THEO VAN GOGH BIBLIOTHEK –  Walter Benjamin : Zwischen vormarxistischer Gesellschaftstheorie und altdeutscher Italienromantik

Wolfgang Matz FAZ 21.02.2022 – Geborgen aus der Trümmerstätte: Der jüngste Band der Kritischen Gesamtausgabe Walter Benjamins dokumentiert eindrucksvoll die schwankende Lebensrealität des Autors.

Niemand hätte über diesen Band so gestaunt wie der Autor selbst. Als Walter Benjamin sich 1940 auf der Flucht und auf der Schwelle eines neuen Weltkriegs das Leben nahm, hielt er sich für einen Untergegangenen, und eine Hoffnung, je wieder aufzutauchen aus dem Vergessen, gab es nicht. Nun aber werden sogar seine Zeitungsartikel bereits in der zweiten Werkausgabe kritisch ediert wie Hauptwerke eines Klassikers dank der Arbeit von Herausgebern, die, in den Worten der geschichtsphilosophischen Thesen, „die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“. Man fragt sich, hätte Benjamin seine Idee einer geschichtlichen „Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“, revidiert?

Doch schon vor dem „Untergang der deutschen Nation“, wie Rudolf Borchardt es nannte, und dem Weg ins Exil sprach Benjamin von der „Trümmerstätte“ seiner Bücher, und tatsächlich hat ihm sein Lebenslauf ein zusammenhängendes, konsistentes Lebenswerk unmöglich gemacht. Das Scheitern der akademischen Pläne zwang den Philosophen, seinen Lebensunterhalt durch Journalismus zu verdienen. Der neue Band der Kritischen Gesamtausgabe könnte wie eine Sammlung von Nebenarbeiten erscheinen, dokumentiert aber deshalb besonders eindrucksvoll Benjamins schwankende Lebensrealität der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Das zeigt sich bereits an der Mühe der Herausgeber, irgendeine sinnvolle Ordnung für diese Vielstimmigkeit zu schaffen, und man wird ihnen mit dem Urteil nicht Unrecht tun, dass ihre Gliederung in „Texte über Städte“, „Berichte“ und „Feuilletons“ auch nicht viel überzeugender ist als die der ersten Gesamtausgabe. Sogar die Differenzierung zwischen Entwürfen, Fassungen und fertigen Aufsätzen ist angesichts des Nachlasses heikel – und wenn jetzt eine einzeilige Widmung an Gerhard Scholem als eigener Text auftaucht, auch manchmal kurios.

Verrenkung zur kommunistischen und sowjetischen Kulturideologie

Doch all das liegt an der Sache selber. Die Brotarbeit zwang den zunächst eher hermetischen Autor zu einem dauernden Spagat zwischen seinen eigenen Ansprüchen und denen der journalistischen Auftraggeber: „Es stünde herrlich“, heißt es in 1928 einem Brief an Scholem, „wenn die schmähliche Verdienstschreiberei nicht auch ihrerseits auf einem gewissen Niveau gehalten sein wollte, um nicht mir selber zum Ekel zu werden.“ Selbst wenn Benjamins intellektuelle und stilistische Anstrengung auch in solchen Texten oft zu spüren ist, tut man dem Autor keinen Gefallen, wenn man das alltägliche Allerlei in seiner ganzen Breite allzu sehr aufwertet. Dann nämlich verliert man aus dem Blick, dass in seiner Publizistik professionelle Routine, Idiosynkrasien, bedeutende Texte und Allotria unmittelbar nebeneinanderstehen, mitunter gar im selben Text.

 

Walter Benjamin: „Texte über Städte, Berichte, Feuilletons“. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Bd. 14. : Bild: Suhrkamp Verlag

 

Benjamins Rang zeigt sich dabei oft an entlegener Stelle: Hochseltsam die auf den Surrealismus vorausweisenden, suggestiven Traumerzählungen; unvergesslich der Bericht über einen Besuch bei Karl Wolfskehl und dessen Rezitation von Lenaus „Schläfrig hangen die sonnenmüden Blätter …“; großartig die leidenschaftliche Verteidigung von Rilkes Andenken gegen Franz Bleis Spott, von Max Brods Publikationen aus dem Nachlass Kafkas. Das ebenso leidenschaftliche Engagement für Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ verweist dann schon auf die politische Spannweite der Texte, und eher gequält liest man die eine und andre Verrenkung zur kommunistischen und sowjetischen Kulturideologie.

Damit aber ist man mitten in der Benjamin’schen Problematik, und die zeigt sich auch in zwei der stärksten und berühmtesten Essays des Bandes: den Städteporträts „Neapel“ vom August 1925 und „Moskau“ vom Juni 1927. Beide tragen unmittelbare Spuren der großen Krise, die, 1924 auf Capri, durch die Begegnung mit Asja Lacis einerseits, andrerseits mit der „Aktualität eines radikalen Kommunismus“ ausgelöst wurde. „Neapel“, mit Asja Lacis sogar als Ko-Autorin, ist ein kaum zu überschätzendes Hauptstück für Benjamins intellektuelle Biographie: Entworfen wird das halb materialistische, halb metaphysische Por­trät eines „porösen“ Süditaliens, archaisches und utopisches Gegenbild zur katas­trophalen „Reise durch die deutsche Inflation“.

Benjamins Brotarbeiten

Begreiflich, dass dieser selbst sehr poröse Text nach Adornos Zeugnis eine „unbeschreibliche Wirkung“ entfaltete, als höchst vertrackte Mischung aus Erzählung, sinnlicher Anschauung, Elementen einer unorthodoxen, vormarxistischen Gesellschaftstheorie, aber auch mit unübersehbaren Spuren altdeutscher Italienromantik. „Moskau“, das zweite Städtebild, sieht Benjamin zwei Jahre später auf der Reise zu seiner verlorenen Geliebten und zugleich beim Versuch, im Sowjetreich – eine Art Romantik auch hier – etwas zu finden wie die politisch-konkrete Wirklichkeit der Utopie. Das Ergebnis ist bekannt, das Doppel der beiden Städtebilder jedoch eine ungeheuer faszinierende Momentaufnahme vor der großen Desillusionierung.

Es liegt natürlich in der Natur solcher Großeditionen, dass man selbst die dicksten Bände nicht allein lesen kann, denn ein vollständiges Bild ergibt sich erst vor dem so gegensätzlichen Hintergrund der gleichzeitigen Großwerke: dem gelehrt-exzentrischen „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ und der modernistischen, Asja Lacis gewidmeten Textcollage „Einbahnstraße“. Doch zusammen mit dem Korpus der Buchrezensionen bekommt man durch die Neuedition Benjamins Brotarbeiten so minutiös ediert wie noch nie und kommentiert bis ins letzte Komma. „Ich kann nicht sagen“, hieß es in dem Brief an Scholem, „daß es mir an Gelegenheit fehlte, Schlechtes drucken zu lassen aber trotz allem noch immer an einer gewissen Courage, es zu verfassen.“ Scholem war es auch, der bereits bei der ersten Gesamtausgabe darauf bestand, tatsächlich alles Überlieferte aufzunehmen, und obwohl vieles dabei ist, was, von einem anderen Autor stammend, längst vergessen wäre, hatte er recht. So unwahrscheinlich es war, aus den Trümmerstätten des Krieges ist dann doch ein Jahrhundertautor auferstanden, und vollständig, ja verständlich wird sein Bild erst durch die kleinen und großen Arbeiten, die ihn jahrelang am Leben hielten.

Walter Benjamin: „Texte über Städte, Berichte, Feuilletons“. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Bd. 14. Hrsg. von B. Veitenheimer in Zusammenarbeit mit K. Reichert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 2 Bde., zus. 1906 S., geb., 98,– €.