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Energiekrise & Inflation : Droht der EU ein Wildwest-Szenario?  –  Kommentar von Hendrik Kafsack, Brüssel FAZ 27.09.2022

Wie viel Krise hält die EU stand?

Scheitert die Europäische Union an der Energiekrise, könnte sie das in eine tiefgreifende politische Krise stürzen. Dabei ist die Liste der Herausforderungen ohnehin schon lang.

An der Energiekrise könnte sich die Zukunft der EU entscheiden. Wenn sich die Staaten nicht zusammenraufen und im Winter jeder auf sich gestellt um die knappen Energieressourcen streiten, drohe ein Wildwest-Szenario, warnte der Vorsitzende der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol, eben erst eindringlich. „Die Folgen wären sehr schlecht für den Energiesektor, sehr schlecht für die Wirtschaft, aber extrem schlecht politisch gesehen.“

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit droht die EU nach der Corona-Krise daran zu scheitern, dass sich in der Not jedes Land selbst das nächste ist. Dabei waren sich eigentlich alle einig, dass die Pandemie gezeigt hat, wie unproduktiv Alleingänge in solchen Krisen sind, selbst wenn es nicht nur bei der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung anfangs ruckelte.

Den Staaten ist der Ernst der Lage offenbar nicht bewusst. Als die Brüsseler Denkfabrik Bruegel vor Kurzem einen „Grand Bargain“ – einen großen Handel – für die Energiepolitik ausrief, war die Resonanz faktisch null. Dabei liegt es auf der Hand, dass die EU die bei einem totalen russischen Lieferstopp drohende Gaslücke von 15 Prozent des Verbrauchs – im „normalen“ Winter wohlgemerkt – nur gemeinsam bewältigen kann, nicht zuletzt indem sie losgelöst von nationalen Befindlichkeiten alle ihre Kapazitäten nutzt. Das gilt für deutsche Atomkraftwerke wie niederländische Gasfelder.

EU muss gegen Putin geschlossen bleiben

Die EU-Energieminister aber verfolgen weiter ihre jeweils ganz eigene nationale Strategie, lehnen Solidarität teilweise offen ab und versuchen in jeden Vorschlag der Europäischen Kommission für gemeinsames Vorgehen möglichst viele Ausnahmelöcher zu bohren. Das gilt auch oder gerade für Deutschland. Statt sich etwa für den gemeinsamen Einkauf von Gas durch die EU starkzumachen, um den Preis zu drücken, heizen Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck den Bieterwettbewerb durch ihre Reisen von Qatar bis Kanada an. Die hehren Bekenntnisse im Koalitionsvertrag zur EU scheitern in der grauen Wirklichkeit an der ersten Hürde.

Allenfalls die Achse Paris – Berlin scheint zu funktionieren. Zumindest erweckt das Versprechen, sich gegenseitig Gas und Strom zu liefern, den Eindruck. Dass davon ein Impuls für das restliche Europa ausgehen könnte, ist indes bisher nicht zu spüren.

Gefährlich ist das, da es Folgen für die Wirtschaft hat, die wegen Energiekrise und hoher Inflation ohnehin in die Rezession abzurutschen droht. Das unkoordinierte Vorgehen treibt die Kosten für die Bewältigung der Krise – 300 Milliarden Euro haben die EU-Staaten wohl jetzt schon ausgegeben – weiter in die Höhe.

Gefährlich ist es, weil es die EU gegenüber Russland schwächt. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán „spielt“ ohnehin damit, Sanktionen auslaufen zu lassen. Umso mehr muss die restliche EU gegenüber dem Aggressor Wladimir Putin standhaft und geschlossen bleiben. Bisher ist ihr das – wie beim Brexit – bei allen Meinungsverschiedenheiten durchaus beeindruckend gelungen.

Energiekrise bringt vieles durcheinander

Gefährlich ist es, weil es Zweifel daran weckt, dass die EU ihre anderen Herausforderungen noch solidarisch bewältigen kann. Die Liste ist lang. Da sind die „alten Themen“ Klimawandel oder demografische Entwicklung. Da sind die „aufgeschobenen“ wie die Flüchtlingspolitik und die Reform der Fiskalregeln inklusive Träumereien von neuen EU-Schulden. Und schließlich die „brandaktuellen“ der Zeitenwende: Wie soll es die EU mit China halten, und wie weit will sie die ausgerufene strategische Autonomie vorantreiben.

Es steht viel auf dem Spiel. Die EU mag aushalten können, nicht auf alle Fragen schnelle und schlüssige Antworten zu haben. Aber sie braucht zumindest Fortschritte, wenn sie die „illiberalen Demokraten“ Orbán und die Populisten von Schweden bis Italien nicht weiter stärken will.

Umso wichtiger ist es, dass nun die Beziehungen zwischen den Staaten nicht noch weiter belastet werden. Deutschland kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Mit seiner „europapolischen Grundsatzrede“ in Prag hat Scholz gezeigt, dass er dazu bereit ist – gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron –, eine Führungsrolle zu übernehmen.

In der Energiekrise ist es für ihn schwer, diese Rolle einzunehmen, da das von vielen in der EU immer noch als „ewiger Besserwisser“ wahrgenommene Deutschland wegen der verfehlten Russland- und Energiepolitik plötzlich Bittsteller ist. Eben- deshalb wäre es aber wichtig, dass Berlin nicht wieder den Energie-Alleingang sucht und darauf setzt, im Energie-Wildwest als großer Staat noch relativ gute Chancen zu haben. Es könnte sich bitter rächen.