Syrien: Leben & Sterben am anderen Ende der roten Linie / DIE WADI PETITION
Vor einem Jahr starben bei einem Giftgasangriff in Syrien Hunderte Menschen. US-Präsident Obama hatte zuvor beim Einsatz von toxischen Kampfstoffen von einer roten Linie gesprochen und gezielte Luftangriffe angedroht. Doch dazu kam es nicht: In Europa gingen Friedensfreunde gegen einen US-Einsatz auf die Straße, warnten vor einer “Kriegsgefahr” in Syrien – und dort ging das Morden weiter. Die Situation der Bevölkerung ist schlimmer denn je.
Am frühen Morgen des 21. August 2013 meldeten erste Posten der Freien Syrischen Armee den Einschlag von Raketen, die wahrscheinlich toxische Kampfstoffe enthielten. Zeugen berichteten von Geschossen, die bei der Detonation wie platzende Wassertanks klangen. Um drei Uhr in der Frühe schlug die erste mit Kampfstoffen konfektionierte Boden-Boden-Rakete ein. Es folgte eine ganze Reihe von Einschlägen in den Stadtteilen Hammuriyah, Hirista, Irbin, Sepqa, Kafr Batna, Ayn Tarma, Jobar und Zamalka. Die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« bestätigte nur wenige Tage später über 350 Tote auf der Grundlage von Krankenhausakten. In den folgenden Tagen musste diese Zahl immer weiter nach oben korrigiert werden. Die betroffenen Stadtteile standen unter Beschuss, die medizinische Versorgung war bestenfalls notdürftig. Ärzte vor Ort gehen in Übereinstimmung mit anderen Berichten mittlerweile von über 1.300 Toten aus – fast ausnahmslos Zivilisten. (…)
Ein Jahr später sind die Ghoutas immer noch belagert, die Situation der Bevölkerung ist schlimmer denn je. Es mangelt an allem: Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser, Medikamenten. Das Regime Bashar Al Assads hungert die widerständischen Stadtteile der Ghoutas und anderer Stadteile aus. Betroffen sind auch die Überlebenden der Giftgasangriffe. Mehr als 9.000 Menschen wurden registriert, die dem toxischen Kampfstoff ausgesetzt waren und zum Teil lebensgefährliche Verletzungen davon trugen. Ihre Behandlung von Sarinopfern wäre auch unter friedlichen Bedingungen extrem schwierig, unter Belagerung und Beschuss ist sie praktisch unmöglich. Internationale Hilfe gibt es nicht. Weder wurde eine weitere Fact-Finding-Mission vor Ort durchgeführt, noch gab es ernsthafte Bemühungen gegenüber der syrischen Regierung den Zugang humanitärer Hilfe zu den Betroffenen zu ermöglichen. Es scheint, als habe sich mit der Zustimmung der syrischen Regierung zur von der OPCW geleiteten Vernichtung der bekannten C-Waffenarsenale auch die internationale Aufregung um den Einsatz toxischer Kampfstoffe gegen Zivilisten in Syrien erledigt. (…)
Solange Regierungen wie jene Bashar al Assads für den Einsatz toxischer Kampfstoffe gegen die Bevölkerung nicht zur Rechenschaft gezogen werden, bleiben C-Waffen die Waffe der Wahl in Konflikten, bei denen der Schaden der Zivilbevölkerung ein Teil der Kriegsführung ist. Syrien hat sich unter der Androhung militärischer Maßnahmen zur Preisgabe seines bekannten C-Waffenarsenals bereit erklärt. Auf Terror und Bombardierung der Bevölkerung hat die Regierung nicht verzichtet. Schlimmer noch: Mehrere Quellen berichten, dass syrische Truppen Chlorgas als Waffe gegen die Bevölkerung einsetzt, das aufgrund seiner vielfältigen zivilen Nutzungsmöglichkeiten nicht unter die Liste der verbotenen chemischen Kampfstoffe fällt. So führt die syrische Regierung unter dem Deckmantel der Vernichtung ihres C-Waffenarsenals weiter einen schmutzigen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Den Preis für die Unterzeichnung und Umsetzung des Chemiewaffenprotokolls zahlt die syrische Zivilbevölkerung. (…)
Im Sommer 2012, ein Jahr vor den Angriffen auf die Ghoutas, hatte US-Präsident Barak Obama den Einsatz chemischer Waffen als »rote Linie« bezeichnet, deren Übertretung zu Maßnahmen gegen die syrische Regierung führen werde. Im Sommer 2014 leben die Menschen der Ghoutas nun bereits seit einem Jahr auf der anderen Seite der roten Linie – und nichts wurde für sie unternommen. Die Tatenlosigkeit der Welt gegenüber dem andauernden Morden, gegenüber gravierenden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit in Syrien ist ein andauernder Skandal.
Gemeinsam mit der syrischen Partnerorganisation Al Seeraj hat WADI ein umfangreiches Dossier über die Giftgasangriffe in den Vororten von Damaskus erstellt, denen vor einem Jahr über 1300 Menschen zum Opfer fielen. Dieses Dossier enthält Interviews mit Augenzeugen und Überlebenden, Hintergrundinformationen über die Lage in Syrien heute und erinnert an die deutsche und europäische Beteiligung bei der Herstellung von Chemiewaffen in Syrien, dem Irak und Libyen. Außerdem enthält es Stellungnahmen von Überlebenden der Giftgasangriffe auf die irakisch-kurdische Stadt Halabja. Das Dossier zu dem Giftgasangriffen in Syrien können Sie hier herunterladen.
Außerdem hat der Verein Wadi einige syrische Aktivisten unterstützt, die mit dieser Petition zur Unterstützung der Überlebenden aufrufen und fordern, dass endlich in Syrien gehandelt wird.