender Blick hinter die Mauern des Rüstungsamtes zeigt aber, dass dort auch engagierte Beamte, Offiziere, Sachbearbeiter, Ingenieure und Techniker mit Hingabe daran arbeiten, dass die „Zeitenwende“ ein Wendepunkt für die Bundeswehr wird. Nebenbei sorgen die Koblenzer übrigens auch dafür, der ukrainischen Armee möglichst viele Waffen und Ausrüstung zu liefern, inklusive übersetzter Bedienungsanleitungen und Videosupport bei technischen Problemen.
Geführt wird das Bundesamt derzeit von Präsidentin Gabriele Korb und ihrer Stellvertreterin Annette Lehnigk-Emden, dazu General Puschmann. Beide Frauen sind in Koblenz geboren, beide sind Juristinnen. Beide haben seit Anfang der Neunzigerjahre Karriere in einer Behörde gemacht, die Frauen fast nur als Sekretärinnen kannte. Manche sagen Korb ein etwas sperriges Wesen nach, aber das liegt wohl auch in der Natur ihrer Aufgabe. Sie sieht es so: „Es ist eine komplexe Aufgabe, wir schließen in jedem Jahr mehrere Tausend juristisch wasserdichte Verträge, prüfen und zertifizieren gewissenhaft, damit die Soldaten das, was sie für den Einsatz brauchen, auch sicher verwenden können.“
Suder war die letzte, die sich der Burg furchtlos und fröhlich näherte
Stellvertreterin Lehnigk-Emden, in der Freizeit beim Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) im Kreis Mayen-Koblenz engagiert, gilt unter ihren Mitarbeitern als gewiefte Juristin. Von sich sagt sie: „Ich bin hier die Eskalationsstufe – wenn die Verhandlungen mit der Industrie stocken, setze ich mich mit denen zusammen. Meistens finden wir eine Lösung.“
Und es klemmt oft. Jedes Jahr werden den Firmen Hunderte Millionen Euro nicht ausgezahlt, weil das Gelieferte schwere Mängel hat. Dazu gehören ganze Fregatten und Flugzeuge, deren Annahme das Amt verweigert. Wer die jüngere Entwicklung der Behörde betrachtet, kann aber feststellen: Da hat sich schon was verändert. Vor ein paar Jahren konnten manche Lieferanten mehr oder weniger unbrauchbare Güter für irres Geld und mit jahrelanger Verspätung abliefern, ohne dass die Bundeswehr sich dagegen zu wehren vermochte. Haftung, Gewährleistung, Schadenersatz, im Zivilleben üblich, kamen in den Verträgen kaum vor oder wurden politisch torpediert. Die Folge: unbrauchbare Schützenpanzer, Kampfhubschrauber mit einer Ausfallquote von bis zu 90 Prozent. Oder Fregatten, die Jahre nach Indienststellung deutsche Gewässer wegen technischer Mängel kaum verlassen dürfen.
Und das waren nur die Großprojekte. Die so verplemperten Gelder summieren sich zu zweistelligen Milliardensummen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen von der CDU ging energisch dagegen vor. Ihre Staatssekretärin Katrin Suder, vorher Unternehmensberaterin, war von 2014 an die vorläufig Letzte, die sich der Koblenzer Drachenburg furchtlos und fröhlich näherte. Dass sie im Vertragswesen für mehr Waffengleichheit gesorgt hat, wird ihr in Koblenz bis heute gedankt. Die Vizepräsidentin sieht auch sonst Fortschritte und sagt: 2017 haben wir Ausstattung für die Bundeswehr im Wert von etwa neun Milliarden Euro beschaffen können, im vorigen Jahr waren es 16,8 Milliarden. Das sind Fakten, die auch die Leistungsfähigkeit des Hauses belegen.“
Andere Verbesserungsmöglichkeiten lägen darin, dem Bundestag nur noch größere Verträge zur Zustimmung vorlegen zu müssen. Seit Jahrzehnten liegt die Obergrenze für einzelne Wehrbestellungen bei 25 Millionen Euro. Geht es darüber hinaus, muss der Bundestag gefragt werden. Dass zwei Parlamentsausschüsse zustimmen müssen, wenn Koblenz 50.000 Regenponchos bestellt, scheint nicht zeitgemäß. Es würde helfen, wenn die Grenze künftig bei 70 oder 100 Millionen läge. Zum viel beschworenen Kulturwandel gehört auch das „Forderungscontrolling“.
Damit werden immer neue Änderungswünsche in der Planungsphase von Rüstungsprojekten begrenzt. Beim Vorhaben „Schwerer Transporthubschrauber“ hatte das alte Verfahren zu nahezu verdoppelten Kosten geführt. Dann zog Berlin die Notbremse, und nun werden Hubschrauber aus amerikanischer Produktion bestellt – Stangenware statt Maßanfertigung.
Die alten Zeiten werden nicht wiederkommen
Ein weiterer Fortschritt, durchgesetzt von der neuen Ministerin Christine Lambrecht von der SPD, ist seit Kurzem, dass Bestellungen bis 5000 Euro nicht mehr öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Bislang mussten für alles über einem Bestellwert von 1000 Euro mehrere Angebote eingeholt werden. Verzögernd wirken auch der Rechtsweg und seine taktische Nutzung. Manche Unternehmen verklagen sich bei fast jedem Auftrag gegenseitig, um per Gericht etwas vom Vergabekuchen zu erwirken.
Mehr Rüstung bedeutet mehr Klagen vor der Vergabekammer des Oberlandesgerichts Düsseldorf, die heute schon Monate, manchmal ein Jahr braucht, um Urteile zu fällen. Im Falle des künftigen Sturmgewehrs läuft das Vergabeverfahren auch deshalb seit mehr als fünf Jahren. Man braucht also entweder weniger Klagemöglichkeiten oder schnellere Gerichtsverfahren.
Recht stolz ist man in Koblenz wohl, jüngst einem bekannten Rüstungsunternehmen eine Strafe von Dutzenden Millionen bei Nichterfüllung in den Vertrag geschrieben zu haben. Es wurde dann pünktlich und zuverlässig geliefert, heißt es in Fachkreisen. Doch ein paar Anschaffungen oder modernisierte Schützenpanzer reichen jetzt nicht mehr aus. Am Ende des Kalten Krieges hatte die westdeutsche Armee zwölf Divisionen. Heute existieren drei rudimentäre Verbände dieser Größe. Mit einem Krieg in Europa hatte niemand mehr gerechnet. Allein die Panzertruppe schrumpfte um etwa 90 Prozent. Die alten Zeiten werden nicht wiederkommen, auch wegen des technischen Fortschritts.
Verteidigungsministerin Lambrecht hat jetzt die Aufgabe, bis Anfang 2025 zumindest eine voll ausgestattete Division bereitzustellen. So wurde es der NATO versprochen. Dazu müssen andere Verbände Fahrzeuge und Waffen abgeben. Denn zusätzliche Panzer oder Haubitzen sind frühestens in vier Jahren da. Im Rüstungsamt befürchtet man, dass es deshalb wieder Bürokratiebeschwerden gibt. Man könne aber wegen Lieferfristen der Industrie kaum etwas daran ändern. Korb sagt: Beschleunigung in der Beschaffung ist jetzt eine Hauptaufgabe. Dafür sind viele Weichen gestellt, das kann man schon an der großen Zahl der Rüstungsvorlagen sehen, die den Bundestag erreichen. Hinter jeder steckt auch das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAAINBw. Aber natürlich gibt es Verbesserungsmöglichkeiten, das will ich gar nicht bestreiten.“
Auch so warten Riesenaufgaben.Die geplante Division etwa ist schlecht vernetzt. Das Projekt „Digitalisierung landbasierter Operationen“ soll das ändern, damit das Gefecht aller Soldaten und Waffen gemeinsam zum Ziel führen kann. Dafür stehen nun Milliarden Euro bereit. In der Praxis bedeutet das, nahezu 12.000 Fahrzeuge mit Digitalfunk umzurüsten, vom Kampfpanzer bis zum kleinen Geländewagen. Und für jeden Fahrzeugtyp braucht es dazu „Musterintegration“, Zulassungen, Dokumentationen, Bedienungsanleitungen, Einbau und Ausbildung. Sollte dem Rüstungsamt das Projekt Division bis zum 31. Dezember 2024 gelingen, wie vom Kanzler versprochen, würde man wohl nicht umhinkommen, Koblenz auch mal zu loben.